sierra : 0.55 — Wenn man einen Zungenkäfer aus der Nähe betrachtet, wird man vielleicht staunend innehalten, wird sagen: Dieser Käfer, dieses vierflüglige Wesen, könnte kürzlich noch eine menschliche Zunge gewesen sein, sie scheint aus einem Mund herausgefallen zu sein. Sofort machen sich weitere Gedanken bemerkbar. Was wäre, wenn die Zunge heimlich im Mund eines Menschen zu einem Käfer wurde, der in einem günstigen Moment, eine sprachlose Person hinterlassend, das Weite suchte. Oder ist es vielleicht möglich, dass es sich bei der Gattung der Zungenkäfer um Erfindungen handelt, die nur deshalb existieren, weil man wünscht Zungen zu ernten. So genau wird es sein, denn Zungenkäfer, ich habe sie während der vergangenen Nacht eine Stunde lang eingehend beobachtet, sind nicht wirklich in der Lage, sich in die Luft zu erheben, zu flüchten, also in den Himmel aufzusteigen und auf und davonzufliegen. Sie liegen vielmehr auf dem Boden herum, oder auf einem Tisch, und brummen mit den Flügeln, die nicht größer als Flügel der Marienkäfer ausgestaltet sind. — stop
Particles: Oktober 2014
katta
papa : 02.08 — Ich beobachtete, dass ein kleiner Affe, sobald ich mich mit der linken Hand stoßartig von oben kommend näherte, diese linke Hand als einen Raubvogel betrachtete, vor dem er hupend und fauchend mit geblecktem Gebiss rückwärts über den Tisch gehend die Flucht ergriff, ohne sich an meiner rechten Hand zu stören, die in nächster Nähe mit seinen Sultaninen spielte. Derart gründlich habe ich mit meinen Händen auf dem Tisch das Jagen und Sammeln geübt, dass ich sie von Zeit zu Zeit als zwei separate Lebewesen betrachten kann. Wenn ich meine linke Hand mit meiner rechten Hand berühre, durchbreche ich einen Spiegel. Wenn ich sage, meine Hand ohne Haut, habe ich in meinem Kopf ein Bild zur Verfügung, das sich bewegen lässt. Wenn ich sage, meine schlafenden Hände, spreche ich von Händen, die ich nie gesehen habe. Gerade eben noch habe ich eine Apfelsine geschält. Während ich meine Hände beobachtete, wie sie geschickt die Kerne der Frucht voneinander trennten, ohne dass ich ihnen genauere Anweisungen geben musste, dachte ich darüber nach, wie viele Apfelsinen diese Hände in ihrem Leben bereits geschält haben könnten. — Drei Uhr zwölf in Kobani, Syria. — stop
telefon
echo : 1.35 — Wie merkwürdig, dass ich vor wenigen Stunden noch daran dachte, ein Telefonbuch der Stadt Kobane zu suchen, eine Nummer zu notieren, um sie anzuwählen. Es existieren im Internet keine Telefonbücher der Stadt Kobane, die ich entziffern könnte. — Mitten in der Nacht. Nichts zu hören. — stop
vor dem bildschirm
echo : 6.22 — Würde ich in dieser Minute aus meiner Haut fahren, sagen wir, oder mit einem Auge meinen kleinen Körper verlassen und etwas in der Zeit zurückreisen, dann könnte ich mich selbst beobachten, einen Mann, der an einem Abend in der Küche steht, einen Mann, der Tee kocht, er spricht mit sich selbst. Er sagt: Heute machen wir das, heut ist es richtig. Ein Bündel Melisse zieht durchs flimmernde Wasser, bald trägt der Mann eine dampfende Tasse durch den Flur ins Arbeitszimmer. Er schaltet seine Schreibmaschine an, sitzt auf einem Gartenstuhl vor einem Bildschirm und arbeitet sich durch elektrische Ordner in die Tiefe seiner Verzeichnisse voran. Eine Viertelstunde steh ich hinter ihm und seh ihm zu. Dann erhebt sich der Mann, er steht jetzt zwei Meter vom Bildschirm entfernt und wartet. Der Bildschirm ist aus der Entfernung gesehen handlicher geworden, ein kleines Fenster von Licht. Dort kniet ein Mensch auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürchtet. Eine Stimme ist zu hören, eine schrille Stimme. Sie spricht scheppernd Sätze in arabischer Sprache, unerträglich diese Geräusche. Der Mann vor dem Schreibtisch tritt einen weiteren Schritt zurück. Er scheint flüchten zu wollen. Zwei Finger seiner rechten Hand formen einen Ring, er hält ihn vor sein linkes Auge, während das rechte Auge geschlossen bleibt. So verharrt er, leicht gebeugt, bewegungslos, zwei Minuten, drei Minuten. Einmal ist sein Atem zu hören, heftig. Kurz darauf steht der Mann wieder in der Küche, er lehnt mit dem Rücken am Kühlschrank, denkt, dass es schneit und spürt Unruhe, die lange Zeit in dieser Heftigkeit nicht zu wahrzunehmen gewesen war. Ein Mensch, Daniel Pearl, wurde zur Ansicht getötet. Was machen wir jetzt? — stop / Koffertext 12 Feb. 2010 : In diesen Tagen sprechen die Mörder der IS englische Sprache.
