Particles: Juni 2012

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falterherz

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lima : 5.48 — Ich erin­ne­re mich, im August des Jah­res 2008 einen Strauß Fra­gen notiert zu haben. Ich woll­te wis­sen, ob es Men­schen mög­lich ist, einen alt und müde gewor­de­nen Fal­ter am offe­nen Her­zen solan­ge zu ope­rie­ren, bis er wie­der flie­gen kann? Wie also betäubt, wie beatmet man einen Fal­ter? Mit wel­chen Mate­ria­li­en wer­den geöff­ne­te Fal­ter­brüs­te güns­ti­ger­wei­se wie­der geschlos­sen? Ich habe auf die­se Fra­gen bis­her kei­ne Ant­wor­ten gefun­den. Manch­mal den­ke ich, dass das Sam­meln sel­te­ner Fra­gen an sich ein gro­ßes Ver­gnü­gen bedeu­tet. Mei­ne Fal­ter­herz­fra­gen haben jeden­falls einen der­art nach­hal­ti­gen Ein­druck hin­ter­las­sen, dass ich kei­nen Fal­ter, der seit­her nachts zu mir zu Besuch gekom­men ist, betrach­ten konn­te, ohne sofort an die Mög­lich­keit einer Not­ope­ra­ti­on zu den­ken. – Frei­tag. Regen. Küh­le Luft. — stop
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fingerknospen

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india : 6.32 — Mei­ne Schreib­ma­schi­ne ist ein merk­wür­di­ges Ding. Sie ist flach und sie ver­fügt über einen Bild­schirm und außer­dem über einen licht­emp­find­li­chen Sen­sor, der ins Inne­re mei­ner Schreib­ma­schi­ne zu mel­den scheint, ob Tag ist oder Nacht, ob Hel­le oder Dun­kel. Ich habe gera­de eben eine Vier­tel­stun­de nach der Posi­ti­on die­ses Sen­sors gesucht, zunächst mit­tels mei­ner Augen selbst, etwas spä­ter mit einer Lupe, je ohne eine beweis­kräf­ti­ge Spur auf­neh­men zu kön­nen. Es ist Sams­tag. Ich mag das Wort Sams­tag gut lei­den. Gera­de fällt mir ein, dass ich bald ein wei­te­res Jahr gelebt haben wer­de, ohne einen Fin­ger ver­lo­ren oder um einen Fin­ger zuge­nom­men zu haben. Oft, so auch heu­te, habe ich mich gefragt, wie sich ein nach­wach­sen­der Fin­ger zunächst bemerk­bar machen wür­de? Wür­de sich neben einem bereits exis­tie­ren­den Fin­ger eine Fin­ger­knos­pe bil­den, die nach und nach sich zu einem voll­stän­di­gen Fin­ger­glied erhe­ben wür­de? Oder wür­de sich viel­leicht einer mei­ner älte­ren Fin­ger in sei­ner Mit­te tei­len? Das sind sehr inter­es­san­te Fra­gen, die viel­leicht ein wenig unheim­lich zu sein schei­nen. Vor weni­gen Stun­den, das geht mir nicht aus dem Kopf, habe ich am Flug­ha­fen mit einem jun­gen Mann gespro­chen, der in einem Wasch­raum stand und eine sehr trau­ri­ge Geschich­te erzähl­te. Manch­mal muss­te er wei­nen. Sei­ne Augen röte­ten sich und er beug­te sich rasch über das Wasch­be­cken und begann sein Gesicht mit Was­ser zu benet­zen. Dann rich­te­te er sich auf, erzähl­te wei­ter und wein­te erneut, um sich wie­der­um über das Wasch­be­cken zu beu­gen bis er so nass gewor­den war, dass er ste­hen­blieb und erzähl­te und wein­te zur glei­chen Zeit, ohne sich noch ver­ber­gen zu wol­len. — stop

polaroidunter

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abschnitt neufundland

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Abschnitt Neu­fund­land mel­det fol­gen­de gegen Küs­te gewor­fe­ne Arte­fak­te : Wrack­tei­le [ See­fahrt – 1546, Luft­fahrt — 2101, Auto­mo­bi­le — 62742 ], Gruß­bot­schaf­ten in Glas­be­häl­tern [ 18. Jahr­hun­dert — 6, 19. Jahr­hun­dert – 23, 20. Jahr­hun­dert – 1055 , 21. Jahr­hun­dert — 732 ], phy­si­cal memo­ries [ bespielt — 387, gelöscht : 5 ], Licht­fang­ma­schi­ne [ Lin­hof Tech­ni­ka II : 1 ], Öle [ 0.2 Ton­nen ], Pro­the­sen [ Herz — Rhyth­mus­be­schleu­ni­ger – 23, Knie­ge­len­ke – 8, Hüft­ku­geln – 431, Bril­len – 1186 ], Schu­he [ Grö­ßen 28 – 39 : 354, Grö­ßen 38 — 45 : 1258 ], Kühl­schrän­ke [ 77 ], Tief­see­tauch­an­zü­ge [ ohne Tau­cher – 3, mit Tau­cher – 88 ], Engels­zun­gen [ 124 ] — stop

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sommernachmittag

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char­lie : 6.24 — Ein­mal, vor ein oder zwei Jah­ren, saß ich eini­ge Stun­den lang an der Sei­te mei­nes Vaters vor sei­nem Schreib­tisch. Wir sahen Noti­zen durch, die er seit der Stu­di­en­zeit auf Zet­teln nie­der­leg­te. Da waren nun Zet­tel aus jün­ge­rer Zeit gewe­sen und Zet­tel, die er bereits vor 10 oder 20 Jah­ren notier­te, Adres­sen, Tele­fon­num­mern, Ver­zeich­nis­se, auch phi­lo­so­phi­sche Bemer­kun­gen, For­meln, Pass­wör­ter. Wir ver­such­ten gemein­sam zu unter­schei­den, was noch wich­tig war und was viel­leicht zur Sei­te gelegt wer­den konn­te. Mein Vater kämpf­te an die­sem Tag des Sor­tie­rens um jeden ein­zel­nen sei­ner Zet­tel. Wenn ich das Zim­mer ein­mal kurz ver­las­sen hat­te, um Milch oder Tee zu holen, konn­te ich vom Flur her sehen, wie sich sei­ne rech­te Hand bemüh­te, Zet­tel, die wir dem Ver­schwin­den über­eig­net hat­ten, in die Abtei­lung UNVERZICHTBAR zurück­zu­ho­len, ein lus­ti­ges Spiel. Ich setz­te mich bald zurück an den Tisch und wir taten bei­de so, als ob in der kur­zen Zeit mei­ner Abwe­sen­heit nichts gesche­hen wäre. Drau­ßen vor dem Fens­ter reg­ne­te es ohne Unter­bre­chung. Wir spra­chen wenig. Immer­zu beweg­te ich mich zu schnell. Manch­mal schlief mein Vater ein. Das war an einem Som­mer­nach­mit­tag gewe­sen. — stop
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fischvögel

