lima : 3.08 — In New York spazierend die Einsicht, Geheimdienste, ihre Menschen, ihre Apparaturen, sind hier tatsächlich sehr geheim. Ich stellte mir Menschen vor, die auf Dächern in Wassertürmen leben. Aber diese Menschen sind keine Geheimdienstmenschen, sondern Abenteurer oder arme Personen. In der Subway die Durchsage, Radiogeräte seien für diesen Tag verboten. Ich bin fast allein im Wagon. Eine Frau, die mir gegenübersitzt, schläft geduldig, das heißt, sie dämmert vor sich hin, schläft nicht wirklich, sie scheint sich mit ihrer Lage arrangiert zu haben. Next stop Jamaica. Menschen in der Subway sind zunächst einmal Menschen, die Zeiträume passieren. Die Erfahrung der langsam dahin fließenden Reisezeit hinter geschlossenen Augen scheint angenehmer zu sein als die Erfahrung der Reisezeit mit geöffneten Augen. Meine Zeit ist eine Rasende. Spätabends eine Rolltreppe im Bahnhof Lexington Avenue Höhe 86. Straße, die singt. Wasser tropft. In den Wänden sehr langsam rotierende Räder, die die Luft bewegen. Einmal für ein Jahr im Bryant Park als Bonsai-Mensch in den Bäumen existieren. Was würde ich hören, wäre ich ein Hund? — stop
Particles: Juli 2014
bei harrods
MELDUNG. Automobile, folgende, wurden nach einem Kaufhausbesuch zu London in Martha B., 88, vorgefunden. Magen — Bentley Coupe 6 [ 1934 ] , Dünndarm ‑1 Crawshay-Williams 20 HP [ 1906 ], Dickdarm — Citroen C2 [ 1922 ]. Ein nachsichtiger Richter hatte die Durchsuchung des hochbetagten Bauches einerseits, sowie unmittelbare Rückführung der Fahrzeuge in das Warenhaus Harrods an der Brompton Road andererseits, dringend empfohlen. — stop
elfmeter
charlie : 6.55 — Von einer faszinierenden Geschichte wird berichtet, die sich in der Fußballwelt ereignet haben soll. Man erzählt, ein bärenstarker wie fröhlicher Spieler der niederländischen Nationalmannschaft sei während eines Spieles im Torraum der gegnerischen Mannschaft mehrfach zu Flugversuchen gestartet. Er flog tatsächlich durch eigene Kraft je drei bis vier Meter durch die Luft. Es handelte sich bei diesen Flugversuchen um sehr gefährliche Kommunikationen mit einem Schiedsrichter, der sich in zweien der Fälle nicht, einmal jedoch angesprochen fühlte. Er verfügte einen Elfmeter, der zu einem Torerfolg führte. Im unmittelbaren Anschluss an das Spiel soll der fliegende, fröhliche Fußballspieler sich für einen seiner Flugversuche entschuldigt haben, nicht jedoch für letzteren, der zu einem Elfmeter führte, diesen habe er nur erfunden. — stop
zola jackson
marimba : 3.25 — Leichter, gnädiger Regen heut Nacht. Gegen zwei Uhr nehme ich Gilles Leroys Roman Zola Jackson zur Hand. Ich schaue auf die Uhr, fange an zur vollen Stunde, versuche so viele Seiten des Buches zu lesen in dieser kommenden Stunde wie möglich, ohne auf Gefühle, die Wörter erzeugen könnten, verzichten zu müssen. Um drei Uhr lege ich das Buch zur Seite. Drei Falter sind in die Wohnung vorgedrungen. Ich weiß nicht weshalb, ich meine in ihren pelzartigen Erscheinungen verkleidete Wesen erkennen zu können. Wenn ich einen Gedanken, der vielleicht seltsam ist, der Erfindung sein könnte, lange genug betrachte, vermag ich die Konsequenzen dieses Gedankens wahrzunehmen, als wäre die Erfindung tatsächlich vor mir in der Luft, und flatterte herum, und suchte an den Wänden meines Zimmers nach einem Ausgang in den Tag, der niemals existierte. — stop
mailand
ulysses : 6.56 — Die folgende Nachricht ist selbstverständlich Wort für Wort erfunden. Auch Satzzeichen, die in der erfundenen Nachricht enthalten sein werden, sind vermutlich nicht authentisch. Wenn Sie also von erfundenen Nachrichten nichts halten, sollten Sie nicht weiterlesen. Hier beginnt es sofort, bereits der nächste Satz wird erfunden sein, die ganze Geschichte, die sich im geschäftigen Mailand gegenwärtig in der Stazione Centrale ereignet. Zweihundert sehr besondere Zwergbaummäuse sollen auf einem Labortransport befindlich aus dem Besitz der städtischen Universität entkommen sein. Wenn ich