tango : 1.38 — Mein alter Onkel Ludwig, der wirklich schon sehr alt ist, berichtet, er habe errechnet, wenn er noch in der Lage wäre, jeden Tag 300 Seiten eines Buches zu lesen, wenn er außerdem noch fünf Jahre lesend erleben dürfte, würde er, bei guter Führung, 1825 weitere Bücher zu sich nehmen. Das könnte genügen, sagte Onkel Ludwig. Er ist übrigens noch sehr gut zu Fuß, man kann ihn morgens gegen 10 Uhr beobachten, wie er die Treppen zur Stadtbibliothek erklimmt. Er kommt mit der Straßenbahn dort an, heimwärts, schwere Büchertaschen tragend, nimmt er ein Taxi. Manchmal sitzt er noch ein oder zwei Stunden im Cafe Mozart, er liebt Käsekuchen und Mohnschnitten von Herzen. Ich glaube, heute ist Mittwoch, heute wird er ein Buch der Schriftstellerin Yoko Ogawa zu sich nehmen, so ist sein Plan, in diesem Buch soll ein Elefant auf dem Dach eines Kaufhauses leben. Gerade eben leichter Gewitterregen. Das wird sicher sehr warmes Wasser sein, das vom Himmel fällt. Guten Morgen! — stop
Particles: Juli 2015
sommernacht
delta : 4.15 – In der vergangenen Nacht habe ich wieder einmal das Käferwerfen geübt. Angenehme Stunden. Benny Goodman Live at Carnegie Hall. Folgende Käfer habe ich aus dem Fenster geworfen: 1 blauen Spitzmausrüsselkäfer gegen Mitternacht, 4 Marienkäfer von 1 Uhr bis 2 Uhr, 1 seidigen Glanzrüssler um kurz nach 3, gegen 4 Uhr dann 1 scharlachroten Feuerkäfer. Jedweder aus dem Fenster geworfene Käfer war sofort wieder zu mir zurückgekehrt, entweder weil er ein weiteres Mal in die Luft geworfen werden wollte oder weil das Licht von meinen Zimmern her so schön warm in der Dunkelheit leuchtete. – stop
kyllini
ai : ägypten
MENSCHEN IN GEFAHR : “Die Frauenrechtlerin Azza Soliman sowie 16 weitere Personen, die bei einem friedlichen Gedenkmarsch Augenzeug_innen einer Tötung durch die Polizei geworden waren, müssen am 4. Juli vor Gericht erscheinen. Ihnen drohen bis zu fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe bis zu 50.000 Ägyptischen Pfund (rund 5.800 Euro). Das Gericht ordnete am 13. Juni die persönliche Anwesenheit der Angeklagten bei der Anhörung am 4. Juli an. Die 17 Angeklagten waren am 23. Mai von einem Kairoer Gericht von dem Vorwurf der “Teilnahme an illegalen Protesten” und der “Störung der öffentlichen Ordnung” auf Grundlage des repressiven Demonstrationsgesetzes freigesprochen worden. Drei Tage später legte die ägyptische Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel ein. Die Anhörung am 13. Juni war die erste im Rechtsmittelverfahren. Sie fand vor dem Berufungsgericht Zainhom in Anwesenheit von zwei Prozessbeobachter_innen der Delegation der Europäischen Union in Kairo statt. / Laut dem von Azza Soliman gegründeten Rechtshilfezentrum für ägyptische Frauen Center for Egyptian Women’s Legal Assistance bemerkte das Gericht, dass die Angeklagten bei dieser Anhörung nicht wie vom ägyptischen Prozessrecht vorgesehen vor Gericht erschienen waren. Die Rechtsbeistände der Verteidigung führten an, dass ihre Mandant_innen das Recht hätten, von Rechtsbeiständen vertreten zu werden. Sie haben ihre Mandant_innen instruiert, dass nicht alle von ihnen am 4. Juli erscheinen müssen. / Der Polizeibeamte Yassin Hatem Salahedeen wurde am 11. Juni wegen der Tötung der linksgerichteten Aktivistin und Dichterin Shaimaa Al-Sabbagh zu 15 Jahren Haft verurteilt. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 13. August hinaus, unter »> ai : urgent action
