Particles: August 2014

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vom rotkehlchen

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char­lie : 16.02 — Am 28. Juli 2014 bereits wur­de am Fuße eines Ber­ges im Schat­ten einer Buche eine Rechen­ma­schi­ne gefun­den, in ihren Ver­zeich­nis­sen ein Ord­ner, den der Besit­zer der Rechen­ma­schi­ne Herr Lud­wig L. mit der Bezeich­nung Archiv ver­se­hen hat­te. Es han­delt sich um einen unge­wöhn­lich umfang­rei­chen Ord­ner, 425 Giga­byte groß, in dem 1245 ver­schlüs­sel­te Fil­me ent­hal­ten sein sol­len. Wo sich Herr L. zu die­sem Zeit­punkt befin­det, weiß nie­mand so genau. Er soll sich auf den Weg auf­wärts gemacht haben, zuletzt wur­de er auf moos­be­wach­se­nen Stei­nen eines Bach­bet­tes klet­ternd gese­hen. Er mach­te auf einer Höhe von 872 Metern einen fröh­li­chen Ein­druck, war mit fes­ten Schu­hen, einem gel­ben Ruck­sack, Regen­schirm und Regen­um­hang aus­ge­rüs­tet, einem Seil wei­ter­hin, Kara­bi­nern, sowie einem klei­nen Ham­mer und einem Kom­pass. So jeden­falls wur­de er beschrie­ben von meh­re­ren Zeu­gen, die ihm begeg­net sein wol­len. Sie sagen alle das­sel­be: Der Mann war glück­lich. Ein­mal stand er bis zu den Hüf­ten im kal­ten Was­ser eines Kes­sels, den der Bach gleich­mü­tig in das Gestein des Ber­ges gegra­ben hat­te. Er grüß­te zur Brü­cke hin­auf, Wan­de­rer beob­ach­te­ten ihn. Ein Rot­kehl­chen bade­te in sei­ner Nähe. Forel­len hüpf­ten aus dem Was­ser, glän­zen­de Rücken im Licht der Son­ne, die durch die kar­gen Wip­fel strahl­te. Auf 2105 Metern Höhe begeg­ne­te der Mann einem Hir­ten und sei­nem Hund, dann war er ver­schwun­den. Kei­ner­lei Spur seit­her, auch heu­te nicht, da sich ein Zoll­be­am­ter der Unter­su­chung der zurück­ge­las­se­nen Rechen­ma­schi­ne wid­me­te. Es ist 15 Uhr, Frei­tag. — stop

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josef

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echo : 5.01 — Ich weiß nicht, wie oft ich schon die Trep­pen in Josefs klei­ne Woh­nung gestie­gen bin. Viel­leicht ein­hun­dert­mal in den sieb­ten Stock unters Dach seit er mich mit der Auf­sicht sei­ner Blu­men beauf­trag­te. Als ich ges­tern am spä­ten Abend die Tür hin­ter mir schloss, ent­deck­te ich eine Nach­richt auf dem Anruf­be­ant­wor­ter sei­nes Tele­fons. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Nach­richt viel­leicht abhö­ren soll­te, ich dach­te, eine wich­ti­ge Nach­richt könn­te hin­ter­legt wor­den sein. Also drück­te ich einen Kopf und die Maschi­ne begann alle noch nicht gehör­ten Nach­rich­ten abzu­spie­len, die auf ihr ver­zeich­net und von mir bis dahin nicht bemerkt wor­den waren. Rosie erkun­dig­te sich nach Josefs Ver­bleib, sie waren ver­ab­re­det, Josef nicht gekom­men. Dr. Tau­ber ließ aus­rich­ten, das eine Unter­su­chung für Okto­ber geplant wer­den müs­se, rei­ne Rou­ti­ne, es war inzwi­schen Juni gewor­den. Im Dezem­ber lud Emi­lie Josef zum Weih­nachts­sin­gen in die Schil­ler­schu­le ein, es ging um ihren Enkel, der in den Chor beru­fen wor­den war. Im Janu­ar wur­den zwei Bot­schaf­ten hin­ter­las­sen, je ohne eigent­li­che Nach­richt, ein­mal waren Men­schen­stim­men zu hören, die Sire­ne einer Ambu­lanz, dann eine Stim­me, die in eng­li­scher Spra­che ver­kün­de­te, dass der nächs­te ein­fah­ren­de Zug in Rich­tung Coney Island fah­ren wür­de. Im März wie­der Rosies einer­seits ärger­li­che, ande­rer­seits besorg­te Fra­ge: Josef, wie geht es Dir? Anfang Mai eine wei­te­re Bot­schaft, die nur aus Geräu­schen bestand, ich glau­be, ich hör­te das Dröh­nen eines Schiffs­mo­tors. Ende des Monats war ein Onkel Josefs gestor­ben, man bat ihn zu kom­men, er soll­te spre­chen, wes­we­gen man sich drei Tage spä­ter noch ein­mal erkun­dig­te. Im Juni wie­der Stadt­ge­räu­sche, ein Gewit­ter im Hin­ter­grund, Stim­men in einer Spra­che, die ich nicht kann­te. Die letz­te Auf­nah­me, die ich hör­te, war von einer ganz beson­de­ren Art gewe­sen, Glo­cken waren zu hören, Glo­cken wie sie unter den Häl­sen von Kühen bau­meln. Es war eine sehr lan­ge Auf­nah­me, kurz bevor sie ende­te, Josefs Stim­me: Koh­leralm, Sand­wes­pen­ge­sang. — stop