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~ : louis
to : Madame van Lishout
sub­ject : FISCHVÖGEL

Sehr geehr­te Madame van Lishout, ver­zei­hen Sie bit­te viel­mals mein Schrei­ben auf elek­tri­schem Wege. Ich bin nicht sicher, ob ich Ihre kor­rek­te Adres­se erin­ne­re. Ein Brief auf Papier mit unter­zeich­ne­ter Bestel­lung wur­de an fol­gen­de Anschrift gesen­det: M.v.L., Chal­li­ons 7, 4968 Mal­mers­by, Bel­gi­um. Es geht um ein drin­gen­des Geschenk, das bis zum 10. August für einen Freund fer­tig gestellt sein muss. Sie erin­nern sich viel­leicht, es geht um jenen Freund, der seit einem Jahr­zehnt im Was­ser exis­tiert. Da die Krea­ti­on unter der Was­ser­ober­flä­che leben­der Sing­vö­gel nicht mög­lich ist, — ich habe Ihre Erläu­te­run­gen ver­stan­den -, sehr wohl aber die Manu­fak­tur eines Fisch­pär­chens, das in Gestalt und Beneh­men Sing­vö­geln ähn­lich sein könn­te, wäre ich Ihnen dank­bar, wenn Sie für mich ein oder zwei Ent­wür­fe zur Ver­wirk­li­chung for­mu­lie­ren wür­den. Auch einen Käfig, der in Süß­was­ser län­ge­re Zeit über­dau­ern könn­te, habe ich vor in Auf­trag zu geben, schön wäre ein fili­gra­nes Gehäu­se von dunk­lem Holz. In der Grö­ße soll­te das Pär­chen vogel­ähn­li­cher Fische die Dimen­si­on der Luftz­ei­si­ge nicht über­tref­fen, da die Was­ser­woh­nung mei­nes Freun­des eher beschei­den aus­ge­fal­len ist. In der farb­li­chen Aus­füh­rung wün­sche ich wei­che pas­tell­far­be­ne Töne. Ein gewis­ses Leucht­ver­mö­gen von innen her wäre wun­der­voll. Könn­te dies alles mög­lich sein, wür­den Sie mich sehr glück­lich erle­ben. Der Gesang der klei­nen Fische soll­te fröh­lich, nicht all­zu laut, vor allem eben hei­ter sein. Ich erwar­te Ihre Ant­wort drin­gend und ver­blei­be hoch­ach­tungs­voll mit freund­li­chen, dank­ba­ren Grü­ßen. Ihr Mr. Lou­is

gesen­det am
5.06.2012
2.58 MEZ
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polaroidtaucher

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transit

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alpha : 1.30 — Es ist still im Haus. Drau­ßen zaust ein küh­ler Wind Bäu­me und Sträu­cher, wäh­rend die Venus, ein Punkt, über den abge­dun­kel­ten Son­nen­ball auf dem Bild­schirm mei­nes Com­pu­ters wan­dert. Das sind Bil­der, die von der NASA gesen­det wer­den, das beob­ach­ten­de Maschi­nen­au­ge befin­det sich auf dem Mau­na Kea, Hawaii. Ich habe die Son­ne noch nie zuvor in die­ser Wei­se betrach­tet, Echt­zeit, in dem Sin­ne Echt­zeit, dass ich die Son­ne betrach­ten kann, ohne mei­ne Augen schlie­ßen zu müs­sen und in die­ser Wei­se wahr­zu­neh­men ver­mag, wie sich ihre Ober­flä­che tat­säch­lich bewegt. Oder irre ich mich? Alles das, was ich sehe, liegt bereits 8 Minu­ten in der Zeit zurück. Es ist denk­bar, dass ich die Bewe­gung nur des­halb zu erken­nen mei­ne, weil ich weiß, dass die­se Bewe­gung exis­tiert. Ja, es ist still im Haus. Der Regen peitscht gegen die Schei­ben. Ich bin ruhig. Alles schläft. — stop

ping

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brummkreisel DOYU 66Y

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bamako : 18.55 — Ich habe über das Pro­blem leben­der Brumm­krei­sel nach­ge­dacht. Das ist näm­lich so, dass ein Lebe­we­sen, das einem Brumm­krei­sel ähn­lich sein wür­de, über zwei Abtei­lun­gen ver­fü­gen soll­te, über eine der Erde ver­bun­de­ne Fuß — oder Basis­ab­tei­lung einer­seits, sowie über eine sich dre­hen­de, krei­sen­de Ein­heit ande­rer­seits, die sich in den Momen­ten der Karus­sell­fahrt in Frei­heit, also unab­hän­gig von dem geer­de­ten Teil des Brumm­krei­sel­we­sen bewe­gen müss­te und doch ein­deu­tig zu ihm gehö­ren wür­de. Dem­zu­fol­ge wür­de die krei­sen­de Abtei­lung die­ses Wunsch­we­sens nach Ende ihrer rasen­den Fahrt zu sich selbst zurück­keh­ren, das heißt, sich mit der war­ten­den Fuß­ab­tei­lung in orga­ni­schem Sin­ne wie­der ver­ei­nen. Eigent­lich ist das ins­ge­samt nicht schwer zu den­ken. Ein Gefäß, anstatt eines Kop­fes, könn­te auf den Schul­tern der Basis­ab­tei­lung exis­tie­ren, eine Fas­sung, in wel­cher sich die unte­re Spit­ze des wir­beln­den Kör­per­tei­les frei dre­hend bewe­gen wür­de. In die­sem Gefäß soll­ten sich Öle befin­den, die dem mensch­li­chen Liqu­or ähn­lich sind. Nach einer Pha­se der Rota­ti­on wür­den sich in die­ser Flüs­sig­keit Blut­ge­fä­ße und Ner­ven­bah­nen, die zuvor gelöst wor­den waren, von unten nach oben erneut mit­ein­an­der in Ver­bin­dung brin­gen, so dass das Wesen bald wie­der zu einer voll­stän­di­gen Per­son gewor­den sein wird. Augen und Ohren, so stel­le ich mir vor, soll­ten sich in der unte­ren Abtei­lung befin­den, auch Füße zum Ste­hen und Wan­dern und alle Orga­ne, die für einen gesun­den Stoff­wech­sel not­wen­dig sind. Ja, so könn­te das mög­lich sein, das ist denk­bar, das macht Kno­ten im Kopf. — stop

