delta : 8.27 — f i n g e r k u p p e
PRÄPARIERSAAL : passagenbilder
ginkgo : 20.55 — In der Passage von Wachsein zu Schlaf. Als würde dort jeder Schutz verloren gehen, Nachbilder, leblose Gesichter des Präpariersaales, geschwollene Hände, aufgefaltete Lederhaut, getrocknete Herzen, zerbrochene Gehirne, Milchglasaugen ohne Blick. Der Eindruck von Nichtwirklichkeit, obwohl ich ahne, dass ich noch nicht träume. — stop
schneebrille
alpha : 22.03 — Aus der Luft, aus dem Nichts heraus, Gedanken, von Sekundenräumen her, die sich unmittelbar vor dem Zeitpunkt ihrer Wahrnehmung befinden. Ob es überhaupt möglich sein kann, einen Gedanken erfindend zu konstruieren? Das Wort S c h n e e b r i l l e in diesem Moment, vielleicht deshalb, weil ich vor Stunden notierte: Winterpendelfahrt auf Staten Island Ferry. stop. Oberes Deck. stop. Feste Schuhe. stop. Pennstation ab: 7.49 am. stop. Montauk an: 10.52 am. stop. Strandspaziergang. — stop
zimmer 202
sierra : 18.15 — Ich kann ohne Geräusche nicht schlafen. Ich verstehe die Leute nicht, die ein ruhiges Zimmer wollen. Ich will ja nicht sterben, ich will ja nur schlafen. Ich mag menschliche Geräusche. Lieber Presslufthämmer, als totale Stille. Ich kann auch zu Hause stundenlang auf Kurzwelle irgendeine Fremdsprache hören, so als Background. Das ist mit auch ein Grund dafür, dass ich viel in Eisenbahnen geschrieben habe, weil ich Geräusche brauche. Ich muss einen Rhythmus hören. — Peter Bichsel in der 58. Minute des Dokumentarfilms Zimmer 202 : Peter Bichsel in Paris
PRÄPARIERSAAL : whiteout
nordpol : 22.28 – An einem Morgen, da es heftig schneite, erzählt Silja im Präpariersaal von einer Erscheinung, die bei ihr zu Hause, in Schweden auf dem Lande, zur alltäglichen Erfahrung werden kann. Wenn das Schneelicht unter Wolken den Horizont verbirgt, wenn der Ort, an dem man sich befindet, grenzenlos zu sein scheint: Das große Weiß. Auch im Präpariersaal, hell beleuchtet, habe sie immer wieder beobachtet, ihre eigene Position in Raum und Zeit für Momente zu verlieren: > Es ist so hell in diesem Saal, dass ich manchmal meine Position in Raum und Zeit für Sekunden zu verlieren scheine, Schneelicht, ein Licht, das ich von Schweden her kenne, das große Weiß, das den Horizont verbirgt. Ich präpariere an dem Körper einer Frau. Ich glaube, sie ist mir vertraut geworden. Wenn ich morgens zu ihr komme habe ich den Eindruck, sie bereits lange Zeit zu kennen. Sie scheint sehr geduldig zu sein. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass diese tote Frau auf uns wartet. Ich hatte in den ersten Tagen des Präparierkurses die Vorstellung, sie würde uns zuhören oder schlafen und träumen. Und wir bewegen uns also behutsam, als wären wir sehr junge Eltern, die ein uraltes Kind behüten. Ist das nicht seltsam? Ich habe immer wieder die Empfindung von Ruhe, von Stille, von Schlaf. Ich überlegte was wäre, wenn wir den Körper dieser alten Frau nicht untersuchen, nicht zerlegen würden, sondern nur sehr sorgfältig pflegen. Wir würden dann viele Jahre, Tag für Tag und Morgen für Morgen, in den Saal kommen und sie umsorgen, damit sie uns nicht zerfällt. Wir würden sie vor dem Licht der Sonne schützen, vor Pilzen, und wir würden sie befeuchten, wir würden sie davor bewahren, zu Staub zu werden. Irgendwann wäre sie dann jünger als wir selbst, ich meine, ihre Erscheinung. Ich finde manchmal sehr merkwürdig, dass ich so etwas denke. — stop