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moskau

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bamako : 6.55 — Vor einem Schal­ter am Cen­tral­bahn­hof stand eine alte Dame mit einem Kof­fer, den sie hin­ter sich her­zie­hen konn­te. Sie trug ein blau­es Hüt­chen auf dem Kopf, und sie war grell geschminkt und lach­te. Auf den ers­ten Blick schien sie fröh­lich zu war­ten wie ihr klei­ner Kof­fer, auf den zwei­ten Blick aller­dings war zu sehen, dass sie nicht nur war­te­te, son­dern bewacht wur­de von einer wei­te­ren, sehr viel jün­ge­ren Frau und einem Mann, der die Uni­form der Bahn­ge­sell­schaft trug. Wie Säu­len stan­den sie links und rechts der alten Dame, die jun­ge Frau hat­te über­dies die Hand­ta­sche der Bewach­ten an sich genom­men, um sie zu durch­su­chen. Eine ihrer Hän­de wühl­te so hef­tig in der Tasche her­um, dass ein Rascheln weit­hin zu ver­neh­men war. Sie forsch­te ein oder zwei Minu­ten in die­ser wil­den Art und Wei­se. Weil sich aber in der Bör­se der alten Dame kein Doku­ment zur Iden­ti­fi­zie­rung auf­spü­ren ließ, schüt­tel­te sie den Kopf, beug­te sich noch ein­mal her­ab, sprach lei­se zu der alten Dame hin, um sich kurz dar­auf an einen Schal­ter zu wen­den. Dort saß hin­ter spie­geln­dem Glas ein Schat­ten, der ein Mikro­fon an sei­nen Mund führ­te, kurz dar­auf war eine war­me, melo­di­sche Stim­me zu hören, die durch die Bahn­hofs­hal­le schall­te, sie sag­te: Ach­tung! Wir bit­ten um ihre Auf­merk­sam­keit, vor dem Infor­ma­ti­ons­schal­ter Gleis 24 war­tet ein Per­so­nen­fund­stück. Bit­te mel­den sie sich! — Die­se Geschich­te ereig­ne­te sich ges­tern am frü­hen Abend, kurz bevor der Fern­zug aus Mos­kau via War­schau den Bahn­hof erreich­te. Auf dem Bahn­steig war­te­ten vie­le Men­schen. Man­che hiel­ten Blu­men in ihren Hän­den. Ande­re foto­gra­fier­ten. — stop

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heliumzeit

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echo : 2.55 — Am Abend besu­che ich Lou­is in sei­ner Küche unterm Dach, Duft von Zimt und war­mem Brot, in einer Lam­pe sirrt eine Wes­pe her­um. Auf dem Küchen­tisch sta­peln sich Ton­band­spu­len, 528 klei­ne Kas­set­ten, die beschrif­tet sind: No 24 — Café Mozart 8 Mai / Lau­ra — Über Lun­gen­flü­gel : 1 Stun­de 25 Minu­ten. Oder: No 48 — Bota­ni­scher Gar­ten 5. Juni / Sebas­ti­an — Herz­be­trach­tun­gen : 2 Stun­den 3 Minu­ten. Ich sehe Lou­is wie er vor dem Tisch sitzt. Er ist alt gewor­den. Eine Schreib­ma­schi­ne ruht unweit der Spu­len. Es ist eine Hew­lett Packard mit einem Bild­schirm, sehr gro­ße Schrift­zei­chen, weil Lou­is nicht mehr gut sieht. Ein Satz ist dort zu lesen: Die Augen gehen auf, aber nie­mand sieht einen an. Ich höre Stim­men, sehr hel­le Stim­men. Stim­men in etwa so, wie sie klin­gen, wenn ein Mensch spricht, der Heli­um atmet. Lou­is sagt, das kom­me davon, dass er sei­ne Ton­band­ma­schi­ne schnel­ler lau­fen las­se, beschleu­nig­te Zeit, aus einer Stun­de des Spre­chens wür­de eine hal­be Stun­de, aus einem lan­gen Schwei­gen ein kür­ze­res Schwei­gen. So, sagt Lou­is, ist das viel­leicht zu schaf­fen in die­sem Som­mer, wenn ich nicht schla­fe bis Ende Sep­tem­ber. — stop