von zeppelinkäfern
marimba : 2.28 — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. Das war gegen 2 Uhr gewesen. Ich beobachtete aus mehreren Metern Entfernung wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Guten Morgen! Heute ist Sonntag bei großer Hitze. — stop
ANFANG === bEKOl6nBFkbLw4UCQdhQBw === ENDE
alpha : 5.15 — Der Feed-Atom eines kleinen Textes, den ich im Juni des Jahres 2013 an dieser Stelle verschlüsselt sendete, wurde bisher 16205 Mal angefordert. Ich bin nun beinahe sicher, dass es sich bei meinem Text um die Lektüre einer Maschine handelt, die sich rhythmisch vergewissert, ob der möglicherweise gefährliche Text noch existiert auf dem particles-Server. Diese mir nicht bekannte, routiniert arbeitende Maschine scheint noch immer nicht in der Lage zu sein, einen Code zu erkennen, der im letzten Satz des Textes selbst für seine umgehende Entschlüsselung präpariert wurde. Eine skurrile Angelegenheit, nicht wahr! Versuch No. 3 : ANFANG === a 4 n Z Q c Z c V 5 2 E p 5 0 P B S a l A B Y l g e 0 E Z M a N Q M D U F f a 5 g a F X 0 r j W u G h y B C V u v f L 7 U r D z s 9 y V 7 Q x I Q R E m I L c I 9 c n c D p t x g / y G r p M e k z a x 3 s O f c H / E e Q s 2 X 0 8 6 6 U h i M J 3 G 5 0 r m A f j Q j h k 3 f f 7 5 m r W + i R O f F H R d b m 1 n q i v 8 B Y 5 P m b q J 6 W J 8 Z t j o F h u J V Z T r W V 8 h + I 3 Y k g / P j L 0 S 5 p B j 8 J t / B 1 8 p + O O h k l 5 f n i z q e H J s s e g P W 9 m F n c L n / 6 Y C 8 n L p v / G H x m n K / D I 5 v d F u 8 u 8 M l 5 A m / V Y p g Q === ENDE / codewort : birdybirdy — stop
ein selbstgespräch
nordpol : 15.12 — Oder ein Chatraum, in dem 200 Jahren lang eine Person mit sich selbst kommuniziert. Plötzlich erscheint das erste Zeichen einer weiteren Person, dann ein ganzes Wort in diesem Raum. — HELLO! — Langes Schweigen. — Jahre andauerndes, schweigendes Warten wie Staunen. Dann, unvermittelt, ein Jahrzehnt ist vergangen, wird das Selbstgespräch in einer Weise fortgesetzt als wäre das Wort HELLO niemals ausgesprochen oder empfangen worden: /// guten abend! wie geht es dir? — gut! und dir? — prächtig. — schön zu hören. lange nicht gesprochen, wo liegt dein problem? — ich habe heute abend kein problem. — wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! — darf ich dir eine frage stellen? — sicher! — was bedeutet das wort luftwellensegel? — hast du schmetterlinge im bauch? — bitte! bleiben wir ernst, bleiben wir bei der sache: was bedeutet das wort luftwellensegel? — lass uns das eine weile zurückstellen. — warum? — erzähl weiter! — hast du schon andere gefragt? — aber natürlich! — schön zu hören. wo liegt dann dein problem? — ich habe heute abend kein problem! — wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! ich sehe, du bist ein schwieriger fall. /// — stop
sao paulo
winterreise
