sierra : 0.01 — In der vorletzten Nacht, zwei Uhr wars schon geworden, hab ich in einem Bahnhof unter dem Frankfurter Flughafen Vögel entdeckt. Das Neonlicht flackerte und die Vögel, Tunnelvögel, zwitscherten. Kurz zuvor hatte ich noch in einem Cafe gesessen und einer Frau zugehört, die mir von Kalabrien erzählte, vom Haus ihrer Eltern, einem uralten Gebäude, dessen Steine seit zweihundert Jahren roten Sand der Sahara weinen. Das war ein sehr schönes Bild gewesen, und so berichtete ich ihr von meinen Gedanken, die seit Tagen um das Wesen der Tiefseelefanten kreisen. Sie wollte alles ganz genau wissen, lachte immerzu, und drehte ein rotes Eisschirmchen in ihren Händen, dass mir ganz schwindelig wurde. Nach einer Weile unterbrach sie mich und kam näher und behauptete ernstlich, dass sie als Mädchen beim Tauchen diesen Wesen, Elefanti, genau so begegnet sei, wie ich sie in Worten gezeichnet hatte, das heißt, jenen Rüsseln, die aus der dunklen Tiefe ragten. Sie sind warm, sagte sie, und weich, und wenn Du Dein Ohr an einen dieser Rüssel legen würdest, könntest Du was hören, sag ich Dir. Aber über die Mafia wollte sie nicht sprechen. Wir haben so schöne Landschaften dort, und Dörfer, und das Meer, ja, das Meer. Dann war sie todmüde zur Arbeit zurück gegangen und ich wartete auf einen Zug und hörte den Tunnelvögeln zu und dachte, wie sonderbar das alles doch ist, ein Wunder, das ganze Leben Tag und Nacht.
Particles: August 2009
abendsegeln
echo : 0.01 — Der Versuch, im Garten die Dämmerung des Abends mit meinen Augen, also mit meinem Gehirn zu begreifen. Es ist wieder einmal sonderbar, ich habe einen Knoten in meinem Kopf. Immer genau dann, wenn ich sagen wollte: Schau her, vor einer Sekunde ist es ein wenig dunkler geworden, war ich mir nicht sicher, ob ich nicht irrte, weil ich das Dunklerwerden nicht eigentlich gesehen, sondern vielmehr gefühlt oder angenommen hatte. Einmal schloss ich meine Augen für zwei Minuten und hoffte vergeblich, mir das Lichtbild merken zu können, das ich zuletzt gesehen hatte. Und doch habe ich eine feine Entdeckung gemacht. Sobald ich im Dunkeln mein Gehirn mit meinen Lidern bedecke, wird das Dunkel heller. Ich muss das im Auge behalten! — stop
kapriole
sierra : 6.15 — Ich erwachte, weil ich Schritte hörte, tanzende Füße in Tanzschuhen auf Parkett. Unmöglich, dachte ich, so etwas geht doch nicht. Ich machte Licht und hüpfte aus dem Bett. Wie ich so im geräumigen Hotelzimmer stand, bemerkte ich, die Geräusche der Schuhe kamen nicht von oben, sondern von unten her, weshalb ich eine Treppe abwärts vor verdächtiger Türe energisch klopfte, weshalb mir geöffnet wurde, weshalb ich unverzüglich in ein höchst seltsames Zimmer trat. Tisch und Stühle und Bett und weitere kommode Dinge befanden sich dort an der Decke. Ein Mann, sehr fein gekleidet, ein Tänzer im dunklen Anzug grüsste kopfüber zu mir herunter. Er sagte, angenehme Stimme: Guten Morgen, mein Herr! Sie sind wohl Einer, der an der Decke zu gehen vermag.
migration
echo : 2.05 — Welcherart würde sich das Benehmen menschlicher Wesen verändern, wenn über Nacht ihre Augen an die Positionen der Ohren, ihre Ohren an die Positionen der Augen wanderten?
tauchgang wiegend
nordpol : 0.02 — Tiefseeelefanten wirklich zu begegnen, heißt, gegen den Grund zu reisen, dorthin, wo Herz und Gehirn, Ohren und Augen auf kräftigen Beinen über den Meeresboden wandern. Vielleicht ist man gerade in einem Boot auf dem Weg ein paar Fische zu fangen. Man vernimmt ein Schnauben zunächst, eine Begrüßung, eine Frage, aber schon mit dem folgenden Gedanken, wird man sich, von einem Rüssel zärtlich in die Wiege genommen, im Wasser wieder finden. Dann gehts abwärts. Eine Tiefenfahrt, wie keine andere je zuvor. Einhundert Meter Blau, jetzt schließen sich die Augen. Man träumt von Rüsselwäldern, von Schwärmen glimmender Fische, von der Kühle, vom Eis, von feurigen Augen, für die man keine Worte finden kann, so seltsam ihr Ausdruck, so geduldig, so weise, und so sonderbar die Geräusche der eigenen Knochen, ein Malmen, in dem man kleiner wird und kleiner. — Woher ich das alles weiß? Nun, ich bin in der vergangenen Nacht gegen Zwei, Benny Goodman im Ohr, ins Wasser gefallen. — Ein Knistern, noch heute.