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herzgeschichte

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tan­go : 5.12 — In der ver­gan­ge­nen Nacht hör­te ich eine Ton­auf­nah­me, die vor eini­gen Jah­ren wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges an der Isar in Mün­chen auf­ge­zeich­net wur­de. Ein herbst­li­cher Tag. Das Rau­schen des Flus­ses, bis­wei­len tosen­de Geräu­sche, wie ein wei­te­res Gespräch im Hin­ter­grund. Und Hun­de, und Gitar­ren­mu­sik immer wie­der, und Schrit­te, nicht die Schrit­te der zwei Gehen­den vor dem Mikro­fon, son­dernd Schrit­te ent­ge­gen­kom­men­der Pas­san­ten. Wir unter­hal­ten uns über Arme und Bei­ne, Mus­keln, Seh­nen, Ner­ven­strän­ge. Ein­mal beginnt es zu reg­nen, auf­schla­gen­de Trop­fen sind auf Schir­men deut­lich zu hören. Aber wir ver­lie­ren kein Wort über den Regen. Die jun­ge Frau, die an mei­ner Sei­te wan­dert, spricht sehr lang­sam, macht lan­ge Pau­sen, manch­mal scheint sie nicht mir, son­dern dem Was­ser zuzu­hö­ren. Immer wie­der erkun­digt sie sich, ob das gut so sei, was sie sage, ob ich eine Geschich­te dar­aus machen kön­ne. Sie will nicht, dass ich ihren Namen wie­der­ge­be: Nenn mich ‘jun­ge Frau’ oder nenn mich ‘Stu­den­tin’. Manch­mal sei sie müde, sagt sie, weil sie bis spät in der Nacht als Platz­an­wei­se­rin in einem Kino arbei­te. Sie sei so müde, dass sie ein­mal im Prä­pa­rier­saal am Tisch bei­na­he ein­ge­schla­fen wäre. Das Skal­pell sei ihr aus der Hand gerutscht und zu Boden gefal­len, da sei sie gera­de noch recht­zei­tig wie­der ganz wach gewor­den. Der Job wäre aber sehr prak­tisch, weil sie in den Zei­ten der lau­fen­den Fil­me, manch­mal ler­nen kön­ne, sie füh­re ihren Taschen­at­las immer in ihrer Hand­ta­sche mit sich, Noti­zen und das Skript. Als Kind habe sie ihren Eltern gesagt, dass ihr Herz nicht dort schla­gen wür­de, wo es bei den ande­ren Kin­dern üblich wäre. Sie fühl­te ihr Herz immer auf der rech­ten Sei­te schla­gen. Nie­mand habe sie ernst genom­men. Nicht ein­mal ihr ers­ter liebs­ter Freund habe ihr zuge­hört, und auch nicht ihr zwei­ter Freund, der immer an der fal­schen Stel­le sein Ohr an ihre Brust gelegt habe. Der drit­te Freund war ein Medi­zi­ner gewe­sen, ein Stu­dent, der habe end­lich nicht nach ihr, son­dern auch nach ihrem Her­zen an der rich­ti­gen Stel­le gesucht. Er habe gesagt: Ein Situs inver­sus, eine Norm­ab­wei­chung. In die­ser Sekun­de habe sie beschlos­sen, Ärz­tin zu wer­den. — stop