ai : INDONESIEN
MENSCHEN IN GEFAHR : “Am 27. September verabschiedete das Parlament von Aceh das islamische Strafgesetz für die Provinz Aceh (Qanun Hukum Jinayat) auf Grundlage der Scharia. Darin sind unter anderem bis zu 100 Stockschläge für gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen und vor- sowie außereheliche sexuelle Beziehungen (“Ehebruch”) vorgesehen. Das Gesetz sieht die Prügelstrafe zudem für eine Reihe weiterer Vergehen vor, wie z. B. Alkoholkonsum, Glücksspiel, “Alleinsein mit einer oder einem Angehörigen des anderen Geschlechts, der oder die kein(e) Ehepartner_in oder Verwandte® ist” (khalwat), sexuelle Misshandlung, Vergewaltigung, außerehelicher Austausch von Zärtlichkeiten sowie Beschuldigung einer Person, Ehebruch begangen zu haben, ohne aber vier Zeugen vorweisen zu können. Es wird zudem befürchtet, dass die Vorschriften zur Beweislast in Fällen von Vergewaltigung und sexueller Misshandlung nicht den internationalen Standards entsprechen. Das islamische Strafgesetz der Provinz Aceh ist auf in der Provinz wohnhafte Muslime anwendbar. Jedoch könnten auch Nichtmuslime unter dem Gesetz verurteilt werden, wenn es um Vergehen geht, die nicht im indonesischen Strafgesetzbuch geregelt sind. /Das islamische Strafgesetz der Provinz Aceh wird nur dann der Zentralregierung zur Billigung vorgelegt, wenn der Gouverneur der Provinz es zuvor abzeichnet. Nach den gegenwärtigen Regelungen hat die Zentralregierung nach Vorlage des Gesetzes 60 Tage Zeit, eine Überarbeitung anzuordnen oder das Gesetz abzulehnen, falls es der indonesischen Verfassung oder anderen nationalen Gesetzen zuwiderläuft. / Die Prügelstrafe stellt eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafe dar, die gegen das Völkerrecht verstößt, insbesondere gegen Artikel 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und die UN-Antifolterkonvention, deren Vertragsstaat Indonesien ist.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 14. November 2014 hinaus, unter »> ai : urgent action
eidechsen
echo : 1.35 — Eine Bekannte, die in einem kurdischen Bergdorf groß geworden ist, erzählte, sie habe als Kind im Sommer mit Eidechsen gespielt, im Winter hüpfte sie vom Dach ihres Elternhauses in den Schnee. Es gab kein Telefon und die Schule lag drei Stunden zu Fuß entfernt. Man konnte die Kinder von Weitem über den Weg springen sehen, wie sie nach Hause kamen, da hatten sie noch 2 Stunden zu gehen. Eine karge Landschaft, kaum Bäume, aber blühende Büsche, deren Namen sich nicht so leicht in die deutsche Sprache übersetzen lassen. Ihren ersten Toten hatte das Mädchen wahrgenommen, als sie noch nicht schreiben konnte. Er lag auf dem Rücken auf einer Straße unweit der Schule. Ein dünner Fluss von Blut kam unter dem Körper hervor, auf dem Fliegen kletterten. Sie habe die Augen fest zu gemacht, zu spät. Es ist jetzt eine sehr schwere Zeit für sie und ihre Familie. Ich erzählte ihr von Filmen, die ich gesehen hatte auf meinem Bildschirm unterm Dach. Tausende Kinder, Frauen, Männer, die vor IS-Schergen in die Berge flüchteten ohne Wasser und Nahrung. Natürlich kannte sie alle diese Bilder. Ich sagte, ich wäre beinahe sicher, dass die Art und Weise wie ich flüchtende, leidende Menschen auf Bildschirmen betrachte, von der Art der Fernrohrbeobachtung sei. Sie antwortete unverzüglich, leise Stimme. — stop
vor neufundland 22.14.08 uhr : zarte finger von licht
