lima : 12.15 UTC — Ich stelle mir einen Film vor, ein mediales Arche Noah Prinzip, jedes Lebewesen unseres Planeten wäre darauf verzeichnet, jede Pflanze, auch das mikroskopisch Kleinste, Mikroben, Bakterien, Viren. In kürzeste Schnittfolgen müßte dieser Film zerlegt sein, um in menschlicher Lebenszeit je betrachtet werden zu können. Welches Lebewesen könnte auf dem letzten verfügbaren Bild des Filmes zu sehen sein? — stop
Particles: April 2017
licht
papa : 15.16 UTC — Es ist Sonntag. Auf dem Bildschirm einer Schreibmaschine ist die digitale Darstellung einer Druckfahne zu erkennen. Letzte Minuten einer letzten Stunde sind gekommen, da der Autor noch eine Korrektur seines Textes unternehmen könnte. Zeichen für Zeichen, Wort für Wort durchstöbert er sein Werk. Wenn man nun die Fenster des Zimmers verdunkeln würde, könnte man bemerken, dass sich die Augen des Autors in zart leuchtende Lampen verwandelt haben. — stop
amsterdam
himalaya : 15.16 UTC — Einmal erwartete ich in einem Café an der Centralstation die Ankunft eines Zuges aus Amsterdam. Um die Zeit zu vertreiben, suchte ich in den Archiven meiner Schreibmaschine nach einem Bild, an das ich mich aus irgendeinem Grund erinnert hatte. Ich wusste noch, dass dieses erinnerte Bild im eigentlichen Sinne kein Bild ist, unbeweglich, sondern eine Gruppe von Fotografien, die in vorbestimmter Reihenfolge rhythmisch zur Aufführung kommen. Es handelt sich in etwa um eine Serie gefangener Bilder, die einen oder vier Männer zeigen, der oder die sich in akrobatischer Weise durch vier Zimmer eines Hauses bewegen. Kurz nachdem ich das animierte Bild gefunden hatte, schaute mir ein Mädchen von vielleicht sechs Jahren neugierig über die Schulter. Sie sagte: Das ist aber lustig! — Findest Du, fragte ich zurück. Das ist doch aber sehr anstrengend, was die Männer da tun! — Das Mädchen schaute mich an und verdrehte die Augen: Die Männer sind ja nicht echt! — stop
von gedankenlichtern
bamako : 22.01 UTC — Vor wenigen Tagen spazierte ich an einem späten Nachmittag in einem Garten. Da ist etwas Merkwürdiges geschehen. Während ich sehr langsam Schritt für Schritt vorwärts, seitwärts oder rückwärts ging, begann ich zu erzählen, Geschichten wie Blüten in meinem kleinen Kopf. Kaum hatte ich eine Geschichte zu Ende erzählt, waren weitere Geschichten aus den Wörtern bereits gewachsen, die sich öffneten, die erzählt werden wollten, helle oder dunklere Geschichten wie Lebewesen, und ich dachte noch, wie das so geht, wie die Geschichten kommen und gehen, Erinnerungen, als wollte sich plötzlich mein halbes Leben erzählen. So, im Erzählen im langsamen Gehen, habe ich die Zeit vergessen. Der Flug der Taubenschatten vor dem Abendhimmel, die vom Luftglück der Vögel erzählten. Ich hörte von Gedankenlichtern, von rotglimmenden Tastaturen. Seit zwei Tagen sitze ich immer wieder einmal ganz still und versuche mir Gedanken vorzustellen, die parallele Gedanken sind, Gedanken zur selben Zeit. Ich befinde mich sozusagen auf der Suche nach Gedanken, die vielleicht stimmlos, aber voll Licht sind, Gedanken wie Bilder, die sich in derselben Zeit bewegen? Jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. — stop
piquiá
vom drohnenvögelchen
echo : 17.18 UTC — Er fliegt nicht, sagte die kleine S. am Telefon. Es ist früher Abend, die helle Stimme am Telefon klang ängstlich. — Wer fliegt nicht, wollte ich wissen? — Na, der Vogel, den Du mir geschenkt hast, er sitzt auf dem Boden und bewegt sich nicht. S. war beunruhigt, sie sagte, der Vogel sei gerade noch durch die Küche geflogen, dann sei er vor dem Küchentisch gelandet, jetzt sitze er reglos auf dem Boden. Sind denn seine Lichter noch an, erkundigte ich mich. Nein, sagte S., auch die Lichter brennen nicht, und er sagt nichts, keinen Pieps. — Ich überlegte kurz, wechselte den Hörer meines Telefons vom linken an mein rechtes Ohr: Ich glaube, ich weiss warum Dein Vogel gerade nicht fliegt. Hör zu, ich werde mich ein wenig umhören, dann rufe ich Dich wieder an! — Vielleicht sollte ich an dieser Stelle schnell erzählen, dass ich meiner Nichte S. im vergangenen Jahr zu Weihnachten eine fingerlange Drohne für Kinder schenkte, die wunderbar blinken kann in blauen