nordpol : 18.55 UTC — Kühle Luft trifft ein, als sei sie mit dem Zug in einem Koffer nach Venedig gekommen. Langsam wird Abend. Auf den Schiffen fahren leicht bekleidete Menschen ihre Gänsehaut heimwärts. Von der Dampfschiffstation Crea aus führt mich eine Wanderung ohne Stadtplan in Händen, nur mit dem Kopf und nach dem Gefühl gehend, durch das Cannaregio in Richtung Castello. Wie lange Zeit, überlegte ich, werde ich tastend ostwärts durch die Gassen streifen, bis ich mein Ziel, die Dampfschiffstation Giardini, erreicht haben werde? Bald ist es kreisend spät geworden. Auf den Stufen der Chiesa del Santissimo Redentore, die noch warm sind vom Taglicht, flitzen Eidechsen herum. Im Zwielicht werden sie zu unruhigen Schatten, die man mit Farben der Vorstellung füllen könnte, an einem bunten Tag werden sie bunt. Es ist jetzt schon zu dunkel, um noch lesen zu können. Ich sollte mir eine Taschenlampe besorgen oder rein elektrische Texte auf meiner flachen Schreibmaschine lesen. Ob papierene Bücher existieren, die zu leuchten in der Lage sind? — stop
sammlung
fondamente nove
india : 22.58 UTC — Noch fällt mir nicht leicht zu erzählen, warum ich Zeit in Venedig verbringe. Ich bin ein Beobachter, deshalb bin ich in Venedig, zur Beobachtung des Wassers und auch der Schnecken, die sich im Wasser oder in der Nähe des Wassers bewegen. Ich berichte gleichwohl sehr gerne, dass ich nach Eidechsen Ausschau halte. Einmal bemerkte ich einen Mann, der mittels einer Lupe Taustücke untersuchte, die zerfasert, wie kranke Schlangen sich neben Vaporettostationen türmten. Auf einer Brücke nahe des Fährenterminals Fondamente Nove wartete ein Fotograf auf größere oder kleinere Schiffe, die er senkrecht von oben her fotografierte. Nach zwei oder drei Stunden, die ich in seiner Nähe verbrachte, nickte er mir plötzlich zu. Kinder turnten auf rostigen Eisenstangen. Ich überlegte, ob sie wohl gelernt haben, mit einem Fahrrad zu fahren? Das Wasser unter der Bewegung der Schiffsschrauben pulsiert für Bruchteile von Sekunden zu Kuppeln von Glas. Noch fällt mir nicht leicht zu erzählen, warum ich eigentlich Zeit in Venedig verbringe. Schwankende Wirklichkeiten, vertraut. — stop
sacca fisola
echo : 18.12 UTC — Mit einem Marinaio der Linea 2 um kurz nach drei kam ich deshalb ins Gespräch, weil der junge Mann beobachtet hatte, wie ich eine halbe Stunde lang meinerseits seine Hände beobachtete, wie sie in einer eleganten oder lässigen oder ganz einfach erprobten Art und Weise bei Annäherung seines Dampfschiffchens an eine Haltestation, an diesen schwingenden und tanzenden und auf und ab wippenden Steg, der noch nicht Land ist aber auch nicht mehr Schiff, ein Tau zur Schleife formen, um es aus kurzer Distanz um einen eisernen Höcker zu werfen und zu knoten. Es geht dann sehr schnell, wie sich das Tau knarzend windet, wie es sich zuzieht, weil es nicht anders kann, weil es in sich gefangen ist, sirrende Geräusche, die ich vor Tagen im Traum zu vernehmen meinte, weswegen ich erwachte und glaubte auf meinem Bett würde eine gewaltige Seemöwe Platz genommen haben, die mich mit hellblauen Augendioden anblitzte. Es war dann doch das Leuchtwerk eines Weckers gewesen, mit dem ich noch nicht vertraut geworden bin. Ich weiß nun, das Knotengebinde wird unter den Seeleuten der Kanäle als Dopino oder wahlweise Nodo di otto bezeichnet. Der junge Mann, der sich über meine Begeisterung freute, führte den Knoten mehrfach in Zeitlupe vor, hin und zurück, sodass ich die Seele des Knotens nach und nach verstehen konnte. Es war ein Freitag, es regnete leicht. Ich fuhr dann nach Giudecca zurück, besuchte einen kleinen Markt, ich glaube, ich war der einzige Fremde an diesem Ort gewesen. Ich kaufte einen Pecorino Siciliano, 100 Gramm. Auch heute leichter Regen, der unverzüglich im Meer verschwindet. — stop