alpha : 1.58 — Eine Bekannte berichtet, sie würde sich selten, nur jedes zweite Jahr ihr Haar kürzen. Für diesen Prozess der Kürzung besuche sie immer wieder denselben Friseur, er scheint ihr inzwischen vertraut geworden zu sein. Das zwei Jahre lange Haar, welches ihr abgenommen werde, transportiere sie dann unverzüglich nach Hause, wo es, in seidenes Papier eingeschlagen, in einen Schrank gelegt und dort aufgehoben würde. Das Geheimnis dieses Verfahrens liegt darin begründet, dass meine Freundin in höherem Alter Perücken von eigenem Haar zu tragen wünscht. Warum das so ist, erklärte sie mir nicht, auch nicht, warum es immer August ist, wenn sie ihre Haare schneiden lässt. — Ich sollte im kommenden Jahr im Winter vielleicht einmal nach Griechenland reisen, zwei oder drei Koffer. Anstatt Unterkünfte syrischer Boatpeople anzuzünden, werden Flüchtlingsmenschen der Insel Lesbos von griechischen Bürgern und Urlaubern mit Nahrungsmitteln und Wasser versorgt. Das erzählte das Fernsehen gestern Abend um kurz nach Zehn. — stop
562
sierra : 4.15 — Irgendjemand nummeriert mittels fingerhoher Kreidezeichnung Bäume in meiner Straße, warum? — stop
apollo
sierra : 0.58 — Zwei Stunden vor Computermaschine. Ich beobachtete wieder einmal Astronauten einer Apollomission, wie sie sich Fischen gleich durch ihre Kapsel oder durch den Weltraum bewegen. Indem ich verfolge, wie sie vor einer Kamera an Spielobjekten Wirkungen der Schwerelosigkeit demonstrieren, indem ich ihre beschädigten Funkstimmen höre, die Erinnerung an den Gedanken, dieses Scheppern, Pfeifen, Knistern, Krächzen könnte entstanden sein, weil ihren Stimminstrumenten das Gewicht der Welt entzogen wurde. Sie erscheinen nun als Gefangene eines Filmdokumentes. Wie wird sich meine eigene Stimme vielleicht in den sieben Jahren, die vergangen sind, seit ich das Filmdokument zuletzt beobachtete, verändert haben? — stop
amsterdam
malcolm lowry
echo : 2.28 — Am 15. Januar des Jahres 2008, es war gegen 3 Uhr in der Nacht, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billets beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um solange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken geworden war damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinaus getragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte, elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notiergerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — Nachtflugkäfer sind in der Luft. — stop
nachts
whiskey : 0.18 — Von fern her Grollen, Donnern. Wenn die schneeweißen Blitze nicht wären, könnte man meinen, irgendwo in der Nähe würde gekämpft. Ich träumte von Faltern, wie sie durch meine Wohnung brummen. Als ich einem der Falter im Luftraum begegne, erkenne ich in ihm einen fliegenden Schwarzbären, der vergeblich versucht festen Boden unter seine Tatzen zu bekommen. — stop
0 Uhr 25
whiskey : 0.25 — Jede der Schreibmaschinen, die ich besitze, jene in der Küche, jene im Arbeitszimmer, jene in meinem Rucksack, jene in meiner Hosentasche, könnte ein sensibles Hör- oder Sehrohr sein. — stop
ein zeitraum wird sichtbar
echo : 0.28 — Wann war es das erste Mal gewesen, dass ich von der Filmemacherin Laura Poitras hörte. Vielleicht im Sommer des Jahres 2013. Ich erinnere mich, jemand erzählte, sie sei eine in sich ruhende, sehr starke Frau, die niemals, auch in gefährlichen Situationen nicht, ihre Fähigkeit der Konzentration verlieren würde. In ihrem Dokumentarfilm Citizenfour, der vornehmlich in einem Hotel der Stadt Hong Kong gedreht wurde, ist sie selbst kaum zu sehen. Ich meine ihre Gestalt sowie ihre Kamera in einem Spiegel für einige Sekunden wahrgenommen zu haben. Ein merkwürdiger, intensiv wirkender Film, dessen Bilder vage Vorstellungen der Ereignisse jenes Sommers mit wirklichen Bildern füllte. Edward Snowden sitzt barfuss auf