und roten Farben. Von Zeit zu Zeit gibt sie Geräusche von sich als wäre sie eine Lokomotive. Dieses Wesen, dem Vernehmen nach weltweit die einzige Lokomotivengattung, die zu fliegen vermag, lässt sich über eine handliche Funksteuerung manövrieren. Ich habe das selbst ausprobiert, das ist nicht ganz einfach für Kinder, und auch für erwachsene Personen durchaus eine Herausforderung. Ich vermutete nun, dass die Stromversorgung der Drohne möglicherweise ausgefallen sein könnte. Kurz nachdem ich herausgefunden hatte, wie man die Batterien der Lokomotive auswechseln könnte, rief ich meine Nichte wieder an. Ihre Mutter kam ans Telefon, Sekunden später S., die fröhlich erzählte, der Vogel sei wieder in der Luft, sie könne im Moment nicht reden, sie müsse aufpassen, dass der Vogel sich nicht wieder auf den Boden setzt. Ein leises Surren war zu hören, dann Schritte, dann eine helle Stimme, die bereits zum Vogel sprach: Komm, wir fliegen jetzt ins Wohnzimmer. — stop
nachtzug nach douala
tango : 7.15 UTC — Akossiwa, die ihr junges Leben überwiegend in der Stadt Yaoundé verbrachte, erklärte während eines Gespräches im Zug, Tiere, die ich als wilde Kreaturen bezeichnete, Affen, sagen wir, Löwen, Antilopen, würden in ihrem Heimatland im zentralen Zoo der Hauptstadt leben. Man könne sie dort besuchen, man müsse sich nicht fürchten, allerdings würde der Besuch Eintritt kosten. Erst einmal musst Du überhaupt nach Kamerun fliegen. Du fliegst, sagt Akossiwa, am Besten über Paris oder Amsterdam nach Yaounde, das ist überhaupt kein Problem. Ich hatte Akossiwa eine durchaus dramatische Vorstellung ihres Landes skizziert, in der vermutlich wirkliche wilde Tiere natürlicherweise auch jenseits der Naturreservate existieren. Kurz darauf entwickelte sich ein aufregendes Gespräch über Wahrnehmung, Wirklichkeit und Projektion einerseits, andererseits über die Existenz wiederum der niederbayrischen Auerhähne in meinem persönlichen Leben. Eine Zugfahrt von Ngaoundéré nach Douala sei reizvoll, berichtete Akossiwa, es existiere auch eine Nachtzugverbindung, die würde sie aber nicht empfehlen: Weil Du nichts siehst! — stop
eine frau
delta : 12.22 UTC — Eine Frau sitzt neben einem Tisch auf einem harten Stuhl. Ihr rechter Arm liegt auf dem Tisch, eine Ärztin misst den Blutdruck. Es ist still in dem Zimmer in diesem Augenblick. Nur das Motorengeräusch des Messgerätes, das Luft in eine Manschette pumpt, die um den Arm der Frau gelegt wurde, brummt als hockte ein große träumende Fliege unter dem Tisch. Dann ist die Fliege plötzlich still und die Ärztin notiert einige Zahlen und nickt mir zu, ohne etwas zu sagen. Als ich mich zu der Frau setze, weicht sie auf dem Stuhl kaum merklich zurück. Ich frage: Wollen Sie vielleicht Tee? — Die Frau schüttelt den Kopf und lächelt. Darf ich Ihnen ein oder zwei Fragen stellen? — Wieder lächelt die Frau. Sie ist scheu. Aber sie will nicht zeigen, dass sie scheu ist, so könnte das sein. Ein seltsamer Moment, alles im Zimmer scheint zu schweben, der Tisch, die Stühle, die Menschen. Ich weiss, dass die Frau, deren Blutdruck gemessen wurde, aus der Ferne gekommen ist, so fern ist das Land, von dem sie gekommen ist, dass ein Jahr vergehen würde, ehe man dieses Land zu Fuß erreichte. Es ist ein Wunder, dass sie meine Sprache versteht, immer wieder denke ich, wie gut, dass Menschen in der Lage sind, die Sprachen anderer Menschen zu erlernen. Und wie sie jetzt lächelt, ich meine, noch nie zuvor ein derart mutiges Lächeln gesehen zu haben, während die Ärztin etwas getrocknetes Blut von ihrem Hals tupft. Behutsam wird eine kleine Wunde versorgt, die unter dichtem Haar im Verborgenen liegt. Die Ärztin nimmt sich viel Zeit, sie geht hinter der verletzten Frau in die Hocke und beginnt leise zu sprechen. Sie sagt: Das ist merkwürdig! Und noch einmal sagt sie: Das ist merkwürdig. Wie sie sich wieder aufrichtet, macht sie ein sehr ernstes Gesicht. Bald kniet sie vor der verletzten Frau auf dem Boden, nimmt eine Hand der Frau und drückt sie fest: Machen sie sich keine Sorgen, das ist nur eine kleine Wunde, die Blutung ist längst gestillt. Die Ärztin, die etwas schwitzt, sieht der mutig lächelnden Frau in die Augen. Plötzlich