academia
india : 5.16 UTC — Wasserbus. Dampfschiffchen. Botello. Vaporetto. Erstaunliche Wörter. — Einmal notierte Roland Barthes: Sprache existiert. Und damit beschäftigen wir Strukturalisten uns, wir denken darüber nach. Die meiste Zeit reden die Menschen, ohne zu wissen, dass die Sprache existiert, wir reden ohne zu wissen, dass wir reden. Wir wissen nur, dass wir Gedanken und Gefühle übermitteln. Aber wir reden, ohne das Geringste über unsere eigenen Worte zu wissen. — Ich höre sehr gerne menschliche Stimmen, deren Sprache ich nicht verstehe, wie Musik. Heute beobachtete ich Zahlzeichen, die Vaporettos stolz an ihrem Bug seitwärts tragen. 264 oder 58 oder 182. — stop
cimitero s. michele
victor : 22.24 UTC — Auf der Insel Giudecca existiert an eine Brücke gelehnt ein Aufzug für Menschen, die nicht in der Lage sind, Treppen zu steigen. Der Aufzug soll nun seit beinahe 3 Jahren außer Dienst genommen sein. Ich hätte davon keine Kenntnis erhalten, wenn ich nicht zufällig hörte, wie ein alter Mann sich wegen dieses kranken Aufzuges empörte. Er saß in einem Rollstuhl auf einem Balkon nur wenige Meter entfernt von der Brücke und warf Brot in die Luft, welches von Möwen im Flug aufgefangen wurde. Der Mann schimpfte in englischer, bald in französischer Sprache, als ob er ganz sicher gehen wollte, dass jene Menschen, die die Brücke überquerten, seine Nachricht verstehen würden. An diesem Abend, da der wütende Mann die Administration der Stadt Venedig verdammte, wäre ich sehr gerne sofort in das Wasser zu meinen Füßen gesprungen, um den Reiz der Mückenstiche, die ich während eines Besuches des Friedhofes San Michele hinnehmen musste, durch Kühle zu lindern. Es war am Nachmittag gewesen, ich plante das Grab Joseph Brodskys zu besuchen, musste aber bald vor dutzenden Raubtieren flüchten, die sich auf zartschillernden Flügeln kaum hörbar näherten in einer Weise, die mir koordiniert zu sein schien. Polizisten suchten auf dem Friedhof nach zwei Frauen. Ich hatte kurz zuvor beobachtet, wie sie den Friedhof betraten. Sie trugen schwarze Kleider und schwarze Stiefel und schwarze Handschuhe, auch ihr Haar war schwarz gefärbt und ihre Augen wie von Kohle umrandet, sie waren vollständig in Schwarz dargestellt, aber ihre Haut war weiß gepudert. — Vor dem Fenster pfeifen leise Vögel wie Sprechen. — stop
mercato
echo : 22.08 UTC — Immer der Nase entlang spazierte ich zum Markt, wo nachmittags Seemöwen stolzierten über den Boden, den sie längst so gründlich durchsucht hatten, dass Fisch gerade noch als Erinnerung feinster Moleküle in der Luft zu finden war. Da lag noch etwas Eis auf dem Boden, erstaunlich. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an einen frühen Morgen vor vielen Jahren. Ich trat damals zur Zeit der Dämmerung auf den Markusplatz. So dicht ruhte Nebel über der Lagune, dass ich nur wenige Meter weit sehen konnte. Ich ging sehr vorsichtig voran. Vor irgendeinem Kaffeehaus hielt ich an, setzte mich auf einen Stuhl und wartete. Irgendwo im Luftwasserzimmer, in dem ich Platz genommen hatte, hörte ich Stimmen von Männern, die miteinander sprachen. Auch waren immer wieder Pfiffe zu hören, wie Radare oder