polaroidleuchttierchen

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mr. ruby

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sier­ra : 0.02 — Eine Dach­woh­nung im 32. Stock eines Hau­ses an der Madi­son Ave­nue. Auf­zü­ge fah­ren nur noch bis zum 20. Stock, das Gebäu­de scheint lang­sam zu ver­fal­len, irgend­je­mand will Rat­ten in der 15. Eta­ge gese­hen haben. Der Bewoh­ner des klei­nen Habi­tats, ein Mann von 72 Jah­ren, geht kaum noch vor die Tür. Er kann sich glück­li­cher­wei­se einen Boten leis­ten, der sei­ne Hem­den und Hosen zur Rei­ni­gung bringt, Ein­käu­fe erle­digt, Post aus dem Brief­kas­ten holt, sei­nen Kühl­schrank füllt. Zudem geniesst er einen groß­ar­ti­gen Aus­blick auf die Stadt. Vor den Fens­tern der Woh­nung war­ten Tele­sko­pe, die wie grö­ße­re Stelz­jagd­vö­gel auf lan­gen Bei­ne ste­hen. Es geht ihm nicht dar­um, in der Nacht heim­lich Men­schen zu betrach­ten, in Woh­nun­gen zu spä­hen, wie man viel­leicht mei­nen möch­te, nein, es geht dar­um das Licht zu beob­ach­ten, dort wo zu viel Licht ist, wo man ver­säum­te, das Licht aus­zu­schal­ten. Zum Bei­spiel am ver­gan­ge­nen Sams­tag, da brann­ten in einem Gebäu­de der Hafen­be­hör­de Höhe 48. Stra­ße im sechs­ten Stock noch ein paar Bir­nen. Unver­züg­lich wur­de von der Madi­son Ave­nue aus ein Tele­fon­ge­spräch geführt: Hal­lo, guten Abend, hier Ruby, spre­che ich mit Mr. Bale, oh, lei­ten sich mich doch bit­te an die Haus­ver­wal­tung wei­ter! Kurz dar­auf sehe ich Ruby nach Süd­wes­ten spä­hen. Ich bemer­ke ihn über­haupt zum ers­ten Mal in vol­ler Grö­ße. Ein klei­ner Mann, der immer einen Hut trägt, einen Came­ron Pork Pie, mehr­fach gewa­schen, ich kann nicht sagen, war­um ich das weiß. Ich seh ihn genau, er ist bar­fuss, sei­ne Kon­tur, sei­nen Umriss, fast bewe­gungs­los vor dem Licht­meer der gro­ßen Stadt ste­hen. Und ich hör ihn seuf­zen als im 8. Stock der Hafen­be­hör­de das Licht erlischt, eines nach dem ande­ren, Zim­mer für Zim­mer. Und schon wech­selt er das Fens­ter und späht wie­der in die Stadt hin­aus. Stadt­plä­ne lie­gen auf dem Boden der Woh­nung her­um. Es ist kurz vor Mit­ter­nacht. Ein Fracht­schiff fährt den Hud­son her­auf. Natür­lich scheint die­se Geschich­te aus sehr unter­schied­li­chen Grün­den nicht mög­lich zu sein. Ers­ter Ver­such. — stop

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shanghai

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india : 6.52 — Haru­ki, der in einer klei­nen euro­päi­schen Stadt zu Hau­se ist, erzähl­te eine Geschich­te, die ich kaum glau­ben moch­te. Schon sein Name schien selt­sam zu sein. Er habe, sag­te er, manch­mal das Bedürf­nis, mit­ten in der Nacht zu tele­fo­nie­ren. Nicht weil er fürch­te, ster­ben zu wol­len, son­dern weil er glück­lich sei, wenn er ein­fach nur los erzäh­len kön­ne, wenn ihm sei­ne Wor­te von einem auf­merk­sa­men Ohr sozu­sa­gen aus dem Mund gezo­gen wür­den. Genau die­ses Bild eines Ohres habe er vor Augen, sobald er sich an wun­der­ba­re Gele­gen­hei­ten erin­ne­re, als er im Erzäh­len Geschich­ten ent­deck­te, die ihm ohne die­se Art des Spre­chens nie­mals ein­ge­fal­len wären. Lei­der wür­de ihm inmit­ten der Nacht nie­mand mehr zuhö­ren, Men­schen, die er per­sön­lich ken­ne, eil­ten längst nicht mehr ans Tele­fon, wenn er sich bei ihnen mel­de. Er habe des­halb ande­re, wild­frem­de Men­schen ange­ru­fen, die sich bei ihm beschwer­ten, ob er denn noch bei Ver­stand sei. Das war der Grund gewe­sen, wes­we­gen er vor weni­gen Wochen damit begon­nen habe, Ruf­num­mern in Über­see zu kon­tak­tie­ren. Es mel­de­ten sich dort Men­schen, die Haru­ki in eng­li­scher, fran­zö­si­scher, chi­ne­si­scher oder spa­ni­scher Spra­che begrüß­ten. Sobald die Stim­me eines Men­schen hör­bar wur­de, begann Haru­ki zu erzäh­len. Er for­mu­lier­te in einer so hohen Geschwin­dig­keit, dass er sich selbst kaum noch ver­ste­hen konn­te. 15 Minu­ten, län­ger durf­te ein Gespräch mit Shang­hai nicht dau­ern. Manch­mal ver­neh­me er Stim­men von der ande­ren Sei­te her, hel­le Stim­men, zit­tern­de, wis­pern­de Töne, wes­halb er das Tele­fon­ge­rät ein wenig von sei­nem Ohr ent­fer­ne, ohne indes­sen zu ver­stum­men. Nach 15 Minu­ten ver­ab­schie­de er sich. Er sage dann: Gute Nacht! — stop