ping

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ohrentraum

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bamako : 5.55 — War im Restau­rant. Dort schritt die Zeit sehr viel schnel­ler als übli­cher­wei­se vor­an. Jeder ein­tre­ten­de Besu­cher wur­de gewarnt, unge­fähr so: Guten Abend mein Herr, wir wol­len sie dar­auf hin­wei­sen, dass ein Abend bei uns sie um etwa ein Jahr älter wer­den lässt. Tat­säch­lich fla­cker­te im Saal das Licht auf­ge­regt, das waren viel­leicht Däm­me­run­gen, Näch­te und Tage. Auch mein Herz schlug wie ver­rückt und das Blut zisch­te durch mei­ne Blut­ge­fä­ße. Ich ver­speis­te 250 Gramm gerös­te­ter mensch­li­cher Ohren in einer sanf­ten Zitro­nen­sauce. Als ich erwach­te, hör­te ich mei­ne eige­ne Stim­me, die etwas sag­te, das ich nicht ver­stand. Ich mach­te Kaf­fee und ich notier­te mei­nen Traum unver­züg­lich. Über die Notiz setz­te ich das Wort: Ohren­traum. — stop

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frankie

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echo

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : FRANKIE
date : june 9 12 0.05 a.m.

Sams­tag. Nacht. Gute Nach­rich­ten sind zu über­mit­teln. End­lich haben wir ein Eich­hörn­chen gefan­gen, Cen­tral Park, Höhe 76. Stra­ße, ein gro­ßes, grau­es Tier. Wir haben ihm dem Namen Fran­kie ver­passt. In die­sem Moment schläft Fran­kie tief und fest. Es ist kaum zu glau­ben, dass wir sei­nen klei­nen run­den Bauch, der sich vor unse­ren Augen hebt und senkt, in weni­gen Stun­den öff­nen wer­den. Arme und Bei­ne sind bereits am Tisch befes­tigt, ein Anblick, der nicht gut zu ertra­gen ist. Fran­kie wirkt hilf­los, erbärm­lich, wie er hin­ge­streckt vor unse­ren Augen ruht. Als wir ihn bade­ten, wach­te er vom Was­ser auf, das er viel­leicht nicht gewöhnt ist, und zeig­te sei­ne kräf­ti­gen Zäh­ne. Ich neh­me an, er wird in die­sem Moment weder hören, noch sehen, nur träu­men oder auch nicht. Da wir nun alles auf das Sorg­fäl­tigs­te vor­be­rei­tet haben, Satel­li­ten­sen­der wie USB-Daten­trä­ger lie­gen bereit, bit­ten wir um prä­zi­se ana­to­mi­sche Anwei­sung, in wel­che Tie­fe wir das Mate­ri­al in Fran­kies Kör­per zu ver­sen­ken haben. Wie lan­ge Zeit soll­ten wir Fran­kie nach Ope­ra­ti­on nar­ko­ti­sie­ren? Wann könn­ten wir ihn wie­der in die Frei­heit ent­las­sen? Ant­wor­ten Sie bit­te rasch! Ihr Mal­colm / code­wort : hibiskusblüte

emp­fan­gen am
9.06.2012
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mal­colm to louis »

ping

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jackson avenue

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romeo : 1.28 — New York. Sub­way Linie 7 Rich­tung Queens. Ein Herr mit Akten­kof­fer steigt Sta­ti­on Jack­son Ave­nue in den Zug, setzt sich, legt sei­nen Kof­fer auf die Knie, öff­net den Kof­fer und ent­nimmt ein Gerät, das nicht sehr viel grö­ßer ist als eine Streich­holz­schach­tel. Bald wer­den Bat­te­rien sicht­bar, eine Ver­samm­lung von vier Bat­te­rien, 1.5 Volt, die mit­tels eines Gum­mi­ban­des anein­an­der befes­tigt sind. Dräh­te füh­ren in die Luft, sie beben in der Bewe­gung des Zuges, wer­den in die­sem Moment von gleich­falls beben­den Fin­gern des Man­nes ein­ge­fan­gen, mehr­fach verz­wir­belt und vor­sich­tig mit dem klei­nen Gerät, das der Mann sei­nem Kof­fer zunächst ent­nom­men hat­te, ver­bun­den. Ein Jun­ge mit Gitar­re schlen­dert indes­sen musi­zie­rend durch den Zug, breit­bei­nig, in der Art der Matro­sen auf hoher See. Fahr­gäs­te in der Nähe des Man­nes mit dem Akten­kof­fer beob­ach­ten inter­es­siert wie der Mann aus der lin­ken Tasche sei­nes Jacketts eine Kur­bel hebt, fili­gra­nes Werk­zeug, Wel­le von Metall, höl­zer­ner Griff. Er steckt die Kur­bel in den Streich­holz­kas­ten und beginnt vor­sich­tig an ihr zu dre­hen. Jetzt schließt er sei­ne Augen, kur­belt wei­ter. Eini­ge Meter ent­fernt sitzt ein Mäd­chen auf einer grell­bun­ten Rei­se­toi­let­te. Auch das Mäd­chen, wäh­rend es war­tet, beob­ach­tet den Mann und sei­ne Kur­bel­ma­schi­ne vol­ler Hin­ga­be. In die­ser Sekun­de schließt auch das Mäd­chen, wie der Mann, andäch­tig die Augen. – stop