Signaltöne. Es waren Männer mit vermutlich Reisigbesen, die den riesigen Platz Kraft ihrer Arme und Hände fegten. Auch Melodien waren zu hören gewesen. Ich wartete ungefähr eine Stunde und lauschte. Nie habe ich einen dieser Männer gesehen, aber ich habe von ihnen vielfach erzählt. Es scheint überhaupt die Zeit, da man sich in Venedig noch verlaufen konnte, vorüber zu sein für alle Menschen, die über eine Schreibmaschine mit GPS-Verbindung verfügen. Es ist, glaubt mir, ein Vergnügen, diese Radarschreibmaschine auszuschalten und loszugehen und nach da und dort zu laufen, stets in dem Glauben, man wüsste, wo man sich befindet. Es bleibt dann nichts weiter zu tun, als nach einer halben Stunde die Schreibmaschine hervorzuholen und nachzusehen und sich zu wundern und zu freuen. — stop
san marco
echo : 8.15 UTC — In der vergangenen Nacht habe ich geträumt, wunderbare 5 Jahre lang geschlafen zu haben. Als ich erwachte fühlte ich mich wohl, dann bemerkte ich, dass ich im Wasser stand bis zum Bauch. Das Wasser war warm, es roch nach Tang und nach Salz und nach Öl in diesem Augenblick des Erwachens. Ich hörte vor dem Fenster die Stimmen spielender Kinder. Ich sah mich um und dachte: Was für ein schöner Anblick, all diese Lichter, es muss Nacht sein, Schiffe fahren herum, die von Vögeln gezogen werden, als wären sie Pferde. Dann erwachte ich erneut. Es war früher Morgen, anstatt Kinderstimmen, hörte ich die hell pfeifenden Stimmen einiger Seemöwen. Ich trat an ein Fenster, sah auf den Hof. Da waren tatsächlich Möwen. Sie versuchten Mülltüten zu öffnen. Manche der Mülltüten lagen auf dem Boden, andere hingen in den Bäumen. Ich fand, die Möwen waren nicht sehr geschickt im Öffnen der Mülltüten. Plötzlich hüpften Kinder auf der Gasse herum. Sie trugen Schulranzen auf dem Rücken und Telefone mit Bildschirmen in ihren Händen. Immer wieder blieben sie stehen und steckten die Köpfe zusammen und lachten. Ich bemerkte, dass der Oleander vor dem Westfenster im Hof zu blühen begann. Es waren rote Blüten. Gestern Abend habe ich Menschen beobachtet, die auf dem Markusplatz um eine Öffnung im Boden standen, aus welcher Wasser sickerte. Sie fotografierten, aber das Wasser war sehr wenig, weswegen sie heranzoomen mussten. Auch waren da Menschen, die Tango tanzten nach Melodien eines Kaffeehaus-Orchesters. — stop
alberoni
india : 22.06 UTC — Regenwindtücher wandern in der Ferne vor Bergen, die sich am Horizont deutlich abbilden. Vom Lido aus, an der Meerenge zur Inselzunge Palestrina, öffnet sich ein weiter Blick nordwärts über die Lagune hin. Das Meer noch beruhigt, Muschelfangstationen setzen wie gezeichnet feine Akzente, hölzerne Finger, zu Reihen gruppiert, jenseits der Wasserbahnen, die mittels mächtiger Bohlen markiert worden sind. In Alberoni steige ich aus, spaziere an Leuchttürmen vorbei, eine Mole entlang, mächtige Steine. Da sind ein wilder Wald und sumpfige Mulden, in welchen Fischchen blitzen, Wolkenstrukturen, die des Himmels und die der Schuppenhautschwärme. Ich nähere mich Schritt für Schritt, irgendwo da unten in der Tiefe der Wasserstraße hin zum offenen Meer soll sich M.O.S.E. befinden. Eine junge Venezianerin erklärte noch: Bad Projekt! Und wie sich ihre Augen angesichts des Bösen verdunkelten, meinte ich meinen Wunsch, M.O.S.E zu besuchen, verteidigen zu müssen. Die Sonne geht langsam unter. Rötlich glimmende Stäbe nahe des schmalen Mundes zur Lagune erscheinen, als würden sie in der Nacht auf die Existenz des schlafenden Schutzriesen