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thessaloniki

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sier­ra : 6.24 — In Thes­sa­lo­ni­ki, am ver­gan­ge­nen Frei­tag, wur­de von Pas­san­ten beob­ach­tet, wie eine Frau, Groß­mutter, im Alter von 76 Jah­ren nahe des zen­tra­len Bus­bahn­ho­fes von einer Brü­cke sprang. Ist das eine Nach­richt? — stop
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ai : ASERBAIDSCHAN

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MENSCH IN GEFAHR : “Der Gesund­heits­zu­stand der aser­bai­dscha­ni­schen gewalt­lo­sen poli­ti­schen Gefan­ge­nen Ley­la Yunus hat sich ver­schlech­tert, die Gefäng­nis­be­hör­de ver­wei­gert ihr jedoch die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung. Ihr Ehe­mann Arif Yunus wur­de am 5. August fest­ge­nom­men. Sie fühlt sich schwach und hat star­ke Schmer­zen. Zudem lei­det sie an Dia­be­tes und Nie­ren­pro­ble­men. Lei­la Yunus benö­tigt des­halb eine ange­mes­se­ne medi­zi­ni­sche Behand­lung sowie spe­zi­el­le Kost. / Die Gefäng­nis­be­hör­de der Haft­ein­rich­tung in Kurd­ak­ha­ny in der Nähe der Haupt­stadt Baku hat sich gewei­gert, Lei­la Yunus ins Kran­ken­haus ein­zu­wei­sen und ver­wei­gert ihr eine ange­mes­se­ne medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung. Zudem ver­zö­gern sie die erfor­der­li­che Abwick­lung von For­ma­li­tä­ten für den Erhalt benö­tig­ter Medi­ka­men­te. / Lei­la Yunus war am 30. Juli auf der Grund­la­ge kon­stru­ier­ter Ankla­gen, die ihr Hoch­ver­rat und ande­re Ver­bre­chen zur Last legen, fest­ge­nom­men wor­den. Ihrem Ehe­mann Arif Yunus sind Rei­se­be­schrän­kun­gen auf­er­legt wor­den. Am 5. August wur­de er wegen ähn­li­cher Vor­wür­fe fest­ge­nom­men. / Amnes­ty Inter­na­tio­nal betrach­tet Lei­la und Arif Yunus als gewalt­lo­se poli­ti­sche Gefan­ge­ne, die allein des­halb in Haft sind, weil sie Kri­tik an der aser­bai­dscha­ni­schen Regie­rung geübt hat­ten.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 23. Sep­tem­ber 2014 hin­aus, unter »> ai : urgent action

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herr bisaso

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hima­la­ya : 2.08 — Jeden Mor­gen, im Früh­ling oder im Som­mer, Herbst oder Win­ter, erscheint Herr Bisaso gegen 4 Uhr am Ter­mi­nal 1 des Frank­fur­ter Flug­ha­fens. Er trägt eine graue Hose, ein dun­kel­blau­es Hemd, eine gel­be Kra­wat­te und ein Schild­chen, auf dem das Wort SECURITY zu lesen steht, außer­dem ein Stäb­chen von etwa 1 Meter 50 Län­ge, das er in der rech­ten oder lin­ken Hand mit sich zu füh­ren pflegt. Das Stäb­chen scheint aus Bam­bus­rohr gemacht, an sei­ner Spit­ze sitzt eine wei­che Bee­re von Leder und Samt, die von Herrn Bisaso ver­mut­lich höchst­per­sön­lich dort ange­bracht wor­den war. Der alte Mann ist von statt­li­cher Erschei­nung, bei­na­he zwei Meter groß, er wur­de in Mom­ba­sa gebo­ren, lebt aber schon lan­ge Zeit, Jahr­zehn­te, in Euro­pa. Blitz­blan­ke, schwar­ze Schu­he. Auf die­sen Schu­hen macht er sich nun auf sei­nen mor­gend­li­chen Weg, der ihn über das Ter­mi­nal 1 zum Ter­mi­nal 2 und wie­der zurück füh­ren wird. Ich sehe ihn, wie er sich umsieht und pfeift, er scheint fröh­lich zu sein, er liebt den Mor­gen und viel­leicht auch sei­ne Arbeit, sei­nen Auf­trag. In die­ser Wei­se, lei­se pfei­fend, nähert er sich einer Bank, auf wel­cher ein Mann liegt, der schläft. Das Hemd des Man­nes ist ver­rutscht, sein Bauch zu sehen, auch sind sei­ne Schu­he zu Boden gefal­len. Es riecht ein biss­chen bit­ter in der Luft. Behut­sam berührt Herr Bisaso den Mann mit jenem wei­chen Bee­re­n­en­de sei­nes Bam­bus­zei­gers an der Schul­ter, und schon fährt der Mann hoch aus einem Traum, reibt sich die Augen, fuch­telt dann mit den Hän­den, und beginnt laut zu schimp­fen. Guten Mor­gen! ent­geg­net Herr Bisaso mit tie­fer Stim­me. Er steht ganz ruhig und war­tet bis der noch halb­wegs Schla­fen­de auf­ge­stan­den ist. Jetzt ist er zufrie­den. Er schlen­dert zur nächs­ten Bank, die zum Nacht­la­ger einer jun­gen Frau gewor­den ist, auch sie scheint ein wenig bit­ter zu rie­chen und ohne Kof­fer zum Flug­ha­fen gekom­men zu sein. Bald steht auch sie, reibt sich die Augen, betrach­tet den gro­ßen Mann und sein Stäb­chen, das Herr Bisaso noch nicht sehr lan­ge Zeit mit sich führt. Fol­gen­de Nach­richt wäre vor weni­gen Wochen noch mög­lich gewe­sen. MELDUNG: Von 4 bis 5 Uhr wur­den in den Ter­mi­nals des Frank­fur­ter Flug­ha­fens 87 Per­so­nen, die auf Sitz­ge­le­gen­hei­ten ruh­ten, von Mr. Bisaso geweckt. Er muss­te des­halb 2 Trit­te, eine Umar­mung, alle­samt unwill­kür­lich, aber nur zwei Ohr­fei­gen ent­ge­gen­neh­men. — stop