fragt sie: Sind Sie geschlagen worden? Sofort nickt die Frau, ihr Gesicht scheint zu leuchten, und noch einmal nickt sie und sagt mit sehr heller Stimme: Ja. Und die Ärztin fragt: Sie wissen, von wem sie geschlagen wurden? — Ja, antwortet die Frau ein zweites Mal, das weiß ich. Die Ärztin erhebt sich und wendet sich wieder dem Ort zu, da die Frau am Kopf verletzt wurde. Erneut geht sie in die Hocke und betrachtet die Verletzung auf das Genaueste. Behutsam fährt sie der Frau über das Haar, sie scheint eine weiterführende Untersuchung vorzunehmen. Und wie sie so arbeitet, schliesst die verletzte Frau ihre Augen, als wollte sie vielleicht verbergen, was sie fühlte. So, mit geschlossenen Augen, sagt sie plötzlich mit fester Stimme: Ich würde doch gerne einen Tee trinken! — Das ist gut, antworte ich und stehe auf. Die Ärztin ist indessen mit ihrer Untersuchung zu Ende gekommen, sie setzt sich auf den freigewordenen Stuhl und stellt mit nüchterner Stimme fest: Sie sind nicht zum ersten Mal geschlagen worden! — Die Frau nickt wortlos. Und die Ärztin sagt: Sie sind sehr oft geschlagen worden! Immer wurden Sie auf den Kopf geschlagen, kann das sein? — Wieder nickt die Frau und beginnt zu weinen. — stop
morgenstaubgeschichte
ulysses : 12.22 UTC — Was für ein schöner Sonntag. Das noch tiefstehende Licht der Sonne, die am frühen Morgen in den Centralbahnhof leuchtet, als würde sie immer dort in genau dieser Höhe von Osten her durch die Fenster scheinen. Eine Sonne nur für diesen Ort. Da ist feiner Rauchstaub, der aus einem Laden heraus durch die Halle schwebt. Die Raucher rauchen, indessen sie neue Rauchwaren besorgen. Bitter schmeckende Holzpapierluft. So muss das geduftet haben, genau so oder so ähnlich, ohne moderne Parfüme, wenn unter den Hafenhimmeln des 16. Jahrhunderts, nach langer Fahrt, die Bäuche der Handelsschiffe geöffnet wurden. Die Entzündung des getrockneten, des weitgereisten Materials vor der Mundöffnung eines Europäers führte zu einem Vorgang, den man zunächst als die Sauferei des Nebels bezeichnete, als Rauch- oder Tabaktrinken. Ja, was für ein schöner Sonntag. Ich gehe zu ungewohnter Zeit mit Tagaugen durch meine Stadt, als würde ich durch Brooklyn spazieren. — stop
nuriye gülmen
romeo : 0.01 UTC — Ich kenne Jasus, der eigentlich ganz anders heisst, seit einigen Monaten flüchtig. Wir begegnen uns von Zeit zu Zeit am Bahnhof oder im Zug. Einmal kamen wir auf seine Heimatstadt Istanbul zu sprechen. Er sagte, dass er sich freuen würde, wenn ich Istanbul gerade jetzt in dieser schwierigen Zeit besuchen würde. Jasus ist glühender Verehrer des türkischen Präsidenten, der habe sein Land modernisiert, er könne endlich stolz sein auf die Türkei. Ich erwähnte, dass ich Oran Pamuk sehr gerne lesen würde, da wurde Jasus vorsichtig, der Pamuk wäre ihm nicht geheuer, der soll kritisch über die Türkei geschrieben haben, obwohl er doch selbst Türke sei. Nun saßen wir kürzlich auf einer Bank im Flughafenterminal 1. Ich fragte Jasus, ob er bereit wäre, einen Film der Deutschen Welle anzusehen, den ich auf meinem Notebook gespeichert mit mir führte. Der Film berichtet von einer Dozentin der Literaturwissenschaften, die seit vielen Monaten in Ankara öffentlich darum kämpft, an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu dürfen. Sie wurde deshalb jeden Tag verhaftet und erst nach je 5 Stunden wieder freigelassen. Von Nuriye Gülmen hatte Jasus noch nie gehört, aber er wollte den Film betrachten. Ich stellte mein Notebook also zwischen uns ab, und Jasus verfolgte den Film wortlos von der ersten bis zur letzten Minute. Ich meinte zu bemerken, dass ihm der Film nahe zu gehen schien. Als der Film zu Ende war, wollte er wissen, warum ich ihm die Aufnahme gezeigt habe. Ich sagte: Ich finde, diese Frau hat Recht, sie kämpft um ihre Existenz, sie kämpft für Gerechtigkeit und Freiheit, sie ist ungeheuer mutig. Ja, antwortete Jasus, sie ist mutig und sie ist verrückt. Er machte ein Pause. Er schien zu überlegen. Dann fragte er, was mich denn eigentlich diese ganze Geschichte angehen würde? Diese Geschichte gehe nur ihn und seine Landsleute etwas an. — Ein Funke Hoffnung! — Seit vier Wochen befindet sich Nuriye Gülmen im Hungerstreik. — stop