das spezielle Vermögen dieser flüchtigen Mäuse beschreiben wollte, müsste ich sie zunächst als funkende Zwergbaummäuse oder schlicht als Funkbaummäuse bezeichnen. Sie funken tatsächlich, sind, präzise formuliert, in der Lage mittels einer technischen Erweiterung ihres Gehirns, Notrufzentralen von Polizei und Ambulanz anzuwählen. Das machen sie gern, ohne jedoch mit einer der angewählten Stellen je zu kommunizieren. Sie schweigen stattdessen oder piepsen vollständig unhörbar. Vermutlich haben sie von ihren Telefonanrufen persönlich keine Kenntnis, immer dann, wenn sie rechts herum im Kreise tanzen, senden sie ihren Code weil sie nicht anders können. Man möchte sie nun gern zum Schweigen bringen, man rückte ihnen mit süßen Giften, die sie nicht zu sich nahmen, und Blasrohren zu Leibe. Umsonst. Jetzt wartet man darauf, dass sie bald alt werden und sterben, vielleicht in einem Monat schon werden sie ausreichend alt geworden sein, niemand weiß das genau zu sagen. Noch immer sind sie sehr schnell, ihr Fell ist seidig, es schimmert rötlich, und ihre Augen sind von einem vornehmen Blau, sie funkeln, manchmal leuchten sie rot. Auf den Köpfen der Zwergbaummäuse wachsen wieder Haare, die noch seidiger sind als die Haare ihres Bauches oder ihres Rückens. Die Stirn krönt eine Ausbuchtung, nicht größer als eine Stecknadel. Wenn man sie so sieht, möchte man sie gern in die Hand nehmen und behutsam schütteln. — stop
=
echo : 0.02 — z u n g e n b e i n
mohn
delta : 4.02 — In einem Brief, von dem ich berichten darf, erzählt M. von der kurdischen Landschaft, in der sie groß geworden war, eine karge Gegend, Gebirge. Ich kenne den Namen der kleinen Stadt, in der M. die höhere Schule besuchte, ja, ich kenne den Namen dieser Stadt mit ihren braunen und grauen Häusern. Ich darf beschreiben den Schnee, der Meter hoch in den Dörfern lag, aber nicht den Namen der Dörfer selbst, oder den Namen der Stadt, die zwei Fußstunden entfernt von M.s Heimatdorf am Fuße eines Berges liegt, der so hoch in den Himmel ragt, dass manchmal der Schnee auf seinen Gipfelhängen über den Sommer hin liegen bleibt. Wie lang der Tag sein kann, wenn man allein ist, schreibt M. Wenn ihr schwer sei, spiele sie mit Steinen, die sie gegen eine Wand ihres Zimmers werfe, es ist ein Kinderspiel, und die Steine sind so alt wie M. selbst. Sie erinnert sich, dass ihre Brüder im Sommer, man konnte den Schnee auf dem hohen Berg in der Nähe leuchten sehen, auf einer Wiese über dem Dorf Fußball spielten. Es war ein stark geneigtes Spielfeld, man spielte bergauf oder man spielte bergab. Die jungen Männer hatten zum Tal hin einen Steinwall errichtet, um den Ball daran zu hindern, ins Tal zu rollen. Jetzt, schreibt M., sei die Wiese wieder eine Wiese ohne Tore. Im Frühling wächst auf der Wiese Mohn, dass alles ganz rot ist. Von den Brüdern lebt nur noch einer, von dem niemand weiß, wo er sich befindet. — stop
rio gallegos
von herzohren schmeckknospen schwefel
nordpol : 2.28 — In der vergangenen Nacht das Wesen der Schmeckknospen studiert, außerdem eine anatomische Geschichte, die sich mit dem Wort Schmeckknospen verbindet. Der Himmel blitzte ohne Donner, kaum Regen. Ich atmete mit Vorsicht, die Luft duftete nach Schwefel. Während ich las, bemerkte ich, dass ich auch im Lesen sehr langsam geworden bin. Manchmal lese ich so langsam, dass ich nicht Satz für Satz, sondern Wort für Wort vorwärts lese, jedes Wort, sagen wir, wahrnehme wie es ist. Während ich insgesamt langsamer werde, scheinen viele Menschen um mich her schneller zu werden, sie lesen immer schneller, und sie lieben immer schneller, und sie schreiben immer schneller, und ihre Schuhe fallen ihnen vom rasenden Gehen immer schneller von den Füßen. Und Ihre Wohnungen wechseln Stadtmenschen so rasant wie früher andere Personen ihre Zimmer in Hotels. Ich kann nicht sagen, ob ich nicht vielleicht schon viel zu langsam geworden bin für das moderne Leben. Sicher ist, ich spreche noch immer viel zu schnell, auch für sehr schnelle Menschen spreche ich viel zu schnell. Wenn ich Herzohren sehr schnell erzähle, fällt niemandem auf, dass ich von Herzohren erzählte, man glaubt, ich erzählte von Herzen und andererseits von Ohren. Einmal wanderte ich sehr langsam von einem Zimmer in ein anderes. Ich beobachtete mit großer Freude, dass ich in meiner Haut alles das, was notwendig für das Leben sein würde, von dem einen Zimmer, in dem ich aus dem Fenster geschaut hatte, in das andere Zimmer, in dem ich ein weiteres Buch lesen wollte, mit mir genommen hatte, nichts blieb zurück. — stop