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ohne radioradar

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nord­pol : 1.55 — Eine stil­le Arbeits­nacht. Auf dem Tisch in der höl­zer­nen Küche unterm Dach sta­peln sich Ton­spu­len, die ich nach Zeit­punkt der Auf­nah­me oder den Namen der Per­so­nen, die ich befrag­te sor­tier­te: Katin­ka 1 — 3. Vor weni­gen Minu­ten war ich kurz ein­ge­schla­fen, ohne vom Stuhl zu fal­len. Balan­ce scheint mög­lich zu sein, oder ich habe nicht sehr tief geschla­fen. Als ich erwach­te, saß Esme­ral­da vor mir auf dem Tisch. Sie betrach­te­te mich. Ihre Füh­ler­au­gen beweg­ten sich äußerst lang­sam auf und ab. Dann setz­te sie sich in Bewe­gung, wen­de­te sich einer Bana­ne zu, die auf dem Tel­ler lag, dort schien sie bald ein­ge­schla­fen zu sein. Ich kann sie der­zeit berüh­ren, ihren schim­mern­den Leib, sie flüch­tet nicht, sie ist kühl und sie riecht nach Eisen und Regen und etwas nach Salz. Ges­tern hat­te ich mich wie­der ein­mal gefragt, ob Esme­ral­da viel­leicht in der Lage sei, zu hören. Ich mach­te mich sofort auf den Weg zum Com­pu­ter, um nach­zu­for­schen, ob Schne­cken über ein Gehör ver­fü­gen. Dann klin­gel­te das Tele­fon, eine Stun­de spä­ter erin­ner­te ich mich, dass ich nach den Ohren der Schne­cken fra­gen woll­te. Heu­te aber ist so eine Nacht, da ich nichts wis­sen will, auch nicht ob Esme­ral­da hören kann wenn ich pfei­fe oder spre­che. In mei­ner Nähe, sie schla­fen ver­mut­lich gera­de, exis­tie­ren Per­so­nen, die nichts ahnen vom Mor­den in der Ukrai­ne, von Viren, die in Afri­ka Men­schen befal­len, von Flücht­lin­gen, die durch das Sing­schar — Gebir­ge irren. Sie lesen kei­ne Zei­tung, sie besit­zen weder Radio noch Fern­seh­ge­rät, aber sie lesen Bücher, die sich immer sehr weit hin­ter der Jetzt­zeit bewe­gen. — stop

nach­rich­ten von esmeralda »
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von schnecken

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lima : 4.15 — Ob es viel­leicht mög­lich ist, mensch­li­chen Gehir­nen Pro­gram­me zu ent­wi­ckeln, die Com­pu­ter­such­ma­schi­nen ähn­lich sind? Pro­zes­so­ren, zum Bei­spiel, die in der Lage wären, mit mei­nem Gehirn zu spre­chen, mein Gehirn anzu­re­gen, sei­ne Regis­ter nach Schne­cken­ge­schich­ten zu durch­su­chen. Wann also sind in mei­nem Leben Schne­cken vor­ge­kom­men, in wel­cher Gestalt, in wel­chem Auf­trag, wel­cher Art waren die Schne­cken gewe­sen, die mir begeg­ne­ten? Vor weni­gen Tagen noch hat­te ich Schne­cken­ge­schich­ten gesam­melt, so wie ich sie ohne gro­ße Anstren­gung in mir fin­den konn­te. Es waren vie­le Geschich­ten, aber ich könn­te zu die­sem Zeit­punkt nicht mit Sicher­heit sagen, ob mei­ne Erin­ne­rung voll­stän­dig gewe­sen ist, ob mein Kata­log auch nur annä­hernd alle wesent­li­chen Schne­cken­be­geg­nun­gen mei­nes Lebens in sich ver­sam­melt. — stop