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lopes

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del­ta : 0.36 — Ich stel­le mir vor, wie ich bald ein­mal von einer län­ge­ren Rei­se nach Hau­se zurück­kom­men wer­de. Ich öff­ne die Woh­nungs­tü­re, mache Licht, ein paar Nacht­fal­ter kom­men mir durch den Flur zur Begrü­ßung ent­ge­gen. In der Küche blü­hen Kak­teen. Im Wohn­zim­mer auf dem Sofa ruht eine nor­we­gi­sche Wald­kat­ze, sie schläft. Es herrscht, obwohl Win­ter­zeit, eine ange­neh­me Tem­pe­ra­tur in allen Räu­men, eine Wär­me, die von der Hit­ze umlie­gen­der Woh­nun­gen ver­ur­sacht ist. Ich höre Duke Elling­ton lei­se vom Radio her, das ich ver­gaß vor mei­ner Rei­se aus­zu­schal­ten. Ja, und da ist nun also Lopes, auf dem Rücken lie­gend, bewe­gungs­los. Ich sage, Lopes, hal­lo Lopes, guten Abend, bin wie­der da, werd dich gleich wecken. Schrit­te an der Zim­mer­de­cke, das pfei­fen­de Geräusch einer Stra­ßen­bahn, die eine Kreu­zung über­quert, der Staub der Mona­te knis­tert auf den Lam­pen­bir­nen. Auch die Kak­teen hin­ter dem Schreib­tisch blü­hen wie ver­spro­chen. Es ist ein wirk­lich ange­neh­mer Abend. Lopes ist schmal gewor­den und kühl, wie ich mit einer Hand über ihren Kör­per fah­re, fühl ich ihre Rip­pen­bö­gen unterm Fell. Nichts kann man falsch machen in die­sen sanf­ten Momen­ten einer Rück­kehr aus der Fer­ne, man macht das so, man setzt sich neben das schlum­mern­de Kat­zen­tier, man zieht ganz sanft an einem ihrer Ohren, mal ist es das lin­ke, mal ist es das rech­te Ohr, und schon öff­nen sich ihre Augen, es ist über­all das­sel­be Prin­zip. Ich hör­te von Arten, die 5 Jah­re lang schla­fen und war­ten, ohne je ein­mal auf­zu­wa­chen, oder trin­ken oder essen zu müs­sen. Das sind Kat­zen, die sehr kost­bar sind, Lopes dage­gen ist eine eher preis­wer­te Vari­an­te, eine Kat­ze, die sechs Mona­te bei bes­ter Gesund­heit zu schla­fen ver­mag. Ich sitz jetzt in der Küche, ich höre wie mei­ne Kat­ze schnurrt. Gleich wird sie um die Ecke kom­men, etwas wacke­lig auf den Bei­nen noch und völ­lig ahnungs­los wie viel Zeit doch ver­gan­gen ist, seit ich sie in Schlaf geschal­tet habe. — stop

ping

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mississippi

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alpha : 6.15 — Wäh­rend ich Stun­de um Stun­de in Ste­wart O’Nan’s Roman Last Night at the Lobs­ter lese, immer wie­der das Wort Mis­sis­sip­pi im Kopf. Die Idee, dass das Wort Mis­sis­sip­pi in der Fort­set­zung der Lek­tü­re nach und nach alle wei­te­ren Wör­ter und Gedan­ken ersetz­ten könn­te. stop. In einem Wort ver­schwin­den. – stop

ping

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blitzkäfer

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marim­ba : 6.42 — Man erzählt, Blitz­kä­fer in frei­er Wild­bahn sei­en sel­ten gewor­den. Einer der letz­ten auf dem euro­päi­schen Fest­land woh­nen­den Käfer die­ser Gat­tung soll am ver­gan­ge­nen Wochen­en­de nahe Straß­burg ent­deckt und gefan­gen genom­men wor­den sein. Das Tier wur­de kurz vor sei­ner dro­hen­den Ent­la­dung in einen bota­ni­schen Samm­ler mit­tels eines iso­lie­ren­den Käfigs von Por­zel­lan arre­tiert und befin­det sich der­zeit im zoo­lo­gi­schen Gar­ten zu Oslo. Nun soll­te man wis­sen, Biltz­kä­fer sind gefähr­li­che Per­so­nen, obgleich sie zunächst eher harm­los erschei­nen. Von einer hel­len run­den Pan­ze­rung umge­ben, ver­fü­gen sie über außer­or­dent­lich kur­ze kräf­ti­ge Bei­ne, über einen Kopf wei­ter­hin, der an ihrem Kör­per kaum in Erschei­nung tritt, weil er sehr klein ist und auf dem volum­niö­sen Kör­per unmit­tel­bar auf­sitzt, Wesen ohne Hals, die sich sehr lang­sam vor­wärts, rück­wärts oder seit­wärts bewe­gen. Sobald man einen Blitz­kä­fer anzu­he­ben wünscht, wird man über­rascht sei­ne Schwe­re bemer­ken, man kann ihn von Hand kaum von einem Unter­su­chungs­tisch bekom­men, so schwer ist die Käfer­krea­tur. An sei­nem höchs­ten Punkt, exakt sei­nen Bei­nen gegen­über, erhebt sich ein Sta­chel, der sich gegen den Him­mel rich­tet. Von dort kom­men Blit­ze an oder gehen von dort aus wie­der in die Luft. Blitz­kä­fer sum­men. Das ist ein Geräusch, wel­ches höchs­te Gefahr signa­li­siert für Leib und Leben. — stop