sofia
delta : 5.57 — Im Flughafenterminal 1 existiert ein Mann, den ich vor sieben oder acht Tagen bemerkte. Ich war an einer Bank vorüber gekommen, auf welcher der Mann schlafend lagerte. Bevor er eingeschlafen war, muss er seine Schuhe sorgsam nebeneinander unter das festgeschraubte Bett gestellt haben. Sein Kopf ruhte auf Armen, die in den Ärmeln eines hellblauen Hemdes steckten. Er trug keine Strümpfe. Koffer waren in seiner Nähe nicht zu sehen. An jedem Morgen seither, sah ich ihn wieder, immer in der selben Position auf der selben Bank liegend. Auch seine Schuhe waren immerzu anwesend. Gestern hatte ich den Eindruck, als würde der Mann möglicherweise gar nicht existieren, sondern wäre nur eine Idee, ein Bild, aber der Mann atmet, das ist gut zu sehen. Auch scheint er sich zu rasieren, wenn ich nicht da bin. Er muss seit seiner Ankunft mehrfach aufgewacht sein, um zu trinken oder zu essen oder ein wenig zu spazieren. Dieser Mann könnte der einzige Mensch sein, den ich seit langer Zeit kenne, ohne seine geöffneten Augen je gesehen zu haben. Er kommt vielleicht aus Bukarest, oder aus Athen, Belgrad, Sofia, das ist denkbar. — stop
am karibasee
alpha : 20.22 — Nadine Gordimer erzählte vor wenigen Tagen in einem Fernsehgespräch, man habe vor langer Zeit ihren Roman Burger’s Daughter auf geheimen Wegen zu Nelson Mandela ins Gefängnis geschmuggelt. Auf den selben geheimen Wegen sei ihr kurz darauf ein persönlicher Brief Nelson Mandelas übermittelt worden, zeitlebens ein kostbares Dokument. Ich hörte Nadine Gordimers helle Stimme zum ersten Mal. Während ich lauschte und ihr anmutiges Gesicht betrachtete, erinnerte ich mich an den ersten Moment, da ich vor Jahren die Lektüre einer ihrer Erzählungen aufgenommen hatte, Something out There. Ich folgte damals nach wenigen Sätzen dem Wunsch, in der digitalen Sphäre eine Fotografie des Karibasees zu suchen, weil Nadine Gordimer vom künstlichen Gewässer in der Savannenlandschaft erzählte, von Elefanten gleichwohl, die sich in seine Fluten stürzten, um uralten Wanderrouten zu folgen. — Was hatten die ertrinkenden Tiere dort unter dem Wasserspiegel gesehen? — Wovon hatten sie gehört in ihrer letzten Lebenssekunde? — Ich las von der Tiefe des Sees, von Fischen, die in ihm leben sollen, von der Luftfeuchtigkeit und vom Gewicht der Elefantenkörper, von der Biodichte ihrer Körper und von Kulturen in Seenähe siedelnder Menschen. Und während ich so vor mich hin studierte, von Seite zu Seite, von Link zu Link, verging eine Stunde Zeit. Plötzlich erinnerte ich mich an das Buch, das ich neben mir abgelegt hatte, und setzte meine Lektüre fort. — Heute ist Nadine Gordimer gestorben. — stop
1 uhr 18
kilimandscharo : 1.18 — Wie viele Wörter habe ich bisher in meinem Leben ausgesprochen, ohne sie bewusst gedacht zu haben? — stop
geschichte von einem chinareisenden