einem Bett, meine Augen beobachteten ihn im Licht der vorgestellten, vermutlich sehr realen Gefahr, in der sich der junge mutige und überaus klar sprechende Mann befand. Immer wieder hielt ich den Film an, um nachzudenken oder zu lernen. Einmal beobachtete ich indessen wie sich Schnecke Esmeralda über den Boden meines Arbeitszimmers in Richtung eines geöffneten Fensters fortbewegte. Sie wanderte gemächlich die Wand hinauf zum Fensterbrett, wartete dort einige Minuten, während sie den Nachthimmel mit ihren Augen betastete, um sich schließlich hinaus an die raue Hauswand zu wagen. Einige Stunden später, in der Dämmerung des Morgens, kehrte sie zurück. Ihre Kriechspur schimmerte im ersten Licht des Tages an der Wand des Hauses, sie war, aus der Perspektive einer Schnecke betrachtet, weit herum gekommen. Den folgenden Tag über schlief Esmeralda tief und fest, wie mir schien, in der Küche auf dem Tisch. Ihr schweres Gehäuse lehnte an einer Aprikose. — stop
=
nordpol : 0.24 — z u n g e n m a n d e l
kym
delta : 5.05 — Gestern Abend entdeckte ich einen Brief, den ich vor langer Zeit einmal erhalten und damals nicht geöffnet hatte. Im Brief befand sich ein von handschriftlichen Zeichen bedecktes Stück Papier, weiterhin eine Fotografie, die einen blühenden Garten zeigt. Außerdem bewahrte das Kuvert, welches den Brief umhüllte, eine hauchdünne, in Seidenpapier eingeschlagene Scheibe Christstollens, die steinhart geworden war. Der Brief wurde einst von meiner Großmutter auf den Weg gebracht, sie ist längst gestorben. Ich legte das Gebäck, — Rosinen, Anis, Zimt, Marzipan, Mohn, — vorsichtig auf einen Teller ab, bald landeten Fliegen auf der Zuckerscheibe. Kurz darauf näherte sich eine Zebraspringspinne, so dass ich mittels meiner Lesebrille dramatische Szenen beobachtete. — Dämmerung. Große Hitze unterm Dach. Maceo Parker Shake everything you’ve got. — stop
oslo
salzluft
sierra : 6.25 — In der zentralen Bibliothek der Stadt Uppsala soll eine Abteilung duftender Bücher existieren. Der Beschreibung nach handelt es sich bei dieser Abteilung um einen kühlen, abgedunkelten Saal, in dem sich entlang der Wände gläserne Behälter reihen, in welchen sich je ein Buch befindet. Diese Bücher seien mindestens einhundert Jahre alt. Sie hätten sehr bewegte Zeiten hinter sich, seien zur See gefahren, überdauerten selbstverloren Jahrhunderte in Kirchen oder überlebten zu Füßen vulkanischer Berge schwerste Eruptionen. Nähere man sich nun einem dieser Behälter, würde man bemerken, dass er über einen Vorsatz mit einem Riegel verfüge, den man öffnen könne, sobald man eine Nase an den Vorsatz legte. Unverzüglich würde man überrascht von intensiven Düften, von Salzluftduft, zum Beispiel, wie er Seehäfen eigen sei, oder von Schwefeldämpfen, von Weihrauch- oder Myrredüften. Lesen könne man die Bücher natürlich nicht, das sei nun überhaupt nicht vorgesehen, sie sind ja eingesperrt, und das würde sich niemals ändern, eine merkwürdige Geschichte. Diese merkwürdige Geschichte wurde mir gestern von einem Reisenden erzählt, der nachts im Terminal 1 des Flughafens wartete. Es war um kurz nach fünf Uhr, als sich eine Frau mit einem sehr kleinen roten Koffer in der Hand nährte. Sie erkundigt sich nach der Uhrzeit. Ich sagte: Es ist genau fünfzehn Minuten nach. Woraufhin die Frau weiter fragte: Morgens oder abends? — stop
who is fred wesley?