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zerstreuung

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mari­ma­ba : 6.36 — In einer Film­do­ku­men­ta­ti­on, die den Schrift­stel­ler Jona­than Fran­zen fünf Tage lang wäh­rend einer Lese­rei­se beglei­tet, fol­gen­de berüh­ren­de Sze­ne, die sich im New Yor­ker Arbeits­zim­mer des Autors ereig­net. Jona­than Fran­zen hält sei­ne Schreib­ma­schi­ne, ein preis­wer­tes Dell – Note­book, vor das Objek­tiv der Kame­ra. Er deu­tet auf eine Stel­le an der Rück­sei­te des Gerä­tes, dort soll frü­her ein­mal ein Fort­satz, eine Erhe­bung zu sehen gewe­sen sein. Er habe die­sen Fort­satz eigen­hän­dig abge­sägt. Es han­del­te sich um eine Buch­se für einen Ste­cker. Man konn­te dort das Inter­net ein­füh­ren, also eine Ver­bin­dung her­stel­len zwi­schen der Schreib­ma­schi­ne des Schrift­stel­lers und der Welt tau­sen­der Com­pu­ter da drau­ßen irgend­wo. Jona­than Fran­zen erklärt, er habe sei­nen Com­pu­ter bear­bei­tet, um der Ver­su­chung, sich mit dem Inter­net ver­bin­den zu wol­len, aus dem Weg zu gehen. Eine über­zeu­gen­de Tat. Im Moment, da ich die­se Sze­ne beob­ach­te, bemer­ke ich, dass die Ver­füg­bar­keit von Infor­ma­ti­on zu jeder Zeit auch in mei­nem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zer­streu­ung, Belie­big­keit erzeu­gen kann. Ich schei­ne in den Zei­chen, Bil­dern, Fil­men, die her­ein­kom­men, flüs­sig zu wer­den. Dage­gen ange­neh­me Gefüh­le, wenn ich die abge­schlos­se­ne Welt eines Buches in Hän­den hal­te. Frü­her ein­mal, sobald ich spa­zie­ren ging oder auf eine Rei­se, zur Arbeit, ins Thea­ter oder sonst wohin, ver­ließ ich nie­mals das Haus, ohne eines mei­ner zer­schlis­se­nen Unter­wegs­bü­cher mit mir zu neh­men. Wenn ich ein­mal doch kein Buch in der Hand oder Hosen­ta­sche bei mir hat­te, sofort das Gefühl, unbe­klei­det oder von Lee­re umge­ben zu sein. Als ob ich einen immer­wäh­ren­den Aus­weg in mei­ner Nähe wis­sen woll­te, ein Zim­mer von Wör­tern, in das ich mich jeder­zeit, manch­mal nur für Minu­ten, zurück­zie­hen konn­te, um fest zu wer­den. Da waren also Bücher von Mal­colm Lowry, Kenzabu­ro Oe, Tru­man Capo­te, Frie­de­ri­ke May­rö­cker, Wal­ter Ben­ja­min, Janet Frame, Georg C. Lich­ten­berg, Hein­rich von Kleist, Moni­ka Maron, Alex­an­der Klu­ge, Boho­u­mil Hra­bal, Johann Peter Hebel, Patri­cia High­s­mith, Eli­as Canet­ti, Peter Weiss, Hans Magnus Enzens­ber­ger. Irgend­wann, weiß der Teu­fel war­um, hör­te ich auf damit. Und doch tra­ge ich noch immer ein Buch in mei­ner Nähe. Ich tra­ge mei­ne Stra­ßen­bü­cher nicht län­ger in der Hand, ich tra­ge mei­ne Stra­ßen­bü­cher im Ruck­sack auf dem Rücken. — stop

ping

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notvögel

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nord­pol

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : NOTVÖGEL
date : june 16 12 0.12 a.m.

Guten Mor­gen, Lou­is! Wie gehts Ihnen? Alles in Ord­nung? Eine Woche ist ver­gan­gen seit wir Fran­kie, das Eich­hörn­chen, ope­rier­ten. Er scheint bei bes­ter Gesund­heit. Wir haben die Kral­len sei­ner Pfo­ten gestutzt, damit er sich die Nar­be auf sei­nem Bauch nicht bald öff­nen wird. Wir beob­ach­te­ten, dass sie ihn reizt, nicht so sehr das USB – Gerät, des­sen Kon­tur sich unter der rosa­far­be­nen Haut deut­lich abzeich­net, viel­mehr ist es die rasier­te Stel­le ins­ge­samt, die Fran­kie immer wie­der betrach­tet. Wir haben den Ein­druck, er wun­dert sich in höchs­ten Maße. Indes­sen schei­nen ihn jene kreis­för­mi­gen Solar­zel­len, die wir auf sei­ner Stirn links und rechts mon­tier­ten, nicht wei­ter zu inter­es­sie­ren, auch das GPS-Funk­ge­rät, das wir hin­ter sei­nem lin­ken Ohr im Leib ver­senk­ten, blieb bis­lang unbe­merkt. Es ist nicht viel grö­ßer als 1 Cent­mün­ze. Heu­te ist also Frankie’s ers­ter Tag in rela­ti­ver Frei­heit. Wir haben den klei­nen Mann von sei­nen Käfig­fes­seln befreit, wes­we­gen er seit Stun­den auf­ge­regt in der Woh­nung tollt. In zwei oder drei Tagen, wenn alles gut gehen wird, pla­nen wir Fran­kie in der Däm­me­rung eines Abends im Cen­tral Park, Höhe 87. Stra­ße West, in die Wild­nis zu ent­las­sen. Hin­sicht­lich der Ent­wick­lung ess­ba­rer Not­vö­gel ist fol­gen­des zu sagen. Zei­si­ge, Fin­ken, Amseln, Sta­re erschei­nen uns nicht geeig­net. Ler­chen indes­sen sind inso­fern bereits gelun­gen, als sie ihrem Zucht­be­häl­ter voll­stän­dig feder­los ent­kom­men. Wir haben ihr Wachs­tum beschleu­nigt, sie wer­den nach Bestel­lung bin­nen drei­er Tage fer­tig und im Geschmack Süß­man­deln ähn­li­cher gewor­den sein. Lei­der sind sie noch blind und taub und stumm. Natür­lich sind wir wei­ter­hin in jeder Hin­sicht um Fort­ent­wick­lung bemüht. In die­sem Sin­ne, äußerst zuver­sicht­lich, grü­ßen wir Sie herz­lich. – Ihr Mal­colm / code­wort : lil­li­put

emp­fan­gen am
16.06.2012
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mal­colm to louis »

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postkarte nach brooklyn

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india : 0.58 — Eine Post­kar­te. Auf ihrer Vor­der­sei­te war ein blü­hen­des Mohn­blu­men­feld zu sehen, auf ihrer Rück­sei­te wur­de in eng­li­scher Spra­che hand­schrift­lich notiert. Abge­schickt wur­de das Doku­ment aus einer nörd­li­chen Gegend Euro­pas in Rich­tung Brook­lyn, New York. Ein Mann schrieb fol­gen­des an eine Frau namens Mary, ich über­setz­te: Mei­ne gelieb­te Mary, wir fah­ren seit einer Woche über das Land, das rot ist vom Mohn. Ich den­ke an Dich, wäh­rend ich in die Peda­le tre­te. Du bist nah, mei­ne Liebs­te. Wir haben immer Gegen­wind, weil wir in die fal­sche Rich­tung fah­ren. Abends und auch am Tag trin­ken wir Wein, weil wir hier trin­ken kön­nen wie wir wol­len, ohne uns ver­ste­cken zu müs­sen. Manch­mal glau­be ich dar­um, dass Du wirk­lich da bist und dann muss ich sofort vor Schreck lang­sa­mer fah­ren und am bes­ten abstei­gen und mich nach Dir umse­hen. Es ist wun­der­voll in einem Mohn­feld zu lie­gen. Ich wer­de mei­ne Post­kar­te an Dich heu­te Abend heim­lich auf­ge­ben. Viel­leicht wird sie eine Über­ra­schung wer­den für Dich. Dein Mar­tin — stop