automobile
MELDUNG. Automobile, folgende, wurden nach einem Kaufhausbesuch zu Oslo in Martha B., 82, vorgefunden : Magen — 1 Shelby Cobra 427 S/C [ 1965 ], 1 Ford Fairlane Sunliner [ 1956 ], Dünndarm – 1 Dodge Dart Phoenix [ 1964 ], Dickdarm — 1 Ford Mustang [ 1965 ]. Ein Richter hatte die Durchsuchung des Bauches zwingend angeordnet. — stop
quito
foxtrott : 0.02 – Es ist früher Abend, ich liege in einer Wiese, ein Ohr gegen den Himmel, das andere Ohr gegen die Erde gerichtet, und höre Gräsern und sehr kleinen Tieren zu, wie sie sich auf die Nacht vorbereiten. Noch etwas Zeit ist, Minutenzeit, weil ich warte. Ein angenehmes Warten, ein Warten voller Freude. Nichts ist solange zu tun, als der großen Welt am Himmel und der kleinen Welt unter mir zuzuhören. Man raschelt dort für mich und der Himmel schweigt, um nicht zu stören. Es ist seltsam, je glücklicher ich bin, desto beweglicher kann ich denken. So beweglich bin ich geworden, dass ich von Zeit zu Zeit überhaupt aufhöre an irgendetwas zu denken. Und doch bin ich niemals abwesend, sondern hier und warte und höre den Gräsern zu und atme und halte etwas Papier fest in der Hand, von dem ich bald vorlesen werde. 1 x schlafe ich kurz ein. — stop
kolibri
romeo : 0.15 – Ein Flugtierchen, das auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine kauerte. Ich näherte mich mit dem Zeiger meiner Mouse, tauchender Schatten. Kurz, als würde es den Atem anhalten, hielt das Tierchen inne. Ich notierte: 22 Uhr und 12 Minuten. Der Besuch eines zarten, eines Licht naschenden Wesens. Wie es ein wenig bebt unter den Anschlägen dieser Zeichen, wie es die Beine auseinander stellt. Wie es sich behauptet, wie es mich zu betrachten scheint.
ohrwesen
romeo : 0.08 – Kurz nach Mitternacht. Leichter Regen, aber nur als Vorstellung, als Übung, als Suche in den Magazinen meines Gehörs. Plötzlich erinnerte ich mich, einmal heimlich ein Ohr aus nächster Nähe beobachtet zu haben, ein Wunder der Schöpfung. Ich betrachtete dieses Ohr so liebevoll und so lange Zeit, dass ich bald etwas ganz anderes in ihm sehen wollte, als eine halbe Stunde noch zuvor, ein Wesen nämlich ganz für sich. Der Gedanke, ich könnte jederzeit ein schlafendes Ohr mit meinem Blick berühren, ohne dass es davon wach werden würde, fasziniert mich ausserordentlich. Wenn ich aber sagen würde, leise, leise: Du bist wunderschön, dann würde das Ohr mich vielleicht ansehen, ein noch halbwegs träumendes Auge von einer Sekunde zur anderen Sekunde, und ein Mund, ein Mund, der lächelt. — Gute Nacht.
lichtforscher
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : TRAUMLICHT
Lieber Mr. Kekkola, ahoi! Was machen Sie denn so? Seit Tagen keine Nachricht aus der Wildnis. Sind Sie noch am Leben oder wurden Sie bereits heimlich von Bären gefressen? Vermutlich haben Ihnen lüsterne Fliegen derart zugesetzt, dass Sie kaum noch aus den Augen sehen können. Hörte, kühlende Moose, sollen helfen, dass Sie wieder in die Welt hinaus schauen und mir schreiben werden. Nach einer kleinen Reise südwärts wird nun wieder über Tiefseeelefanten nachgedacht. Das ist schon seltsam, wenn ich Stunden an ein und dieselbe Sache denke, dann wird sie so vertraut, dass ich sie mit mir ins Bett nehmen kann, ich meine, ich träume, ich träume, mein lieber Kekkola, mit Elefanten über atlantischen Tiefseeboden zu spazieren. Erinnere mich gerade an einen Forscher des Lichts. Wenn Du einem Problem, einer Idee, einer Spur wirklich nahe kommen willst, sagte mein Vater, dann musst Du so intensiv daran arbeiten, dass Du nachts im Schlaf nicht davon ablassen kannst. Das hab ich nun also gemacht. Ich betrachtete fünftausend Meter lange Rüssel und Paternosteraufzüge, die es bei Ihnen in Amerika nicht gibt, aber bei uns in Europa, endlos dahinfahrende Koffer ohne Deckel, in die man einsteigen kann, einsteigen wie jene Luft, die Tiefseeelefanten in kleinen Paketen atmen, Meereswinde in Beuteln von Haut. Die fahren dann perlend abwärts, ein Beutel nach dem anderen Beutel, zur Lunge hin, die riesig ist und rosa und kühl, wie das Moos, von dem ich Ihnen erzählte. Mein lieber Kekkola, was halten Sie davon? Schreiben Sie mir, sobald Sie wieder schreiben können, ja, schreiben Sie mir! Ich komm Sie sonst holen! Ihr Louis.