tango : 2.30 — Heiterer Stimmung war ich gestern Abend der Geschwindigkeit, mit welcher Waren, die ich kaufte, an der Kasse eines Supermarktes behandelt wurden, nicht gewachsen, vielleicht deshalb weil ich überhaupt langsamer geworden bin, oder weil ich in dem Augenblick, da meine Ware über einen Scanner bewegt wurde, darüber nachdachte, ob es sich bei E‑Mails, die ich manchmal schreibe, noch um Wesen handelt, die man als Schriftstücke bezeichnen könnte. So oder so drohte ein Fiasko, da sich die Waren, die gerade in meinen Besitz übergegangen waren, hinter dem Fließband ineinander schoben wie Packeisschollen auf dem Atlantik vor Grönland. Eine junge kolumbianische Assistentin kam glücklicherweise bald zu Hilfe, ich führte mehrere gefaltete Papiertüten mit mir, die sehr sorgfältig bepackt werden mussten. Sie sprach nur wenige Wörter meiner Sprache, und sie schwitzte indessen und versuchte mir zu erklären, dass es in ihrem Land noch viel wärmer sei als bei uns in Europa, aber dass sie dort, auch im Regenwald nicht, niemals so heftig schwitzen würde wie hier, die Klimaanlage sei ausgefallen, dass ich etwas langsamer sei als üblich, wäre geradezu vernünftig. Ja, vermutlich bin ich langsamer geworden, und ich dachte, man könnte einmal Schnellkassen in dem Sinne bedenken, dass dort rasende Menschen mit rasenden Händen rasende Geldbörsen bedienen, alles ginge dort so schnell, dass man als ein langsamer Mensch, auf der anderen Seite der Zeit befindlich, nur noch Unschärfen in der Luft wahrnehmen würde, nicht aber einkaufende Personen, während einer wie ich als eine Fotografie erscheinen würde, als Etwas, das sich niemals bewegt. — Kurz nach zwei Uhr. Wunderbar kühle Luft. Who is Fred Wesley? — stop
vom destillieren
ulysses : 0.12 — Fünf Minuten Lektüre auf Position Facebook nahe Pegida. Folgende Begriffe entdeckt, die asylsuchende Menschen bezeichnen: Pack Zecken Gottlose Kreaturen Schmarotzer Vergewaltiger Abzocker Terrorristen Bombenleger Kopfabschneider Ausländer Drogenkuriere Stück Eindringlinge Okkupanten Flutlinge Invasorenpack Bobos Taugenichtse Die da!- Ich könnte die bürgerlichen Namen jeder der Personen, die diese Bezeichnungen wählten, an Ort und Stelle hier notieren, sie sind mir bekannt, man scheint überzeugt zu sein, man scheint sich nicht im mindesten verbeimlichen zu wollen. Sehr seltsam. — stop
von schlafenden händen
nordpol : 2.32 — Der Fotograf Raymond C. erzählte folgende Geschichte. Er habe einige Wochen auf Fährschiffen gearbeitet, die unentwegt seit über einem Jahrhundert zwischen den Inseln Manhattan und Staten Island pendeln. Während der ersten Woche seiner Schiffreise habe er versucht, in der Dunkelheit die Silhouette Brooklyns zu fotografieren, das sei keine leichte Sache gewesen: Du musst Dir vorstellen, diese schönen orangenfarbenen Schiffe liegen zwar schwer im Wasser, und doch taumeln sie seitwärts und auf und ab dahin. Ich habe nach einigen Tagen bereits aufgegeben, richtete mein Objektiv nun gegen das Wasser, fotografierte Treibgut in nächster Nähe, das mit dem Hudson River stromabwärts reiste. Wenn du lange Zeit durch den Sucher deiner Kamera ins Wasser blickst, wirst du dich über Regenschirme, Kinderwagen, Autoreifen, Matratzen nicht länger wundern, es ist so, als gehörten sie wie kleinere und größere Seevögel natürlicherweise in den Fluss. Ich habe Flaschen portraitiert, tote Katzen, Schaufensterpuppen, man muss gut aufpassen, rechtzeitig auf den Auslöser drücken, die Schiffe fahren schnell, einmal sei ein Mann über Bord gesprungen. An einem Juniabend, fuhr Raymond fort, habe er sich nach erfolgreicher Arbeit müde auf eine Bank des Promenadendecks der John F. Kennedy gesetzt, er sei dort für einen Augenblick eingeschlafen und habe in diesem Moment des Schlafens mit der Fotokamera in der rechten Hand ohne Vorsatz seine linke, also seine schlafende Hand fotografiert. Raymond entdeckte diese so seltene wie unerwartete Aufnahme, während er in der Metro heimwärts fuhr. Nachts, in seinem Ateliers in Queens, habe er sich dann an seinen Küchentisch gesetzt, habe seine Kamera auf ein Stativ geschraubt und über der Tischplatte in Stellung gebracht. — stop