modern
charlie : 8.01 UTC — Die seltsame Sprache der modernen Welt im alltäglichen Gebrauch. Einer sagt, nachdem er sich verliebte, er werde mutig in Gefühle investieren. Ein anderer trifft sich mit Freunden und spricht am Telefon davon, sich gerade in einem Meeting zu befinden. Vor zwei Tagen wurde ich von einer Freundin gebrieft, sie habe sich von ihrem Mann getrennt. Ein Cluster von Komplikationen verhinderte die Zulassung seines Sohnes zur Prüfung am MIT, berichtet ein guter Bekannter. Er schreibe ein Memo, verspricht ein Nachbar, ich weiss nicht worüber. Unlängst war ich versucht, folgendes zu sagen: Ich arbeite in der erzählenden Informationsverarbeitung. Ich sagte dann: Ich schreibe Geschichten. — stop
bildschirmlicht
himalaya : 7.30 UTC — Erster Twitterfilm: Ein Mädchen, das in Aleppo lebt, sagt: Vielleicht ist es das letzte Mal, dass Sie mich lebend sehen! Das Mädchen scheint in einem Keller zu sitzen. Sie ist zum Zeitpunkt dieser Aufnahme vielleicht acht Jahre alt, vermutlich ist Abend. Der Angriff der syrischen Armee auf die Stadt wird für die kommende Nacht erwartet. — Ein zweiter Twitterfilm: Auf einer Bahre in einem Krankenhaus liegt eine Frau, fahle Haut, sie sieht in die Kamera und sagt: Bitte helfen Sie uns! Im Hintergrund sind Detonationen zu hören. — Ein dritter Twitterfilm: Der junge Mann, der erzählt, dass die Kämpfe in der Stadt wieder zugenommen haben, sieht sich immer wieder um. Er müsse jetzt von der Straße, hier sei es zu gefährlich. Es wird sogleich dunkel auf dem Bildschirm, indem der junge Mann die Linse seiner Kamera mit einer Hand bedeckt. — Ich denke in diesem Moment, dass das Licht der handlichen Filmmaschinen immer näher an mein Leben herankommt, jederzeit mögliches Licht, das auf Servern der Welt auf mich wartet. Ich spreche darüber mit einem Freund, dessen Aufgabe ist, Filme aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet zu analysieren. Ja, soviel mögliches Licht ist in der Welt, sagt N., dass man sich die Seele an diesem Licht sehr schwer verbrennen kann. Er habe vor einem Jahr einen Ruhetag pro Woche definiert, da er seine Computermaschine nicht anschalte. Was machst Du an diesen Tagen, fragte ich. Ich lese, ich gehe mit meiner Lebensgefährtin spazieren, ich liege im Sommer stundenlang neben ihr in einer Wiese und schaue den Wolken zu. Dann wird Nacht und ich sitze morgens wieder vor meinen Bildschirmen und rufe Filmlicht auf, das neu hinzugekommen ist. Da sind zwei Männer, sie halten den Splitter eines Geschosses vor die Kamera ihres Mobiltelefons. Ich stoppe den Film, notiere Schriftzeichen in gelber Farbe, Rudimente, betrachte die Umgebung der Männer, versuche herauszufinden, wo sie sich vielleicht befinden, ob sie sich wirklich dort befinden, wo sie zu sein behaupten, welche Tageszeit. Ich habe Algorithmen entwickelt der Filmbefragung. Ich werde dadurch schneller. — stop
ein mann des lichts
bamako : 0.01 UTC — Im Alter schwindet seine Sehkraft. Es bleiben ihm noch Hörbücher. Dieser würdevolle, feine Mann. Wie er leise und langsam von meinem Fernsehbildschirm aus spricht: Dadurch kompensiere ich … damit ( mit den Hörbüchern ) eigentlich meine … Verzweiflung. Der große Kameramann Michael Ballhaus ist gestorben. — stop
jangbongdo
ai : HAITI
MENSCHEN IN GEFAHR : “Die Menschenrechtsverteidiger David Boniface und Juders Ysemé fürchten nach dem plötzlichen Tod ihres Kollegen Nissage Martyr um ihr Leben. Nissage Martyr starb einen Tag, nachdem die drei in den USA gegen Jean Morose Viliena, den ehemaligen Bürgermeister ihrer Heimatstadt in Haiti, Klage wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen eingereicht hatten. Die Männer berichten seit 2007 von wiederholten Morddrohungen und Angriffen durch den ehemaligen Bürgermeister. Sie müssen daher angemessenen Schutz erhalten. / Am 22. März reichten David Boniface, Juders Ysemé und Nissage Martyr Klage gegen Jean Morose Viliena, den ehemaligen Bürgermeister ihrer Heimatstadt Les Irois im Südwesten von Haiti, bei einem Bundesgericht in Boston im Nordosten der USA ein. Die Klage wurde in den USA eingereicht, weil Jean Morose Viliena Anfang 2009 in die USA geflohen war, nachdem die haitianischen