olimambo : 0.28 — Alles fing damit an, dass M. ein besonderes Schulheft, welches sich seine Tochter wünschte, nicht bezahlen konnte. In dieser Sekunde, da er die Enttäuschung in den Augen des Kindes wahrnehmen musste, entschloss sich der Vater zu handeln. Er rangierte sein kleines Auto aus der Garage, rollte Ersatzreifen und Fahrräder in den Garten, fegte Blätter und Papiere auf die Straße, entfernte Ölflecken und Spinnennetze, dann begann er zu sparen. Er sparte so sehr, dass er mager wurde. Manchmal besuchte er abends nach der Arbeit seine Garage und stellte sich vor, mit welch wunderbaren Waren er sie bald füllen würde. Als er lange genug gespart hatte, 12 Monate und drei Wochen, setzte er sich in ein Flugzeug und reiste nach China. Es war ein Abenteuer, er konnte weder Chinesisch und noch Englisch, er konnte nur die türkische und ein wenig die deutsche Sprache. Am Flughafen wurde er abgeholt von einem Landsmann, den er seit sehr langer Zeit kannte. Sie fuhren aus der Stadt Peking heraus nordwärts nach Yanging, dort besuchten sie eine Fabrik, die DVD-Scheiben produzierte, sie war groß wie eine kleine Stadt. Zwei Tage blieb M. noch in Peking, er besuchte den Platz des himmlischen Friedens, dann flog er zurück nach Europa. Vier weitere Monate später landete ein Container im Hamburger Hafen an. Einhunderttausend DVD-Scheiben, unbespielt, waren im Container enthalten. Zu diesem Zeitpunkt ist das Ende der Geschichte, einer wahren Geschichte, noch vollständig offen. stop. Zwei Uhr achtundzwanzig in Gaza City. – stop
südlich von munsala
MELDUNG. Südlich von Munsala auf der Nordpiste nach Kokkola wurde gegen 5 Uhr am Nachmittag eine Spielkonsole der Sonywerke von einem Schwertransporter überrollt, des weiteren das Lappenkind Pikka, 12 Jahre, 1 Sekunde später. — stop
5 uhr 3
zoulou : 5.03 — Ich erhoffe Demonstrationen auf europäischen Straßen für einen friedlichen Dialog zwischen den Bürgern Israels und den Bürgern Palästinas. Menschen ermutigen, die nicht schiessen, die zuhören, die sprechen wollen. Sie existieren! — stop
im garten
ulysses : 2.28 — Um mir eine Freude zu machen, gehe ich nachts noch in den Garten. Grüne Falter mit hauchdünnen Flügeln sind unterwegs im Dunkeln. Eigentlich können sie überhaupt nicht fliegen wie sie wollen, sondern werden von feinsten Strömungen der Luft dirigiert. Kaum habe ich meinen Mund geöffnet, liegt ein flatternder Körper auf der Zunge. Sie schmecken bitter und sie wehren sich tapfer. Diese Fliegen also, und diese Nacht, sternenklar. Ich steh ganz still, höre einem Flugzeug zu, das südwärts fliegt. Ich warte. Plötzlich ist im Garten jenseits des Zaunes ein Geräusch zu hören. Ein Mann geht gebückt unter Bäumen. Es raschelt. Ich kenne diesen Mann, ich kenne ihn nicht gut, aber ich weiß, dass er bald eine Taschenlampe zücken und in die Knie gehen wird. Er spricht dann, aber so leise, dass ich nichts von den Wörtern hören kann, nicht einmal kann ich sicher sein, dass er Wörter spricht, vielleicht singt er nur vor sich hin, singt während er mit einer Taschenlampe Gräser beleuchtet. Noch vor wenigen Tagen habe ich mich über den Mann gewundert. In dieser Nacht wundere ich mich nicht. Ich habe erfahren, dass der Mann sich bückt mit seinem Licht, um nach Schnecken zu suchen. Ich stellte mir vor, der Mann würde seine Beute in eine seiner Hosentasche stecken. Aber so ist das ganz und gar nicht. Sobald der Mann eine Schnecke findet, zückt er im Licht der Taschenlampe eine Schere und schneidet die Schnecke in zwei Teile, so dass sie sich nicht mehr bewegen kann, weil sie tot ist. Ein lautloser Vorgang, so lautlos, dass ich ihn lange Zeit nicht bemerkte, ja, vielleicht niemals bemerkt haben würde, hätte ich nicht von dem seltsamen Verhalten des Mannes erzählt. Nun weiß ich, warum er sich bückt. Noch zehn Minuten, dann geht er wieder ins Haus zurück und auch ich werde nicht mehr da sein. — stop
stimmen
ulysses : 4.02 — Manchmal, in letzter Zeit, vermag ich mir Stimmen vorzustellen, die ich nicht kenne oder wiederkenne. Stimmen, die ich möglicherweise noch nie zuvor im wirklichen Leben wahrgenommen habe, höre ich deutlich. Das ist merkwürdig vielleicht, weil ich bislang vermutete, in meiner Vorstellungskraft würden nur Stimmen aufgerufen, sofern ich ein bekanntes oder vertrautes Gesicht zur Stimme finden kann. Das Gesicht muss zunächst anwesend sein, dann kann die Stimme mit einem Satz, einem Wort oder einem Lachen folgen. Nun aber Stimmen, die mir fremd sind, Stimmen, die ich erfinde, gemischte Stimmen oder alternde Stimmen. – stop