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nachtmann

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char­lie : 7.01 — Ich habe die­sen Mann, der sich am Flug­ha­fen nachts in die Nähe schla­fen­der Men­schen schleicht, schon häu­fi­ger wahr­ge­nom­men. Er scheint ohne Gepäck zu sein, ist stets kor­rekt geklei­det, viel­leicht ein wenig ner­vös in sei­nen Bewe­gun­gen. Vor allem sei­ne Füße sind vol­ler Unru­he. Er springt auf, geht hin und her, und dann setzt er sich wie­der und spricht zu den gestran­de­ten Men­schen, die schla­fen oder halb schla­fen, mit­tels einer Stim­me, die so lei­se ist, dass ich sie bis­her noch nicht hören konn­te. Nun hat­te ich in der ver­gan­ge­nen Nacht die Idee, dass der Mann viel­leicht in der Lage sein könn­te, Traum­stim­men jener schla­fen­den Per­so­nen, wel­chen er sich näher­te, zu emp­fan­gen. Dann wäre das genau anders her­um, die schla­fen­den Men­schen wür­den dem bemer­kens­wer­ten Mann erzäh­len, der ihre Geis­ter­stim­men mit sei­ner Stim­me nach­spre­chen wür­de. Das will ich bald ein­mal auf­zeich­nen. Wer­de ich nah genug her­an­kom­men? Wel­che Spra­chen wer­de ich hören? — stop

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koralle

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hima­la­ya : 6.45 — In den ver­gan­ge­nen Stun­den über Gestalt und Leben der Was­se­r­en­gel nach­ge­dacht. Wenn ich mich mit einer Erfin­dung beschäf­ti­ge, die von einem frisch ent­deck­ten Wort aus­ge­gan­gen ist, öff­nen sich Räu­me von enor­mer, von unbe­kann­ter Wei­te. Mit jedem Satz, den ich dar­auf­hin notie­re, wer­den die­se Räu­me sicht­bar und selt­sa­mer­wei­se enger, als ob jeder Was­se­r­en­gel im Moment sei­ner Erfin­dung bereits über einen per­sön­li­chen Raum ver­füg­te, der von den Geset­zen der Logik beschränkt wird oder von mei­ner Bega­bung. – Frü­her Mor­gen. Gewit­ter­him­mel. Wol­ken spa­zie­ren über die Stra­ße. — stop

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luftgespräch

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tan­go : 15.01 — Eine Notiz wie­der­ge­fun­den, die Mr. Sal­ter vor eini­gen Jah­ren unter dem Titel Ele­phan­tis­land notier­te. Er schrieb fol­gen­des: Kurz nach acht Uhr. Kal­te, tro­cke­ne Luft, ich notie­re mit klam­men Hän­den. Um 7 Uhr heu­te Mor­gen haben wir bei stür­mi­scher See Ele­phan­tis­land erreicht. Suche nach Mil­ler unver­züg­lich auf­ge­nom­men. Süd­west­li­che Bewe­gung die Küs­te ent­lang. Gegen 9 Uhr ers­te grö­ße­re See­ele­fan­ten­grup­pen gesich­tet. Hef­ti­ger Schnee­fall. Mit­tags dann auf mensch­li­che Spu­ren gesto­ßen. Eine Mul­de von zwei Fuß Tie­fe im gro­ben Unter­grund, hüft­ho­her Stein­wall nord­wärts. Im Wind­schat­ten: drei gebleich­te Wal­kno­chen, ein hal­bes Dut­zend fin­ger­di­cker Haut­stü­cke, ein Kamm, zwei ros­ti­ge Kugel­schrei­ber, eine Blech­t­as­se, zwölf Pin­gu­in­schnä­bel, fünf Bat­te­rien, drei Klum­pen ran­zi­gen Fet­tes, Bruch­stü­cke eines Son­nen­kol­lek­tors und einer Schreib­ma­schi­ne. Das Werk­zeug war in einer Wei­se sorg­fäl­tig demo­liert, als sei eine Dampf­wal­ze dar­über hin und her gefah­ren. Dann wei­te­re zehn Minu­ten die Küs­te ent­lang, dann auf Mil­ler gesto­ßen. Der Dich­ter stand mit dem Rücken zu einem Fel­sen hin und rich­te­te ein Mes­ser gegen einen See­ele­fan­ten. Das Tier, das sehr gewal­tig vor unse­rem Mann in den Him­mel rag­te, war nur noch zwei Armes­län­gen ent­fernt und scheu­er­te mit dem Rücken über den Fel­sen. Eigen­ar­ti­ge Geräu­sche. Geräu­sche wohl der Lust. Geräu­sche, als habe das Tier eine ver­beul­te Trom­pe­te ver­schluckt. Geräu­sche auch von Mil­ler. Hel­le Geräu­sche, krei­schen­de, irre Töne. Wir haben zu die­sem Zeit­punkt das Fol­gen­de über Mil­ler zu sagen: Unser Mann ist ent­kräf­tet und stark ver­schmutzt. Zwei Fin­ger der lin­ken Hand sind erfro­ren. Kopf­wärts wan­dern­de Spu­ren von Dehy­dra­ti­on. Mil­ler spricht nur einen Satz: All for not­hing. Wir haben den Rück­weg ange­tre­ten, indes­sen, bei genaue­rer Betrach­tung unse­rer Umge­bung, auf Fels­for­ma­tio­nen ent­lang der Küs­te Frag­men­te von Zei­chen­ket­ten ent­deckt. Ein­deu­tig Mil­lers Hand­schrift. Brin­gen Dich­ter Mil­ler jetzt nach Hau­se. — Mitt­woch: Ein wis­pern­der, knat­tern­der, sin­gen­der, knirsch­nen­der, lirr­pen­der, pfei­fen­der, sir­ren­der Bauch. Tie­re von Luft sind zu Besuch gekom­men, hüp­fen, sprin­gen, sei­len unterm Zwerg­fell­dach. Gesprä­che tat­säch­lich, die ich hören kann. — stop