Behörden wegen des Mordes an David Bonifaces Bruder im Jahr 2007 und eines Angriffs auf den Gemeinderadiosender im Jahr 2008 ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet hatten. Bei diesem Angriff verlor Nissage Martyr ein Bein und Juders Ysemé ein Auge. Die drei Männer werfen Jean Morose Viliena vor, dass er für eine Reihe von Angriffen gegen seine Kritiker_innen verantwortlich ist, darunter “Brandstiftung”, “außergerichtliche Hinrichtungen”, “versuchte außergerichtliche Hinrichtung”, “Folter” und “Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Die Verbrechen wurden auf seine Anweisung hin von einer bewaffneten Gruppe verübt, die mit seiner politischen Partei in Verbindung steht. Am 24. März 2017, einen Tag nachdem die Klage gegen Jean Morose Viliena eingereicht worden war, erkrankte Nissage Martyr plötzlich schwer und starb auf dem Weg ins Krankenhaus von Les Irois. Seine Familie gibt an, dass er zuvor ganz gesund war. Mit Hilfe ihrer Rechtsbeistände fordert die Familie eine sofortige unabhängige Autopsie und umfassende Untersuchunge seines Todes. Die örtliche Staatsanwaltschaft hat zwar die Autopsie genehmigt, doch bis jetzt keine Untersuchung aufgenommen. / David Boniface und Juders Ysemé sind Menschenrechtsverteidiger und werden als Unterstützer der Partei Organisation du Peuple en Lutte, einer Oppositionspartei in Haiti, betrachtet. Seit 2007 berichten die beiden Männer und Nissage Martyr, dass Jean Morose Viliena und seine Verbündeten ihnen Morddrohungen schicken und sie tätlich angreifen und versucht haben, sie zu töten, weil sie ihre legitime Arbeit als Menschenrechtsverteidiger ausführen. Im Zuge dessen haben sie das erste Gemeinderadio initiiert sowie die strafrechtliche Verfolgung von Jean Morose Viliena und seinen Verbündeten angestrebt, um der Gewalt in der Gemeinde ein Ende zu bereiten. 2015 gewährte die Interamerikanische Menschenrechtskommission den drei Männern und ihren Familien Schutzmaßnahmen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. David Boniface und Juders Ysemé berichteten Amnesty International, dass die haitianischen Behörden aufgrund der grassierenden Straflosigkeit im Land jedoch nichts unternommen hätten, um diesen Maßnahmen Folge zu leisten. Die beiden Männer sind nach Nissage Martyrs Tod mit ihren Familien aus Les Irois geflohen, da sie um ihre Sicherheit fürchten. Sie gaben an, dass der einzige Weg zu Gerechtigkeit ihre Aussage gegen Jean Morose Viliena sei, doch dass sie ohne angemessenen Schutz fürchten, getötet zu werden, noch ehe sie ihre Aussage machen können.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 24. Mai 2017 hinaus, unter »> ai : urgent action
vom suchen und finden
zoulou : 15.01 UTC — Das Suchen nach Gegenständen in Gärten, oder das Suchen nach Menschen in Wäldern oder Parklandschaften, wo sie sich freiwillig versteckten, Vergnügen, Freude, Glück, wie das Suchen nach Büchern oder Zitaten in Antiquariaten, die zum Zeitpunkt der Suche noch nicht digitalisiert worden waren. Einmal hörte ich eine Freundin an ihrem 85. Geburtstag wie sie sich nach ihrer Brille erkundigte. Ich wusste genau, wo sich die Brille in dem Moment ihrer Frage aufgehalten hatte, aber meine alte Freundin schimpfte, während sie nach ihrer Brille suchte, so freundlich vor sich hin, und erzählte Geschichten, die sie entdeckte, obwohl sie doch nach ihrer Brille suchte, dass ich mir ein wenig Zeit liess, um ihr zu sagen, wo sie ihre Brille sofort finden könnte. Ich erinnere mich, wie ich als Kind einen Wald durchsuchte, in dem ein weiterer, etwas kleinerer Wald enthalten war, ein Efeudschungel nämlich, es war ein feuchtwarmer Tag und die Luft duftete nach Löwenmäulchen. Anstatt der erwarteten Schneckengehäuse, fand ich eine Herde goldbrauner Frösche vor, die sich vermutlich über mein Erscheinen wunderten. Vor drei Tagen bemühte ich mich längere Zeit um die Erfindung einer Telefonnummer, die in der Stadt Chicago vorkommen könnte, aber garantiert nicht existiert. Und noch heute, vor drei Stunden, suchte ich nach einer größeren oder kleineren Stadt, in der folgende Adresse existiert: Im Schnee 10. Obwohl ich zahlreiche, auch spezielle Suchmaschinen verwendete, war ich nicht erfolgreich gewesen. Ich sollte vielleicht sagen, dass manchmal wunderbar ist, nicht zu finden was man sucht, es könnte dann reine Erfindung sein. — stop