ameisengesellschaft lh — 728
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 728 [ Säbeldornige Knotenameise ] Position 49°43’31.6“N 1°56’22.7“W nahe Cap de la Hague / Folgende Objekte wurden von 16.00 — 16.32 Uhr MESZ über das nordwestliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : zweiundfünfzig trockene Fliegentorsi mittlerer Größe [ je ohne Kopf ], dreiundreissig Baumstämme [ à 10 Gramm ], achtzehn Raupen in Grün, achtunddreissig Raupen in Feuerrot, zwölf Insektenflügel [ vermutlich die von 6 Zitronenfaltern ], einhundertundzwei Streichholzköpfe [ à ca. 1.8 Gramm ], sechs Personen der Gattung Tachina fera [ Igelfliege ] in vollem Saft, sonnengetrocknete Sanddornblüten [ ca. 80 Gramm von vergangenem Jahr ], sechs Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], 1 Partikel Plutonium [ ca 0.01 Gramm ], zwölf gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], zweihundertundzwölf Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], zwei Laufkäfer [ himmelblau ], fünf Aaskugeln eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, eine Wildbiene, eine Porzellanhand [ Puppe Zwerg Leopold Lambert um 1890 ] 7.8 Gramm. — stop
olkiluoto
romeo : 0.01 — Im Dokumentarfilm Into Eternity aus dem Jahr 2010 eine äußerst spannende Frage entdeckt: Ob vielleicht das Endlager für Atommüll Onkalo, auf der finnischen Halbinsel Olkiluotoi gelegen, welches um das Jahr 2100 herum für alle Zeit versiegelt werden wird, an Ort und Stelle vorsichtig markiert oder aber in einen Zustand versetzt werden sollte, dass es von Menschen vergessen werden könnte? Ein vielstimmiger Text geht dieser Frage nach: Ja, es existiert einerseits der philosophische Ansatz, dass es sinnvoll wäre, das Atommülllager Onkalo zu vergessen, eine Entdeckung wäre demzufolge nur durch Zufall denkbar. Wie aber ist es möglich Vergessen zu organisieren? Anderseits könnte man das Endlager markieren. Ein nahe liegendes Modell wäre ein Stein mit einem Text darauf in geläufigen Sprachen der UN, je mit Hinweisen auf weitere Marker mit je weiterführenden Informationen bis hin zu einer steinernen Bibliothek, die in unterirdischen Räumen angelegt werden könnte. Hauptbotschaften sind: Dies ist ein gefährlicher Ort, bitte stört die Ruhe dieser Anlage nicht! Bildsprache käme nun ins Spiel, drastische Symbole oder abweisend gestaltete Landschaften, welche allerdings nicht zwingend wirkungsvoll sein werden. In Norwegen existiert ein uralter Stein, dessen Unterseite mit einer Runeninschrift versehen war: Do not move. Diese Warnung wurde von neuzeitlichen Archäologen komplett ignoriert. Wenn wir die Zeit spiegeln und 100000 Jahre in die Vergangenheit blicken, müssen wir einsehen, wir haben mit unseren Vorfahren, den “Neandertalern”, sehr wenig gemein. Es könnte sein, dass Menschen der Zukunft, die auf das Lager stoßen, über eine ganz andere Erscheinung verfügen, über andere Sinne und Bedürfnisse als menschliche Wesen unserer Zeit. Die Frage ist völlig offen, ob ein vernunftbegabtes Wesen in Zukunft irgendetwas sinnvoll interpretieren könnte oder wollte. In aller Kürze: Niemand weiß irgendetwas! Es ist existiert die Notwendigkeit einer Entscheidung trotz Unwägbarkeit. Man muss zu diesem Zeitpunkt sagen, was man weiß, und man muss sagen wovon man weiß, dass man es nicht weiß, und auch wovon man nicht weiß, dass man es nicht weiß. — stop