lima : 2.22 — Gestern am Abend seit langer Zeit endlich wieder ein Funkspruch Noes. Vermutliche Tiefe: 855 Fuß. Position: 80 Seemeilen südöstlich der Küste Neufundlands seit nunmehr 1356 Tagen im Tiefseetauchanzug unter Wasser. Ich hörte seine scheppernde Stimme gegen 2 Uhr Morgens mitteleuropäischer Zeit über Kurzwelle. Vertraute Sätze. Dann lange Zeit gewartet. Folgende Botschaft: ANFANG 22.14.08 | | | > großartige aussicht. s t o p langsam aufsteigender wal. s t o p muschelrücken. s t o p kraterhaut. s t o p als würde der mond vorüberziehen. s t o p lange zeiten der stille. s t o p lange zeiten ohne einen gedanken ohne einen wunsch ohne eine erinnerung. s t o p blick ins wasser. s t o p zarte finger von licht. s t o p ob mir jemand zuhört? s t o p < | | | ENDE 22.16.58
punta arenas
am nachttisch
india : 3.02 — Ich träumte von Winterfliegen. Als ich aufwachte, erinnerte ich mich, vor Jahren einmal über Winterfliegen nachgedacht zu haben. Ich notierte Folgendes: Die Gattung der Winterfliegen sollte in eisiger Umgebung existieren, in Höhlen, die sie mit ihren Fliegenfüßen persönlich in den Schnee eingraben. Vielleicht, das ist möglich, sind Winterfliegen von Natur aus eher kühle Wesen, oder aber sie tragen einen wärmenden Pelz, ein Fell, wie das der Eisbären, weiche, weiße Mäntel von Haut und Haar, die ihre äußerst langsam schlagenden Herzen schützen. Diese Fliegen, dachte ich, werden einhundert Jahre oder älter, sie könnten sich von feinsten Stäuben ernähren, vom Plankton, das aus windgebückten Wäldern angeflogen kommt, von Moosen, Birkenpollen, vom Kotsand nordischer Füchse. Ich stellte mir vor, sie sind weiß, so weiß, dass man sie nicht sehen wird, wenn sie über den Schnee spazieren. Man wird meinen, der Schnee bewege sich selbst oder es wäre der Wind, der den Schnee bewegt, stattdessen sind es die Fliegen, die nicht größer sind als jene Fliegen, die nachtwärts im Sommer aus einem Apfel steigen. – Ein ruhiger Tag, Augen zu, warm, Sonne. — Abends sitze ich in der Küche am Tisch. Ich öffne eine Schreibmaschine, die ich vor drei Jahren aus dem aktiven Schreibmaschinenleben in mein Schreibmaschinenmuseum transferierte, um nachzusehen, ob ich sie vielleicht noch einmal in Gang setzen könnte. Sehr kleine Schrauben türmen sich zu einem Berg, es riecht nach Metall, nach Zinn, wie in der Kindheit, wenn ich meine Nase an Radiogeräte drückte. An der Wand in nächster Nähe hockt Esmeralda, sie scheint mich zu beobachten oder das Innere der Schreibmaschine. Aus dem Nebenzimmer dringen noch immer Kampfgeräusche, Schüsse von Gewehren, helle Töne, als würden Kieselsteine aneinander schlagen. Auch große Kaliber sind zu vernehmen, deren genaue Bezeichnungen ich nicht kenne, Mörser vielleicht, Panzerkanonen, Maschinenwaffen. Ein Mann, ich möchte seinen Decknamen an dieser Stelle nicht verzeichnen, sammelt Filme in der digitalen Sphäre, die er zu endlosen Ketten knüpft, Szenen aus dem syrischen Bürgerkrieg, zuletzt von dem Kampf um Kobane. Personen stehen auf einer Straße, sie feuern auf Häuser, plötzlich fallen sie um. Ein junger Mann hüpft vor dem Körper einer jungen Frau, die auf dem Rücken liegt, ein Teil ihres Gesichtes fehlt. Der junge Mann preist Gott, er stellt seinen Stiefel auf die Brust der jungen Frau, die vermutlich, nein sicher, gegen ihn kämpfte. Bärtige Männer eilen gebückt über Felder, einem der Männer fliegt ein Arm davon. — stop
kurz nach mitternacht