anjuta
ulysses : 5.25 UTC — Es ist Montag, früher Morgen, und die Vögel pfeifen. Ich bin noch nicht ganz wach, ich habe gut geschlafen, ich hatte einen lustigen Traum: In diesem Traum war ich versucht, Anton Tschechow einen Brief zu schreiben. Tatsächlich habe ich mich im Traum an meine Schreibmaschine gesetzt und notiert: Lieber Mr. Tschechow, gestern las ich eine traurige Geschichte, die Sie einmal aufgeschrieben haben. Sie erinnern sich vielleicht an Anjuta? Sie lebte in der Pension Lissabon mit einem Studenten der Medizin in einem schmutzigen Chaos. Eigentlich wollte ich nachlesen, wie Sie vom anatomischen Studium berichten, vom Lernen oder Pauken, eine Ärztin hatte mich auf ihre Geschichte aufmerksam gemacht. Was mich dann sehr berührte, war das Mädchen Anjuta selbst, ihre Geduld oder Duldsamkeit, wie traurig, wie sie als menschlicher Gegenstand angesehen und behandelt wurde, eine gute Geschichte! Es ist noch etwas Weiteres geschehen, ich erinnerte mich im Traum einmal, vor einigen Jahren, Ihre gesammelten Erzählungen, Novellen, Theaterstücke, Essays in digitaler Spur aus dem Internet geladen zu haben, 19657 Positionen. Ich bemerkte damals, dass es tatsächlich möglich ist, für den Preis einer Pistazieneiskugel Joseph Roths Gesammelte Werke auf ein Paperwhite – Lesegerät zu holen. James Joyces Ulysses kostet soviel wie keine Eiskugel. Virginia Woolfes Mrs. Dalloway eine halbe Kugel. Ihre, Anton Pawlowitsch Tschechows Kurzgeschichten, Novellen, Dramen wiederum eine vollständige Kugel / Downloadreisezeit : 5,2 Sekunden. Sehr beunruhigend, wie ich finde. Gleich werde ich aufwachen, ich werde einen Cappuccino trinken, und dann werde ich Ihnen diesen Brief, den ich träumte, notieren an einem frühen Morgen bald, wenn Montag sein wird bei leichtem Regen, und die Vögel pfeifen. — stop
kamelschnellbahngeschichte
marimba : 6.28 UTC — Der junge Mann, der mir eine Geschichte von Kamelen erzählt, ist 22 Jahre alt. Er trägt ein leuchtend blaues Hemd, das sieht an ihm sehr gut aus, weil seine Hautfarbe dunkel ist, weil er ein Mann ist, der tatsächlich aus Afrika kommt, der aus Afrika geflüchtet ist, obwohl er ganz sicher nicht aus Afrika flüchten wollte. Wäre er nicht aus der Not heraus geflüchtet mit Zügen und Bussen und zwei Flugzeugen, dann wäre er jetzt tot. Weil er nicht tot ist, sitzt er mit mir in einer Schnellbahn und wir sprechen kurz über sein Land, das ich unbedingt einmal besuchen werde, wenn es dort so sein wird, dass man mich nicht sofort umbringen wird. Der junge Mann kommt aus Somalia, sein Großvater hütete Kamele. In seiner Kindheit trank er immer viel Kamelmilch. Es gibt, sagt er, nichts Gesünderes auf der Welt als Kamelmilch. Sie schillert nicht wie die Milch der Kühe, sie ist etwas bitter und süß zur gleichen Zeit. Er sagt noch, dass er gerade sein Geld zähle, er wolle nach Afrika reisen. In Afrika angekommen werde er soviel Kamelmilch trinken, wie in seinen kleinen Bauch überhaupt jemals hinein passen wird. Und jetzt ist die Schnellbahn am Ziel, und der junge Mann steigt aus. Ich seh noch seine Hand, wie sie mir winkt über die Köpfe der Pendlermenschen hin. — stop
=
sierra : 0.01 UTC — w a n g e n f e u e r
beckett
charlie : 6.32 UTC — In dem kleinen Café, das den Namen Sahara trägt, wird Menschen, die am Flughafen arbeiten, Rabatt gewährt. Iclal ist müde, sie kommt gerade von der Arbeit. Außerdem schneit es in einer Weise, als wäre Winter. Sie zieht ihren Mantel aus und die Handschuhe, legt sie auf den Tisch vor sich hin und sagt: Ich will über die Abstimmung in der Türkei nicht sprechen. Sprechen wir über meine nächste Reise, ich weiss nicht wohin ich reisen soll, ich bin seit ich denken kann, immer in die Türkei gereist, diesmal werde ich nicht in die Türkei reisen. — Ist es zu gefährlich, frage ich. — Nein, antwortet lcal, es ist nicht gefährlich für mich, ich will nicht. Wohin könnte ich nur reisen im Sommer? — Ich sage: Venedig ist schön, aber eher im späten Herbst, vielleicht magst Du in die Berge gehen, Du könntest auf einer Hütte im