gesendet am
20.08.2009
5.32 MESZ
1650 zeichen
erfindung
delta : 17.10 – Schirmchen von Haut, die sich in dampfenden Nächten lindernd über lesende Augen entalten. Transparent. Und kühl. Nach Art der Schneepapiere. Irislamellen. — stop.
zeppeline
alpha : 8.06 — Seit Tagen denke ich darüber nach, weshalb mich die Ansicht japanischer Fesselbombenballone irritiert. Ich komm nicht dahinter. Vielleicht einmal eine Geschichte erzählen, die von oder mit Bombenballonen handelt, eine Art fabulierende Denkbewegung, die die Substanz dieser seltsamen Idee in meinem Leben wirklicher, greifbarer werden lässt. Nicht also erfinden, sondern etwas Gefundenes buchstabieren, um es genauer denken oder überhaupt als etwas Eigenes spüren zu können. Gestern Abend noch erzählte ich in einem Gespräch von Zeppelinkäfern, wie sie durch meine Wohnung schweben. Ich erzählte in einer Weise, dass ich eher sagen müsste, dass ich von der Erscheinung der Zeppelinkäfer in meinem Zimmer berichtete, weil sie, im Februar zunächst wortweise auf Notizpapier gesetzt, für mein Gehirn zur einer wirklichen Erscheinung geworden sind. — Eine beruhigende Beobachtung.
sarajevo
sierra : 0.01 — Ist es denkbar, dass vor einem internationalen Gerichtshof, sobald Menschen von der Belagerung Sarajevos Zeugnis ablegen, jene Wörter, die den Klang durch die Luft fliegender oder in Körper eindringender Projektile wiedergeben, singuläre Wörter sind, Wörter, die nicht übersetzt werden, weil sie nicht übersetzbar sind, unmittelbare, authentische und beweiskräftige Wörter der Geräusche eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit?
=
sierra : 0.01 — v e n e n k l a p p e
sprechgeräusche
ginkgo : 2.15 – Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend im Garten eingeschlafen, obwohl ich in einem äusserst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht wars die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlummerte ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandernden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Fangen wir an. – stop – Drei Uhr und zwölf Minuten in Isfahan, Iran. – stop
korrespondenz
echo : 0.02 — Wieder wirkliche Briefe schreiben, Briefe, die man in die Hand nehmen kann, Briefe, auf kostbare Papiere notiert, Botschaften, die in ebenso kostbaren Couverts durch die Luft fliegen werden. Folgendes habe ich mir ausgedacht. Ich könnte zunächst einen Bleistift besorgen und ein wenig üben, mit der Hand Zeichen auf unsichtbaren Linien zu Wörtern zu setzen. Ein oder zwei Wochen der Probe sollten genügen. Dann nach feinen Briefmarken suchen, nach Miros und Zeppelinen und Leuchttürmen und anderen Ikonen unserer Zeit. Ich stehe in einer Kolonialwarenhandlung und glühe vor Begeisterung, weil die Segel, die ich in Händen halte, eigentlich nicht anwesend sind, so leicht, so licht. — Existieren eventuell Papiere, die Korrespondenzen unter Kiemenmenschen zugeeignet sind?
calle de hernán cortéz No 7
nordpol : 0.02 – Ich habe einen Brief geschrieben. Der Brief geht so: Liebe Mrs. Kekkola, lieber Mr. Kekkola, Ihrem Sohn geht es gut! Seine künstlichen Lungen arbeiten, als hätte er nie zuvor ohne sie gelebt. Jonathan wandert derzeit unter wilden Bären in nordamerikanischen Wäldern. Leider habe ich Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Wohnung [Calle de Hernán Cortéz No 7, 8. Etage], die Sie, wie wir unseren Unterlagen entnehmen, seit 75 Jahren nicht verlassen haben, undicht geworden ist. Ihr l.k. mit besten Grüßen – Kurz nachdem ich den Brief zu Ende notiert hatte, der Eindruck, dass ich mir selbst ein wenig unheimlich werde, warum?
atlantisches licht
MELDUNG. Atlantikleuchter Abyss DC-X-71 : mobiles Habitat für 8 Exemplare Anglerprachtfisch melanocetus johnsoni GT-AO9 [ männlich ] : je 0.78 Watt Lumineszenz : 5 Liter Schwimmraum : Vollmantelpanzerverglasung : Gewicht [ ohne Atlantik ] – 15.8 kg : Befeuerung – 5 g Zwerggarnele nathophyllum americanum GT-BC97 [ a 24 h ] : automatischer Druckausgleich [ 105 atm / Tag : 5 atm / Nacht ] : natürlicher Hautschirm zur Abdeckung protoplastischer Strahlung — transparent [ Inid-Code 9788907–86 ] — stop