echo : 1.28 — Um kurz nach Mitternacht öffnete ich ein Fenster. Sofort fühlte ich, dass ich beobachtet werde. Tatsächlich saß rechts an der noch warmen Wand des Hauses eine sehr kleine, vielleicht junge Springspinne. Ich habe das Licht ihrer Augen wahrgenommen oder eine Bewegung. Sie duckte sich, als ich mich näherte, aber sie flüchtete nicht. Ich konnte mir dieses Verhalten zunächst nicht erklären, dann hatte ich die Idee, dass die Spinne mich vielleicht kennt. Möglicherweise wurde ich schon drei oder vier Wochen lang beobachtet, ohne die Beobachtung der Spinne bemerkt zu haben. Vermutlich war die Spinne, als sie meiner Gestalt zum ersten Mal ansichtig wurde, sofort geflüchtet. Ich stelle mir vor, sie könnte sich in die Tiefe gestürzt haben, wo sie im Garten von einem Löwenzahnblatt aufgefangen wurde. Am folgenden Tag machte sich die Spinne wieder auf den Weg nach oben. Sie wird vermutlich in Etappen gewandert sein, zwei oder drei Tage, dann wieder Nacht, das Warten auf zarte Falter, auf süßes, fliegendes Fleisch. Ein warmer Wind. Ein Fenster, das sich öffnet. Wiederum Flucht in die Tiefe, erneuter Aufstieg, mühsam und schmerzvoll, hinauf wo der riesige Vogel wohnt, wo das Licht ist, der warme Wind, das Fenster, Flucht nun aber zu Fuß, nur ein oder zwei Meter abwärts und wieder zurück. Es ist erstaunlich. Von alledem habe ich nichts bemerkt. Zurück an die Arbeit. In dieser Nacht lasse ich das Fenster geöffnet. Benny Goodman spielt Live at Carnegie Hall. Ich sitze und warte. — stop
apfel pfirsich bananen
sierra : 3.15 — Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Ich beobachtete am Flughafen eine Frau wie sie im Supermarkt Früchte berührte. Ihre Hände steckten in Plastikhandschuhen, sie trug eine Brille, die sehr groß ausgefallen war, und einen papierenen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem blähte. Sie schien sehr aufgeregt zu sein, ihre Hände bewegten sich hastig, zwei Äpfel, einen Pfirsich, drei Bananen legte sie in ihr Körbchen ab, dann eilte sie weiter sofort zur Kasse, wo sie warten musste. Sie wirkte seltsam verloren, kaum jemand schien sie zu beachten. Sie stand in der Schlange, unruhig, eine Erscheinung, als wäre sie versehentlich viel zu früh an einem Zeitort angekommen, der noch nicht bereit war, sie aufzunehmen. Plötzlich stellte sie das Körbchen, das sie auf ihrem Rollkoffer balancierte, auf den Boden ab und flüchtete. — Ein Gedanke zunächst, dann ein Wort, ein erstes Wort, ein Satz, ein erster Satz. Dort herum wachsen weitere Gedanken, langsame Tage, Tage des Sammelns, langsame Nächte, Nächte des Wartens, Land entsteht, Land, auf dem sich’s leben und erzählen lässt. Zeichen für Zeichen, das Wachsen eines Korallenmundes.- stop
=
tango : 22.01 — k o p f s c h r a u b e
ein brief
india : 5.56 — Ich entdeckte eine Nachricht in meinem Briefkasten, eine nicht zustellbare Sendung würde im Postamt auf mich warten. Einen Tag später, so gut wie sofort, war ich dort gewesen. Ich stand in einer Schlange von Menschen und überlegte, um was für eine Sendung, die auf mich in nächster Nähe wartete, es sich handeln könnte. Es war ein nebliger Tag. Möwen waren vom Fluss her tief in die Stadt vorgedrungen. Obwohl eigentlich eher scheue Persönlichkeiten, hockten sie auf dem Fenstersims des Postamtes als würden sie uns beobachten, Menschen, wie sie warteten, in dem sie langsam in eine Richtung zu einer Schalterreihe vorrückten. Es war eine längere Schlange. Ich holte mein Mobiltelefon heraus und las in einer Zeitung, dass in einer nördlich der Stadt Bagdad gelegenen Gegend Senfgas entdeckt worden sein soll zu einem Zeitpunkt, da es nicht existierte. Es ist sehr merkwürdig, man kann sich in einem Bericht dieser Art verlieren und