Karwendelgebirge wohnen und wandern, das ist ganz wunderbar dort. In diesem Moment entdecke ich einen Schriftzug von weisser Farbe, der Iclals rosafarbenes T‑Shirt bedeckt: Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better. Das sind wunderbare Worte, sage ich, Samuel Beckett hat sie geschrieben. — Ja, wirklich, antwortet Ical, wer ist das? Sie sieht an sich herab. Ich habe nicht darauf geachtet, was da steht, das ist Englisch, ich kann kein Englisch, was steht da, das Beckett geschrieben hat? — Ich überlege, wie ich Becketts Sätze korrekt übersetzen könnte. ich überlege lange. Das ist offensichtlich schwierig, sagt Iclal. Nein, sage ich, das ist Poesie, da muss man sehr behutsam mit den Wörtern umgehen, man muss sehr genau sein. Kurz darauf werde ich mit meiner Übersetzung fertig. Iclal hört zu. Iclal beginnt zu lachen. Bald bekommt sie kaum noch Luft wie so lacht, und ich dachte noch, wie gerne ich ihr Lachen in diesem Moment auf Tonband aufgenommen hätte — stop
montauk
von rechenkernen
lima : 18.12 UTC — Apfelkern. Mandelkern. Rechenkern. — Ich stellte mir vor, wie ich mit feinsten Werkzeugen einen Kirschkern öffne, wie ich in der Kirschkernhöhle ein gefaltetes Blatt Papier ablege, auf dem mit kleinsten Schriftzeichen ein Gedicht verzeichnet wurde. Wie ich nun den Kern verschliesse, wie ich ihn zurücklege in seine Frucht, wie ich jetzt zufrieden und glücklich bin. — Oder die Vorstellung der Rechenkerne eines Prozessors. Wie ein oder zwei Romanentwürfe möglicherweise heimlich in ihren Registerwerken versteckt sein könnten, kuriose Idee. Das habe ich mir ausgedacht, weil ich gestern Abend hörte, dass Rechenkerne für mathematisch-logische Spracheindrücke zu jeder Zeit empfänglich sind. Darüber sollte unbedingt weiter nachgedacht werden. — stop
landau
ulysses : 16.05 UTC — Wenn ich Menschen, junge oder ältere Menschen frage, ob sie den Moment erinnern, da sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben selbst die Schuhe gebunden haben, sind sie erstaunt, nicht nur deshalb, weil ich mich nach einem weit zurückliegenden Ereignis erkundigte, sondern auch, weil sie nicht selten sofort in der Lage waren, eine Geschichte vom Schuhbinden zu erzählen. Menschen, welche sie lehrten, ihre Schuhe zu binden, auch die Farbe der Schuhe oder Orte, eine Treppe, die Küche oder ein Garten kehrten ins Bewusstsein zurück. Wer sich die Schuhe selbst zu binden vermag, kann das Haus verlassen, kann eine komplexe Figur mit Händen gestalten, überall auf der Welt scheint die Methode der Schleife zu existieren, ja, Schleifen sind komplexe Strukturen, die einerseits sich selbst erhalten mittels Umarmung, andererseits sich auf einen Zugwunsch hin sofort aus ihrer Bindung lösen. Ich selbst habe mich in Landau unter einem Apfelbaum auf einem Bänkchen von Holz sitzend in der Schuhbindung geübt, meine Damalsschuhe waren blau und rot, die Gänseblümchen weiss, der Löwenzahn gelb, die Luft roch nach Stall und meine Tante duftete nach Moos und 4711. Gidhsti, die in Eritrea gross geworden ist, sagte: Was für eine seltsame Frage! Wir hatten nichts zu binden, wir sind barfuss gewesen oder trugen Sandalen. Ich war ungefähr 20 Jahre alt als ich lernte, meine Schuhe zu binden. Darauf muss man erst einmal kommen an einem Sonntagnachmittag. — stop
nachtfaltung
sierra : 20.22 UTC — Etwas Merkwürdiges hat sich ereignet. Ich will das schnell erzählen. Es ist nämlich so, dass ich einer Figur, die in einem Textgeschehen existiert, vor Monaten einmal, ich glaube im November bereits, einen Namen gegeben habe, welcher recht dunkel leuchtet, ein mächtiger, unheimlicher Name. Es handelt sich um die Zeichenfolge Mandrill. Immer wieder einmal erzählte ich in der langsamen Entwicklung des Textes von einem Mann dieses Namens. Als Mandrill gestern unvermittelt in einer Weise handelte, die ich nicht erwartet hatte, zart und einfühlsam, schmerzte der Name, als hätte ich meiner Figur Unrecht getan. Heute morgen war die wilde Verwerfung, die ich gestern noch spürte, wieder sehr schön gefaltet. Ich trat ans Fenster im ersten Licht der Sonne, der Himmel war voll Wasserdampfspuren, welche Nachtfernflüge an den Himmel zeichneten. Kein Mensch auf der Straße, aber zwei Eichhörnchen, die auf einem Briefkasten saßen. Das habe ich noch nie so gesehen, gestern noch hätte ich behauptet, Eichhörnchen würden niemals auf Briefkästen sitzen. Deniz Yücel weiterhin in Haft. — stop