lufträume
nordpol : 15.52 — Authentisch scheinen Menschenfiguren auf Papieren dann geworden zu sein, wenn sie in ihren Lufträumen handeln, wie Menschen des wirklichen Lebens, wenn sie also jenseits der Wörter denken, was sie wollen. — stop
=
alpha : 3.22 — p a u k e n b l a s e
lampion
marimba : 2.27 — Man könnte vielleicht sagen, dass es sich bei der Gattung der Lampionkäfer um Geschöpfe handelt, die bevorzugt nach innen ausgedacht worden sind, weshalb man an ihrer äußeren Gestalt sparsam zu wirken wünschte. Man machte ihnen Flügel, sehr kleine, kaum noch sichtbare Flügel, die kurze Strecken des Luftreisens gestatten, sparte dagegen an Beinen, vergaß Augen und Fühler, auch Ohren sind an ihrem vollkommen runden Körper bislang nicht zu entdecken gewesen. Niemand könnte zu diesem Zeitpunkt also ernsthaft behaupten, an welcher Stelle nun genau der Kopf, also das Vorne des Käferwesens zu finden sein könnte. Meistens liegen sie demzufolge bewegungslos auf dem Boden herum, schlafen vielleicht oder träumen. Man kann sie dann leicht übersehen, weil sie sehr klein sind und fast lichtlos auf den ersten Blick. Unerkannt haben sie in dieser bescheidenen Weise bis vor kurzem in den Wäldern des Karwendelgebirges nahe der Baumgrenze gelebt, bis ein Steinsammler ihr Geheimnis unlängst entdeckte, in dem er sich mit einem sehr feinen Bohrer ins Innere eines der Käferkörper vorarbeitete. Lange Stunden des Wartens, des Kühlens, des Bangens, dann spähte der junge Forscher in eine vollständig unbekannte Welt. Seither fehlt ihm jede Sprache. Die Augen weit geöffnet, scheint er zu suchen, nach Sätzen vielleicht, nach Wörtern, nach angemessenen Geräuschen der Bewunderung, der Anerkennung. — Was bleibt noch zu bemerken? — Sie summen wie die Bienen, sobald sie fliegen.
verständigung
romeo : 6.18 — Im Gespräch mit einer jungen Muslima. Aus heiterem Himmel erzählt sie von ihrem Haar, das seit 25 Jahren vor den Blicken fremder Männer geschützt unter einem Kopftuch verborgen liegt. Mein Erstaunen zunächst, dass ich mit den Ohren erfahren darf, was ich mit den Augen nicht wahrnehmen kann. Ich vermag Dein Haar mit den Ohren zu betrachten! Antwort: Alles, was Du in Deiner Vorstellung mit den Ohren siehst, hast Du niemals wirklich gesehen! Sie lacht jetzt, setzt hinzu: Aber den Imamen würde nicht gefallen, was wir hier erzählen. — stop
new york januar 1938
echo : 4.58 — 25° C. Endlich wieder soweit, dass Falter durchs geöffnete Fenster kommen, Schatten an den Wänden, klimpernde Körper unter Lampionlampenschirmen. Wie sie bald still sitzen werden in der Dunkelheit des kommenden Tages, ihre Fühler zu geigen. Großartige Stille, nur das Summen der Luft, alles schläft. An der Entdeckung der Basskäfer weitergearbeitet, anstatt durch Schnee zu wandern, Schnee war nicht möglich, Flocken, die vom Januarsturm senkrecht gegen das Fenster eines Zimmers peitschen, in dem ich gestern aufhörte gegen 5 Uhr in der Früh. Eigentlich hatte ich vor, in dieser Nacht mit Schneeschuhen an der Küste zu laufen, Benny Goodman im Ohr. Wie zum Teufel könnte es möglich werden, für ein paar Minuten nur, leibhaftig nach New York zurück in das Jahr 1938 zu gelangen, in ein Jahr, in dem ich nicht eine Sekunde lang existierte? — stop