polaroidlucy

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wanda

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del­ta : 0.18 — Wie Wan­da gera­de wie­der ein­mal glück­lich ist, weil ihm sein Freund Joseph ein Buch Peter Nadas’ schenk­te, 1305 Sei­ten: Das Buch der Erin­ne­rung. Wenn man das Buch in die Hand nimmt, wird man ver­mut­lich sagen: Das ist ein schwe­res Buch. Das Papier scheint dünn zu sein, auch die Schat­ten der Buch­sta­ben sind gut zu erken­nen, so dünn sind die Sei­ten des Buches, dass das Licht sie zu durch­drin­gen ver­mag. Wan­da hat das sofort bemerkt. Seit­her nimmt er jede Sei­te, ehe er zu lesen beginnt, zärt­lich zwi­schen sei­ne Fin­ger, fährt ihre Rän­der ent­lang, legt kurz dar­auf ein Blatt Papier auf einen Tisch, der sein per­sön­li­cher Tisch ist, spitzt einen Blei­stift und notiert einen wei­te­ren Satz des Buches der Erin­ne­rung. Sehr klei­ne, wun­der­ba­re Schrift­zei­chen, akku­rat gesetzt. Sobald Wan­da am Ende des Sat­zes ange­kom­men ist, hält er inne, um jedes nie­der­ge­leg­te Wort Zei­chen für Zei­chen zu prü­fen: … hat­te ich schon Buda­örs erreicht, der Weg dort­hin war lang, kur­ven­reich und dun­kel gewe­sen, eine Art Steil­pfad führ­te hin­un­ter in die Ebe­ne ein umge­pflas­ter­ter Gra­ben mit gefro­re­nen Wagen­spu­ren, auf bei­den Sei­ten das dich­te Spa­lier hoch­auf­ge­schos­se­nen Gestrüpps … So arbei­tet Wan­da Stun­de um Stun­de vor­an, er beginnt am Mor­gen um kurz nach Acht, mit­tags schläft er von Eins bis Drei, Punkt sechs Uhr abends schließt er das Buch und löscht das Licht über dem Tisch. Vor­sich­tig ver­lässt er den Saal, er kann kaum noch sehen. Er sagt, er mache noch die­ses eine Buch, aber das hat er schon oft gesagt, sei­nem letz­ten Buch folg­te ein wei­te­res letz­tes Buch, das ihm Joseph schenk­te. Joseph ist ein Guter unter den Men­schen. Joseph sagt: Solan­ge Du Bücher notierst, solan­ge Du arbei­test, wird Dich nie­mand fra­gen.. — stop
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zehn sekunden parrini

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sier­ra : 0.28 — Vor weni­gen Tagen, am Don­ners­tag, erreich­te mich eine E‑Mail von Herrn Par­ri­ni. Ich ken­ne ihn nicht per­sön­lich, er soll gera­de 50 Jah­re alt gewor­den sein. Er habe mei­ne Geschich­te Shang­hai gele­sen, die ich vor zwei Wochen sen­de­te, sie habe ihm gut gefal­len, sie habe ihn berührt, per­sön­lich, obwohl er kaum zum Lesen kom­me, weil er einer sei, der von mor­gens bis abends ger­ne erzäh­len wür­de, er habe das so gelernt, er wie­der­ho­le sich oft, erzäh­le nur damit es nicht still wird, das war schon immer so, er spre­che sogar zu sich selbst stun­den­lang, auch im Schlaf gebe er kei­ne Ruhe, er woll­te gern ein schwei­gen­der Mensch sein, das Schwei­gen ler­nen, aber er wüss­te nicht wie das jemals mög­lich sein könn­te, nach­dem er nun seit bald 45 Jah­ren unauf­hör­lich gespro­chen habe, gan­ze Aben­de habe er sei­ne Freun­de unter­hal­ten, bis sie flüch­te­ten, und in der Schu­le, muss­te er in der Ecke sit­zen, weil er den Mund nicht hal­ten moch­te, dort habe er selbst­ver­ständ­lich wei­ter­ge­spro­chen, mit der Wand oder mit dem Echo sei­ner eige­nen Stim­me bis er vor die Tür geschickt wor­den sei, wo er im Flur auf und ab spa­zier­te immer wei­ter spre­chend, bis er hei­ra­te­te, bis er wie­der allein gewe­sen war, bis er die Ber­ge ent­deck­te, da konn­te ihn kei­ner hören, oder nur sel­ten, oder nur Kühe, wes­we­gen er sehr ger­ne in den Ber­gen wan­de­re, er höre sich nicht, wenn er spre­che, als ob sei­ne Ohren sich wie die Ohren der See­hun­de ver­schlös­sen sobald sie tauch­ten, ja, spre­chen wie tau­chen, er wür­de nicht bemer­ken wenn er spre­che, er kön­ne ent­we­der spre­chen oder schwei­gen, kein ein­zi­ges Wort, sonst geht es wie­der los, kein ein­zi­ges Wort, nicht ein­mal einen Gedan­ken, nichts, aber das Schwei­gen müss­te erst ein­mal mög­lich gewor­den sein, eine Sekun­de wirk­li­ches Schwei­gen, nicht Schwei­gen, nur um Luft zu holen, son­dern wirk­lich nicht spre­chen, atmen, schau­en, hören. — stop 

