~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : NACHTVOGEL
Eine merkwürdige Novembernacht neigt sich dem Ende zu. Ich habe, liebe Daisy, liebe Violet, in den vergangenen Stunden mehrfach den Versuch unternommen, einen Vogel von blauem Gefieder, der ein paar Runden durch meine Wohnung geflogen war, aufzufangen, das heißt, meine Hände in einer Weise darzubieten, dass der Vogel auf ihnen landen konnte, ohne auf den Boden zu fallen. Ich dürfte eine kuriose Erscheinung gewesen sein, wie ich mich verrenkte, wie ich dem Vogel folgte, wie ich Geräusche machte, als könnte ich in der Sprache der Vögel sprechen. Und jetzt ist es bald fünf Uhr und der Vogel ist immer noch hier. Er flattert herum, ein ausdauerndes Geschöpf von der Größe eines Tennisballes, orangefarbene Augen, gelber Schnabel, ein sehr besonderes Wesen, weil es sich um einen Vogel ohne Füße handelt. Sicher werdet Ihr Euch fragen, wie es möglich sein kann, dass der Vogel ohne seine Füße überleben konnte, dass er nicht längst in irgendeiner Ecke zerschellte, und überhaupt, wie es dazu gekommen war, dass der Vogel seine Füße verlor. Das alles liegt noch völlig im Dunklen. Ich habe keine Ahnung, nicht die geringste Vorstellung, sodass ich nun warten muss, solange warten, bis mir etwas einfällt, das noch fehlt, um vollständig werden zu können. Wie geht es Euch überhaupt? Denkt Ihr noch an die Frage, die ich Euch unlängst stellte? Ich wollte wissen, ob Ihr dort Oben für die Ewigkeit noch immer leiblich miteinander verwachsen seid? – Euer Louis, sehr herzlich, wünscht einen guten Tag!
gesendet am
11.11.2010
5.05 MESZ
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