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kamele

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alpha : 8.02 — War­te­te in der Metro­sta­ti­on Charles Michels auf einer höl­zer­nen Bank, hat­te mei­ne Füße in war­men Sand gesteckt. Dünen, knie­hoch, eil­ten von Süden nach Nor­den durch die Unter­grund­sta­ti­on, ohne dass eine Wind­be­we­gung zu spü­ren gewe­sen wäre. Da waren Kame­le in der Grö­ße mensch­li­cher Hän­de. Sie beweg­ten sich mit den Dünen und sie waren blau, von einem vor­neh­men Blau, ultra­ma­rin oder etwas dunk­ler. Bald lie­ßen sie sich vor mir nie­der und ruh­ten, wie Kame­le ruhen, den Kopf hoch erho­ben, kau­end, mal das eine Auge geschlos­sen, dann das ande­re. Wie ich sie so träu­mend betrach­te­te, erin­ner­te ich mich, dass ich die­sen Traum schon ein­mal träum­te. Ich ahn­te, dass bald ein Zug aus dem Tun­nel kom­men wür­de, ein Zug gefüllt mit Sand, und dass ich mich erhe­ben und in den Zug stei­gen und erwa­chen wür­de. Genau so ist es gekom­men. Und jetzt sit­ze ich hier am Schreib­tisch und notie­re die­sen Traum, obwohl ich doch von der Ent­de­ckung der Eis­bü­cher berich­ten woll­te. – Guten Morgen!

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ein beamter unterirdischer musikabspielgeräte

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nord­pol : 0.25 — Als der Beam­te, der für das Fried­hofs­we­sen zustän­dig ist, win­kend eine Wie­se über­quer­te, stand ich mit einem Gärt­ner unter einer blatt­lo­sen Ulme. Der Mann rauch­te ein Ziga­ril­lo. Spä­ter Nach­mit­tag. Flü­gel­tie­re, gol­den­far­be­ne Gespens­ter, flat­ter­ten in der Luft her­um. Ich hat­te gera­de die Fra­ge gestellt, ob der Baum, unter dem wir war­te­ten, noch am Leben sei, als uns der Beam­te erreich­te. Er war etwas außer Atem und lach­te, weil ich ein altes Eisen­kreuz in mei­nen Hän­den dreh­te. Er sag­te sofort, dass die­ses Kreuz an Ort und Stel­le denk­bar sei. Das kön­nen sie hier auf­stel­len! Also waren wir sehr zufrie­den alle, wir hat­ten in gemein­sa­mer Gegen­wart kaum drei­fach geat­met und schon konn­ten wir wie­der aus­ein­an­der­ge­hen, wenn da nicht jener Baum gewe­sen wäre ohne Blät­ter, wes­we­gen wir über das Wet­ter zu spre­chen began­nen, über Win­ter­ta­ge, die kei­ne mehr sind. Und über Som­mer­zei­ten, die den Herbst­zei­ten von Jahr zu Jahr ähn­li­cher zu wer­den schei­nen. Ein Eich­hörn­chen toll­te über ein Grab in unse­rer Nähe, grub sich in die Erde, Stei­ne flo­gen durch die Luft. Viel­leicht weil sich das klei­ne Tier gut sicht­bar in die Tie­fe voran­ar­bei­te­te, hat­te ich die Idee, mei­ne Vor­stel­lung unter­ir­di­scher Musik vor­zu­tra­gen, die ich vor Mona­ten bereits ein­mal notier­te. Und so erzähl­te ich, wie ich geschrie­ben hat­te, dass näm­lich auf mei­ner letz­ten Ruhe­stät­te ein­mal ein Wind­rad stehn könn­te. Das Rad wür­de, in dem es sich dreh­te, Strom erzeu­gen. Mit­tels eines Kabels wür­de die­ser Strom zu einer Bat­te­rie unter die Erde geführt. Sobald nun durch kräf­ti­ge Win­de aus­rei­chen­de Men­gen von Strom gesam­melt sein wer­den, wür­de sich ein Musikab­spiel­ge­rät in Bewe­gung set­zen, um etwas Char­lie Par­ker oder Ben­ny Good­man zu spie­len. Eine rei­zen­de Vor­stel­lung, sag­te ich, eine Über­le­gung, die mich seit dem ver­gan­ge­nen April täg­lich beglei­tet. Und wie nun der Fried­hofs­gärt­ner anfing zu lachen, ein Lachen, das wärm­te, und wie aus dem Beam­ten der klei­nen Stadt, ein Beam­ter für unter­ir­di­sche Musik zu wer­den begann. — stop