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kleine anatomische geschichte

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echo : 5.01 — Ges­tern ist mir wie­der ein­mal etwa Selt­sa­mes mit mir selbst pas­siert. Ich beob­ach­te­te im Spie­gel ein Augen­lid, das flat­ter­te. Ich war noch nicht lan­ge wach gewe­sen. Als sich das Augen­lid beru­higt hat­te, bemerk­te ich, dass auch ein klei­ner Mus­kel an mei­ner lin­ken Wan­ge beb­te und ich über­leg­te, wel­cher Mus­kel das genau sein könn­te. In die­sem Moment erin­ner­te ich mich an eine klei­ne Geschich­te, die ich vor weni­gen Jah­ren in einem Café erleb­te. Eine Freun­din saß mir gegen­über. Wir spra­chen über dies und das. Plötz­lich beschwer­te sie sich, ich wür­de sie so selt­sam anse­hen. Tat­säch­lich hat­te ich Bewe­gun­gen ihres Gesich­tes beob­ach­tet in den Momen­ten genau, da sie sprach oder lach­te. Es war ein unwill­kür­li­cher Blick unter die Haut gewe­sen, ein sozu­sa­gen ana­to­mi­scher Blick, der sie irri­tier­te, ohne zu wis­sen wes­halb genau. Sie mein­te, ich wür­de ihr nicht zuhö­ren, son­dern träu­men. In die­sem Moment wur­de deut­lich: Sobald ich einen Men­schen in ana­to­mi­scher Wei­se betrach­te, wird mein Blick in den Augen des Betrach­te­ten kein schar­fer Blick sein, wie man viel­leicht erwar­ten wür­de, son­dern ein unschar­fer Blick, eine Gren­ze über­schrei­tend, phan­ta­sie­rend. — stop
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lego

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tan­go : 6.28 — Ein­mal träum­te ich, wie ich in einem hell beleuch­te­ten Saal auf dem Boden sit­ze und einen mensch­li­chen Kör­per, auch sei­ne kleins­ten Struk­tu­ren, mit­tels Lego­stei­nen nach­bil­de. Ich arbei­te­te dort bereits seit über 200 Jah­ren. Weil sich ein Fin­ger der Modell­ge­stalt beweg­te, wach­te ich auf. — stop

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rußland

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tan­go : 7.01 — War­um ver­mag ich die Bewe­gung mei­nes Her­zens in der Brust nicht zu spü­ren? — Umge­ben­de Wör­ter: Sinus­kno­ten Lager­be­we­gung Tha­la­mus. Herz­flim­mern. Rasen­der Still­stand. ~ Ein Gespens­ter­we­sen, Russ­land, mei­ner Kind­heit ist längst zurück­ge­kehrt. Gedan­ken, wie zur Beru­hi­gung, an Lew Sino­wje­witsch Kope­lew, Jele­na Geor­gi­jew­na Bon­ner, And­rei Dmit­ri­je­witsch Sacha­row, Anna Ste­pano­wa Polit­kows­ka­ja. — stop

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zenobe inc.

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MELDUNG. Von 3.00 bis 4.30 Uhr aus­ge­raubt wur­den bereits in der Nacht zum Frei­tag Zen­tral­la­ger fol­gen­der Fir­men: Mor­se & Co [ Lon­don ] sowie Zen­obe inc. [ Buda­pest ]. 3870 Model­le der Dampf­lo­ko­mo­ti­ven­gat­tun­gen DR 4137 sowie DR 4105 wer­den ver­misst, auch Gelei­se sowie Signal­an­la­gen [ Deut­sche Reichs­bahn ] : 18 Kilo­me­ter HO [ 15.008 Kar­tons ]. — stop
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