kommt doch gut voran in einer Schlange von Menschen, ohne berührt zu werden. Nach einer Viertelstunde war ich am Ziel angekommen, ein Schalterbeamter, der sich ganz offensichtlich freute, überreichte mir einen sehr kleinen Brief. Der Brief war derart klein, dass er zunächst zwischen der Beere des Zeigefingers und der Daumenspitze des Mannes, die den Brief fixierten, vollständig verschwand. Kurz darauf hob er den Brief mittels einer Pinzette in die Luft, um ihn auf dem Tresen vor mir abzulegen. Der Mann reichte mir eine Lupe, ich solle mich vergewissern, die Briefmarke fehle. Tatsächlich war auf der Anschriftenseite des Kuverts mein vollständiger Name und meine Adresse vermerkt, eine Briefmarke aber war nicht zu entdecken, vermutlich deshalb, weil Briefmarken für Briefe dieser Größe noch nicht ausgeliefert worden sind. Der Beamte sagte, dass es sich bei diesem Brief, um den kleinsten Brief handele, den er je bearbeitet haben würde, ich sollte ihn gut verwahren: 65 Cent. Der Brief liegt jetzt auf meinem Küchentisch. Ich habe ihn noch immer nicht geöffnet. Es ist kurz vor fünf Uhr. Wieder Nebel. — stop
camilla
himalaya : 5.32 — Ob Camilla wirklich existierte, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Aber der kleine Mann, Felipe, der von Camilla erzählte, existiert tatsächlich, er hat mir während einer morgendlichen Busfahrt die Hand gegeben, eine kleine, raue Hand, die Hand eines Mannes, der ein Leben lang hart gearbeitet haben muss. Ein Finger seiner Hand fehlte, glaube ich, ja, ich bin mir nicht sicher, ich meine gespürt zu haben, dass etwas fehlte, sein fester Händedruck, und als ich nachsehen wollte, hatte Felipe seine Hand eilig hinter dem Rücken versteckt. Ich fragte ihn, wo er geboren wurde, er antwortete mit einem Namen, der sehr schön in meinen Ohren klang, einen spanischen Namen. Er wohnte in dieser Stadt sein Leben lang. Fünfzig Jahre arbeitete er in einer Fabrik, in welcher Papiere erzeugt wurden, die in der Lage waren, Strom zu leiten. Man machte aus diesem merkwürdigen Papieren zum Beispiel Bücher, die sich in kühler Luft erwärmten. Beim Schneiden der Papierbögen könnte das mit dem Finger passiert sein vor langer Zeit, als Camilla noch nicht in seinem Leben gewesen war. Wie Felipe von Camilla erzählte, leuchteten seine Augen, er ist doch ein großartiger Erzähler. Dass sie ihn trotz seines fehlenden Fingers liebte, erzählte er nicht, aber dass sie ein wenig größer war als er selbst, und dass sie über sehr schöne Ohren verfügte, die wackelten wenn sie lachte. Mit dem Alter wurde Camilla kleiner. Weil auch Felipe kleiner wurde, änderte sich nichts daran, dass sie größer war. Wie ich ihn so sah, neben seinem Koffer sitzend im schaukelnden Bus, dachte ich daran, dass wir noch immer in einer Zeit leben, da Menschen sich damit abfinden müssen, dass Finger für immer verschwinden, oder Camilla mit ihren bebenden Ohren. — stop
kleiner kopf
romeo : 22.01 – Ich begegnete gestern am frühen Morgen einem Mann, den ich vor Jahren schon einmal beobachtet hatte. Er wartete unter Fernreisenden stehend vergeblich auf einen Zug. Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere erste Begegnung. Er hat sich seither kaum verändert, verfügt nach wie vor über einen ungewöhnlich kleinen, zum Himmel hin spitz zulaufenden Kopf. Damals, im Mai des Jahres 2011, saß er auf einer Bank, Terminal 2, des Flughafens, seine Hände hielten eine Tasse Kaffee vor einen kleinen Mund, kleine helle Augen starrten in diese Tasse, kurz fixierten sie mich, dann wieder die Oberfläche des Kaffees, der sich im Gefäß langsam drehte. Staunend wartete ich in der Nähe des Mannes auf einer weiteren Bank, öffnete ein Buch, aber anstatt zu lesen, sah ich immer wieder hin zu dem kleinen Kopf. Ich konnte mir nicht denken, wie es möglich ist, mit einem derart kleinen Kopf zu überleben. Man stelle sich das einmal vor, der Kopf des Mannes war nicht sehr viel größer gewesen, als der Kopf eines Kindes von zwei oder drei Jahren. Eigentlich, dachte ich, müsste dieser Mann tot sein oder aber von eingeschränktem Denkvermögen. Danach allerdings sah der Mann nicht aus, er trug die feine Kleidung eines Geschäftsreisenden, außerdem war er vermutlich in der Lage, aus Blicken Gedanken zu lesen, weswegen ich bald selbst zum Gegenstand intensiver Beobachtung wurde. — Null Uhr zwölf in Kobane, Syria. — stop
bonsaimenschen
bombay
bamako : 2.12 — Auf meinem Schreibtisch bemerke ich eine Postkarte, die dort eigentlich nicht existieren sollte. Tausende Figuren bedecken das Schriftstück, Formen, die ich einerseits als Zeichen identifizieren, andererseits ihrer Bedeutung nach nicht entziffern kann, auch die Briefmarke der Postkarte wurde mit Zeichen versehen. Irgendjemand muss mit Hilfe einer Lupe, so viele Schriftzeichen wie möglich auf der Postkarte untergebracht haben. Es handelt sich vermutlich um einen Text in singhalesischer Sprache. Weder sind Absätze zu erkennen, noch Wörter, kein Raum für Leere. Die Briefmarke ist unter den Zeichen nur noch schemenhaft zu erkennen, 25 Rupien, Elefanten durchschreiten einen Fluss. Auf die Bildseite der Postkarte wurde kein Schriftzeichen gesetzt. Sie trägt eine berühmte Fotografie Sebastião Salgados: Churchgate Train Station / Bombay. Menschen strömen über Bahnsteige. Sie bewegen sich so schnell, dass sie unscharf erscheinen wie eine Flüssigkeit. Im linken unteren Bereich der Fotografie eine Frau, die sich vermutlich im Moment der Aufnahme kaum oder nur sehr langsam bewegte. Sie hält eine Tasche in der rechten Hand, sie scheint die einzige nichtflüssige Person zu sein, die auf der Fotografie wahrzunehmen ist. — stop — Dienstag. — stop — Sturm von Nordwest. — stop
schläfer
bamako : 5.14 — Wer um halb vier Uhr morgens am Zentralbahnhof in eine Straßenbahn steigt, wird bald bemerken, dass es sich bei diesen Straßenbahnen um Verkehrsmittel handelt, in welchen schlafende Menschen reisen. Mehrfach habe ich, zufälligen Himmelsrichtungen folgend, Expeditionen unternommen. Entweder ist es die Zeit, weder Tag noch Nacht, die dazu führt, dass kein Mensch dort wach sein kann, oder aber irgend etwas schwebt in der Luft, das unwiderstehlich müde macht. Auch ich selbst schlafe beinahe sofort, wenn ich mich setze. Ich gehe also auf und ab, niemand bemerkt mich, auch der Fahrer der Straßenbahn scheint um diese Zeit fest zu schlafen. Einmal, vor Kurzem, waren ungewöhnlich viele Fahrgäste unterwegs. Ich konnte sie hören, leise Lebensäußerungen von der Art des Gesprächs, das wache Menschen miteinander führen, wenn sie sich schon lange nichts mehr zu sagen haben. Sobald ich schlafende Menschen im Vorbeikommen heimlich betrachte, Menschen, die ihre Augen mit etwas Haut zugedeckt haben, kann ich kaum glauben, dass sie jemals gefährlich sein könnten, böse mittels gesprochener oder geschriebener Worte, gewalttätig mit Fäusten, Messern, Pistolen. Ich meine, unter ihren schimmernden Lidhäutchen träumende Augen erkennen zu können, manchmal schnappen sie nach etwas Licht. — stop
=
delta : 2.08 — h ö r s c h n e c k e
nach mitternacht