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eisvogelsphäre

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del­ta : 0.10 — Eis­vo­gel­wör­ter ent­deckt. Nicht erwar­te­te Viel­falt: Her­ku­les-Eis­vo­gel (Alce­do her­cu­les), Kobalt-Eis­vo­gel (Alce­do semi­t­or­qua­ta), Schil­ler­eis­vo­gel (Alce­do qua­dri­brachys), Men­in­ting-Eis­vo­gel (Alce­do men­in­ting) Azur­fi­scher (Alce­do azu­rea), Brust­band-Eis­vo­gel (Alce­do eury­zo­na), Blau­brust­fi­scher (Alce­do cya­nopec­ta), Sil­ber­fi­scher (Alce­do argen­ta­ta), Mada­gas­karzwerg­fi­scher oder Schwarz­schna­bel-Zwerg­fi­scher (Alce­do vint­sio­ides), Hau­ben-Zwerg­fi­scher oder Mala­chit-Eis­vo­gel (Alce­do cristata), Sao-Tomé-Zwerg­fi­scher (Alce­do tho­men­sis), Prin­ci­pe-Zwerg­fi­scher (Alce­do nais), Weiß­bauch-Zwerg­fi­scher (Alce­do leu­co­gas­ter), Tür­kis­fi­scher (Alce­do coe­ru­le­s­cens), Papua­fi­scher (Alce­do pus­il­la) — Auch selt­sa­me Wör­ter in fol­gen­der Nah­auf­nah­me: Der Eis­vo­gel ernährt sich von Fischen, Was­ser­in­sek­ten und deren Lar­ven, Klein­kreb­sen und Kaul­quap­pen. Er kann Fische bis neun Zen­ti­me­ter Län­ge mit einer maxi­ma­len Rücken­hö­he von zwei Zen­ti­me­tern ver­schlin­gen. Bei lang­ge­streck­ten, dün­nen Arten ver­schiebt sich die Höchst­gren­ze auf zwölf Zen­ti­me­ter Kör­per­län­ge. Die Jagd­me­tho­de des Eis­vo­gels ist das Stoß­tau­chen. Von einer pas­sen­den Sitz­war­te im oder nahe am Was­ser wird der Stoß ange­setzt. Wenn er eine mög­li­che Beu­te ent­deckt, stürzt er sich schräg nach unten kopf­über ins Was­ser und beschleu­nigt dabei meist mit kur­zen Flü­gel­schlä­gen. Die Augen blei­ben beim Ein­tau­chen offen und wer­den durch das Vor­zie­hen der Nick­haut geschützt. Ist die Was­ser­ober­flä­che erreicht, wird der Kör­per gestreckt und die Flü­gel eng ange­legt oder nach oben aus­ge­streckt. Bereits kurz vor dem Ergrei­fen der Beu­te wird mit aus­ge­brei­te­ten Flü­geln und Bei­nen gebremst. Zur Was­ser­ober­flä­che steigt er zuerst mit dem Nacken, wobei er den Kopf an die Brust gepresst hält. Schließ­lich wird der Schna­bel mit einem Ruck aus dem Was­ser geris­sen und der Vogel star­tet ent­we­der sofort oder nach einer kur­zen Ruhe­pau­se zum Rück­flug auf die Sitz­war­te. Im All­ge­mei­nen dau­ert ein Ver­such nicht mehr als zwei bis drei Sekun­den. Der Eis­vo­gel kann aber auch aus einem kur­zen Rüt­tel­flug tau­chen, wenn ein geeig­ne­ter Ansitz fehlt. Nicht jeder Tauch­gang ist erfolg­reich, er stößt oft dane­ben. Der Eis­vo­gel benö­tigt zur Bear­bei­tung der Beu­te in der Regel einen dicken Ast oder eine ande­re, mög­lichst wenig schwin­gen­de Unter­la­ge. Klei­ne­re Beu­te wird mit kräf­ti­gem Schna­bel­drü­cken oft sofort ver­schluckt. Grö­ße­re Fische wer­den auf den Ast zurück­ge­bracht, dort tot geschüt­telt oder auf den Ast geschla­gen, im Schna­bel „gewen­det“ und mit dem Kopf vor­an ver­schluckt; ande­ren­falls könn­ten sich im Schlund die Schup­pen des Fisches sträu­ben. Der Eis­vo­gel schluckt sei­ne Beu­te in einem Stück. Unver­dau­li­ches wie Fisch­kno­chen oder Insek­ten­res­te wer­den etwa ein bis zwei Stun­den nach der Mahl­zeit als Gewöl­le her­aus­ge­würgt. / quel­le: wiki­pe­dia — stop
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lichtpilze

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alpha : 6.55 — Noch nie habe ich aus der Sicht eines Tau­chers oder eines Fisches fal­len­den Schnee wahr­ge­nom­men. Ich stel­le mir vor, dass eine Schnee­flo­cke wie ein urplötz­lich aus dem Nichts kom­men­der Licht­pilz erschei­nen könn­te, ein Wesen, das in genau dem Moment, da ich es wahr­neh­men kann, bereits wie­der ver­schwun­den sein wird. Muss auf Win­ter war­ten. — stop

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eiszimmer

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sier­ra : 6.52 — Vor eini­gen Tagen habe ich einen beson­de­ren Kühl­schrank in Emp­fang genom­men, einen Behäl­ter von enor­mer Grö­ße. Ich kann mit Fug und Recht behaup­ten, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­ba­re Eis­bü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zim­mer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­brin­gen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eis­bü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­ne­ren, äußerst kal­ten, einen sehr gut iso­lier­ten Kühl­schrank auf­ge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sa­gen, der von einem Not­strom­ag­gre­gat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­fal­les aus­rei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eis­bü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­li­che Vor­stel­lung, jene Vor­stel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, wollt ich Eis­bü­cher besit­zen, Eis­bü­cher lesen, schim­mern­de, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schu­ber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den lie­be­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gas­zei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eis­buch­rei­se­kof­fer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­ter­ten Bli­cke der Fahr­gäs­te, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­li­che Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hin­ein­ge­schrie­ben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eis­buch­rei­se­kof­fer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem ent­schlos­se­nen Blick, ein gie­ri­ges Auge nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man noch nicht ange­kom­men ist in den fros­ti­gen Zim­mern und Hal­len der Eis­ma­ga­zi­ne, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eis­ti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eis­buch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten ark­ti­schen Tief­see­eis­ge­schich­ten, auch jene ver­lo­re­nen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen man fürch­tet, sie könn­te zer­bre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hör­ten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. — stop
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cindirella

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MELDUNG. Erfolg­reich aus 28500 Fuß Höhe über dem pazi­fi­schen Oze­an kurz vor San­ta Rosa abge­wor­fen: Pana­ma-Nacht­af­fen­da­me Cin­di­rel­la, 2 Jah­re, fünf­te Über­le­ben­de der Test­se­rie Tef­lon-D08 {Haut­we­sen}. Man ist, der Schre­cken, noch voll­stän­dig ohne Spra­che, aber bei vol­lem Bewusst­sein. – stop
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brennender vogel

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echo : 0.10 — Ich bin noch immer leicht ver­wirrt von dem, was vor weni­gen Minu­ten pas­sier­te. Ein Blitz ist mög­li­cher­wei­se in nächs­ter Nähe ein­ge­schla­gen. Ich erin­ne­re mich, ich hat­te mei­ne Fens­ter geöff­net, es begann hef­tig zu reg­nen, dann wur­de es plötz­lich still. Ich lehn­te noch an der Wand mei­nes Arbeit­zim­mers. Es roch ein wenig nach Metall, mei­ne Zun­ge schmeck­te nach einem Löf­fel von Zinn, wie frü­her, sobald ich ein Früh­stücks­ei öff­ne­te. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit mei­nem lin­ken Ohr ein lei­ses Sum­men ver­neh­men, das even­tu­ell nicht außen, son­dern innen in mei­nem Kopf sich ereig­net. Rechts ist wirk­li­che Stil­le. Aber ich kann sehen, mit bei­den Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf mei­nem Sofa, er scheint zu bren­nen, wes­we­gen ich mich sofort auf den Weg machen wer­de, ein Glas Was­ser zu holen. Es ist selt­sam, tat­säch­lich ist die Erfah­rung der Gehör­lo­sig­keit in die­ser Nacht, die Erfah­rung voll­stän­di­ger Abwe­sen­heit eines Tei­les mei­nes Kop­fes. – stop