2 engel
sierra : 16.15 UTC — Ein Freund zeigte eine Mappe, die er stets mit sich nimmt, um zur Arbeit zu fahren. Schau, sagte er, bei diesem Fach hier handelt es sich um ein operatives Fach, in welchem sich vier weitere Fächer befinden, dort ruhen Schlüssel, Portemonnaie, Codekarten, Handytelefon. Das zweite größere Fach linkerhand birgt Abteile für meine Reisebücher für die Staßenbahn, 1 Kühlfach für Schokolade, 1 Fach, in welchem 2 fingerlange Engel hausen, das öffnen wir lieber nicht, und in diesem Fach hier nun befinden sich weitere sehr wesentliche Dinge, Blütensamen beispielsweise, 1 Streichholzschachtel, 1 Kompass und 1 Wanderkarte, 1 Kaffeethermoskanne, 1 Fotoapparat, 28 Beutel Trinkwasser des Jahres 1988, 16 Portionen Fertignahrung, 3 Kilogramm Trockenbrot, 36 Tabletten gegen Seekrankheit, 1 schwimmfähiges Messer, 5 Signalfackeln in rot, 2 Signalfackeln in gelb, 1 Signalflöte, 1 Schöpfgefäß, 1 Rettungswesten, 1 Wurfring mit Leine, 1 wasserdichte Taschenlampe, 14 Batterien, 1 Gasfeuerzeug, 5 Fettstifte, 1 Überlebenshandbuch in finnischer Sprache, 1 Funkschreibmaschine mit Handkurbel. — Seltsame Geschichte. — stop
iphepha
ulysses : 17.35 UTC — Ich stelle mir vor, jeder Gedanke jedes einzelnen Menschen dieser Welt würde für eine Stunde nur zu Wörtern auf Papier. Wie viel Papier? — stop
kaktusblüte
nordpol : 18.52 UTC — Ein Zufall führte mich in einem Moment zu Herrn K., als er gerade zum ersten Mal sein neues Bürozimmer betrat. Er führte einen Karton mit sich, nicht größer als eine Schuhschachtel. Aus diesem Behältnis hob er eine Notebookschreibmaschine, ein Mäppchen mit Bleistiften, eine farbige Fotografie, sowie einen fingerhohen Kaktus, der blühte. Herr K. prüfte die Schubladen des Schreibtisches, der zu dem kleinen Zimmer mit Ausblick auf einen Park gehörte, sie waren leer. Seinen Kaktus stellte er auf die Fensterbank, die Fotografie neben ein Telefon, das sich bereits im Zimmer befunden hatte, ehe Herr K. eingetreten war. Er setzte sich auf einen Stuhl und sagte: Wissen Sie, mehr brauche ich nicht. Das sollten Sie immer bedenken, nur niemals heimisch werden, nur nicht glauben, dass Ihnen dieses Büro gehört. Im Gegenteil, Sie selbst gehören diesem Zimmer wie jeder andere, der nach Ihnen an dieser Stelle arbeiten wird. Wer in und von diesem Zimmer aus operiert, muss sich bewusst sein, dass er jederzeit ebenso plötzlich wie er gekommen ist, auch wieder gehen wird. In dieser Postion, die Sie hier oben bekleiden, haben Sie Erfolg oder sie haben keinen Erfolg. Binden sie sich also nicht, arbeiten Sie konzentriert und genießen Sie die Aussicht, aber, um Himmels Willen, fühlen Sie hier niemals zu Hause! — Diese Geschichte ereignete tatsächlich an einem Freitag im Juli des vergangenen Jahres. — stop
=
delta : 0.02 UTC — g e h i r n k a m m e r
ein mädchen
alpha : 17.15 UTC — Auf dem Heimweg begegnete ich in der Nähe einer Kreuzung einem Mädchen namens Lara, das ich sofort wiedererkannte. Lara stand auf der Straße und zeichnete mittels eines Putzgerätes Herzen von Seife auf die Frontscheiben schnurrender Automobile. Vermutlich versuchte sie in dieser Weise einen Kontakt zu Personen herzustellen, die in den Limousinen warteten, um einen Auftrag zur Säuberung der Fahrzeugscheiben insgesamt zu erhalten. Lara war nicht sehr erfolgreich, aber ebenso entschlossen und charmant, wie vor Jahren noch, als sie versucht hatte, im Bahnhof mein Portemonnaie zu rauben. Eigentlich sollte Lara um diese Uhrzeit in der Schule sein. Plötzlich bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde, sie lächelte zunächst, blickte dann aber äusserst grimmig in meine Richtung, nicht etwa weil sie in mir unmittelbar eines ihrer früheren Opfer erkannte, sondern vermutlich deshalb, weil sie in meinem Blick etwas entdeckte, das sie an frühere Tätigkeitsfelder erinnerte. Also flüchtete sie mittels eleganter Sprünge über zwei Motorhauben hinweg zur gegenüberliegenden Straßenseite hin. Dort drehte sie sich um und lächelte. — stop