alpha : 2.15 — Weit nach Mitternacht, früher Abend in der Nachtmenschenzeit. Ich habe gerade einen erneuten Versuch unternommen 18.924.150 Zeichen eines menschlichen Genoms als Sequenz in mein Textverarbeitungsprogramm zu laden. Seit letzten Bemühungen sind drei Jahre vergangen, meine Schreibmaschine, die dritte seither, ist in ihren Berechnungen schneller geworden, und doch scheitert sie mit der 52758. Seite des Dokumentes, bleibt kommentarlos stehn, gefriert, oder hält die Luft an, wieder scheint sie mir mitteilen zu wollen, diesen Unsinn mache ich nicht mit. Man stelle sich einmal vor, wir würden bald erfolgreich sein, eine weitere Schreibmaschine und ich, ein vollständiges Dokument wäre errechnet. Wie ich mich nun auf den Weg mache zu meiner Druckermaschine, die sich in nächster Nähe in einem weiteren Zimmer befindet. — stop
wildnis
sierra : 0.12 — Einmal im Traum eine Notladung nach einem Flug über den Atlantik in einer Wildnis vor New York. Wir werden evakuiert, ich vergesse im brennenden Flugzeug Koffer und Papiere. Bin plötzlich ein Niemand. — stop
ein junge
india : 7.08 — Im Café No 5 unterm Flughafenterminal beobachtete ich einen Mann, der sich äußerst sparsam, lange Zeit überhaupt nicht bewegte. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeitung, neben der Zeitung Folgendes: eine Tasse Kaffee, ein Glas Wasser, Zuckerwürfel, Notizblock und Bleistift. Eine halbe Stunde verging in dieser Weise, die Hände des Mannes ruhten in seinem Schoß. Einmal rückte der Mann seinen Koffer, der hinter ihm an der Wand parkte, ein kleines Stück zur Seite, ein andermal hob er seine Kaffeetasse in die Luft, um sie in einem Zug auszutrinken. Dann wieder keinerlei Bewegung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagierte weder auf Lautsprecherdurchsagen, noch kümmerte er sich um Menschen, die das Café auf Laufbändern passierten, es waren viele chinesische Reisende darunter, die gerade erst aus Shanghai und Peking in großen Flugzügen eingetroffen waren. Der Mann starrte auf eine Schwarzweißfotografie, die auf der Titelseite einer Zeitung abgedruckt worden war. Ein Junge lag dort unbekleidet auf einer Bastmatte mitten auf einer schmutzigen, feuchten Straße. In einiger Entfernung, im Hintergrund, warteten Menschen, die den Jungen beobachteten. Der Junge schwitze, seine schwarze Haut war von Fliegen bedeckt, er sah mit halbgeschlossenen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutzanzug steckte. Anstatt eines Kopfes war auf den Schultern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zerknitterte Haube genauer, die unter Luftdruck zu stehen schien. Das Wesen hatte seine rechte Kunststoffhand nach dem Jungen, der einsam auf dem Boden liegend verharrte, ausgestreckt, es wollte ihn vielleicht ermutigen, aufzustehen und zu ihm an den Rand der Straße zu kommen. Obwohl sich die Hand nicht bewegte, vermittelte sie den Eindruck, dass sie sich bewegt haben musste und weiterhin bewegen würde, weil die Stellung ihrer Finger nur in dieser vermuteten Bewegung einen Sinn ergab. Ja, diese Hand musste in der Zeit des Bildes eine winkende Hand gewesen sein, aber es war deutlich zu sehen, dass der Junge vermutlich nicht länger die Kraft hatte, aufzustehen oder zu kriechen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüstern, oder die Fliegen auf seinem Körper zu vertreiben. Es war still, vollkommen still, nichts zu hören. — stop
5 Uhr 2
nordpol : 7.08 — Alle Wörter, sobald ich sie anhalte, werden zu einem Geräusch: Venenstern. — stop