unter der Wasseroberfläche verweisen. Da liegt ein verlassener Kinderspielplatz in Meeresnähe unter Oleanderbäumen. Ein sandiger Strand, Muscheln, hölzernes Treibgut, drei Möwen, ein Angler, Fußspuren im feuchten Sand, die die aufkommende Flut bald verschlingen wird. Im Wasser selbst drei menschliche Köpfe, die lachen, und ein weiterer Kopf, der sich parallel zur Küste schwimmend hin und her bewegt, nur nicht die tiefere Zone dieses Meeres berühren, in dem so viele Menschen bereits ertrunken sind. In einem Regal des Kinderspielplatzes entdecke ich heimwärts gehend einige Bücher, kurz darauf einen Fußabdruck, den ich selbst hinterlassen haben könnte. — stop
lido santa maria elisabetta
tango : 22.06 UTC — Eine Welt ohne Automobile kenne ich nicht. Auch eine Welt ohne Strom ist mir nicht bekannt. Nach Stunden der Fahrt mittels Wasserbussen hin und her und herum, muss ich deshalb an Land gehen, muss meine Schreibmaschine mit Strom versorgen, um arbeiten zu können. Ich stellte mir einmal vor, wie ich unter Venezianerinnen und Venezianern sitze mit einer klappernden Olympiaschreibmaschine auf den Knien. Oder das Notieren von Hand in ein Notizbuch auf schwankenden Sitzgelegenheiten der Dampfschiffchen reisend. Man kann niemals erahnen, in welche Richtung sich die Welt bewegen wird. Plötzlich fährt die Stiftspitze unter der Hand sprunghaft vorwärts oder rückwärts, zieht eine Linie jenseits geplanter Schriftzeichen, bildet die Bewegung des Meeres auf Notizpapieren nach. In der digitalen Zeit werden verrückte Zeichen, Folge der Meeresbewegung von dem Korrekturgedächtnis der elektrischen Schreibmaschine unverzüglich korrigiert. Eine wunderbare Beobachtung ist, wie ich sicherer werde im Stehen auf dem Wasser im Bus. Beobachtete hunderte Male Knotenbindung in dem Moment, da sich das Batello dem Lande nähert, da es anzulegen wünscht, sodass es für einen kurzen Moment selbst zu Land wird. Wie wir Menschen dann über Brücken gehen, wie tanzen. Am Abend einmal spürte ich die uralte Stadt selbst unter mir schwanken. Da ich mich in diesem Augenblick dem Lido nähere, bemerke ich, dass ich die Erfindung der Automobile bereits nach wenigen Tagen vergessen habe. — stop
san zaccaria
nordpol : 23.01 UTC — Clara, ein Nashorn, welches vor langer Zeit als lebendes Schaustück durch Europa reiste, soll im Jahr 1751 zur Zeit des Carnevals auch in Venedig zu sehen gewesen sein. 1720 bereits wurde das Caffee Florian am Rande des Markusplatzes eröffnet. Man stelle sich einmal vor, wie das ausgewachsene Nashorn wiederkäuend in einem der mit Feingold verzierten Kaffeehausabteile steht und etwas vom Heu nascht, während es begafft wird. Man kann leichter Hand sehr viele Geschichten erfinden, wenn man mit Wasserbussen selbstvergessen durch Venedig reist, man könnte die ein oder andere Wirklichkeit mit einer weiteren Wirklichkeit verweben. An einem Nachmittag folgte ich einer Gruppe betagter Chinesinnen durch jene Gässchen, da sich Glaswarenmotive tausendfach reproduzieren. Ich dachte noch, ich sei von Vögeln umgeben, zwitschernde Stimmen. Plötzlich deutete eine der alten Frauen, sie trug gelbe Turnschuhe und schlohweisses Haar auf dem Kopf, nach einem Schriftzug, der auf der Rückseite einer Miniaturtheatermaske von Plastik zu lesen war: Made in China, diese Freude. Wie wunderbar die Küchen der Zwergköche, deren Räume da und dort sichtbar werden in der Dunkelheit schmaler Gassen. Einmal begegnete ich an einem späten Abend einem Mädchen, das leuchtete. — stop