kilimandscharo : 18.15 — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, aber eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — Das Radio erzählt an diesem warmen Tag im Mai von einer alten Dame, die in Mariupol in ihrer Wohnung erfroren sein soll. Vermutlich sei sie ausserdem verdurstet. — stop
Schlagwort: louis
ein pfeifen
tango : 2.12 — Nabokov schrieb vor einiger Zeit, er habe mir eine ungewöhnliche Uhr geschickt, ich solle ihm notieren, sobald sie angekommen sei. Vergangenen Freitag erneute Frage: Lieber Louis, ist die Uhr, die ich vor zwei Monaten sendete, angekommen? Gestern war Nabokovs Uhr endlich im Briefkasten, zollamtlicher Vermerk: Zur Prüfung geöffnet. Ich will an dieser Stelle bemerken, von der Öffnung des Päckchens war nicht die mindeste Spur zu erkennen, kein Schnitt, kein Riss, keine Falte. Im Päckchen nun eine Schachtel von hellem Karton, in der Schachtel Seidenpapiere, von Nabokovs eigener Hand vermutlich zerknüllt. In weitere Seidenpapiere eingeschlagen, besagte Uhr, wunderbares Stück, ovales Gehäuse, blechern, vermutlich Trompete, welches schwer in der Hand liegt. Kurioserweise fehlt der Uhr das Zifferblatt, weiterhin keinerlei Zeiger, weder Dioden noch Leuchtzeichen. Ich versuchte das Gehäuse der Uhr zu öffnen, vergeblich. Erstaunlich ist nun, dass, wenn ich auf das Gehäuse der Uhr Druck ausübe, sich ein schmaler Schacht seitlich öffnet, dem, wie zum Beweis der Existenz der Zeit, ein Streifen feinsten Papiers entkommt, auf welchem ein Uhrzeitpunkt aufgetragen worden ist. Sechssiebzehnzwölf. Allerbesten Dank, Nabokov, allerbesten Dank! — stop — Das Radio erzählt heut folgendes mitten in der Nacht mit der Stimme einer jungen Frau: Die Bomben wenn sie fliegen haben ein Pfeifen. Und wenn sie den Boden treffen und explodieren dann bebt die Erde. Und Splitter fliegen wie ein Fächer durch die Gegend und später sammeln Menschen diese Splitter in Eimern, die sie nach hause tragen. — stop
dubrowka — theater
tango : 22.18 UTC — Im Februar 2008 unterhielt ich mich mit einem Ermittlungsbeamten Organisierte Kriminalität. Wir kamen auf eine Geiselnahme im Moskauer Dubrowka — Theater am 23. Oktober 2002 zu sprechen. 132 Menschen waren ums Leben gekommen. Folgendes > b : Wenn Du zwei Geiseln nimmst und verhandelst, hast Du gute Überlebenschancen. Wenn Du damit drohst eine Geisel zu erschießen, wird’s gefährlich. Wenn Du eine Geisel erschießt, bist Du ein toter Mann. — louis : Und wenn ich schlafe, wenn Ihr kommt? — b : Betäubt? — louis : Betäubt. — b : Bombe? — louis : Bombe! b : Dann bist Du tot. Du bist eine Bombe, Du schläfst und Du bist tot. — Frauen waren damals unter den Geiselnehmern gewesen. Sie trugen Sprengstoffgürtel oder Sprengstoffwesten, und waren vermummt. Man berichtete, sie seien nach Moskau gekommen, um ihre Männer zu rächen, die in Tschetschenien von russischen Soldaten getötet worden waren. — Das Radio erzählt an diesem Tag, heute, auf einem Fluss, der durch die Stadt Moskau fliesst, wurden auf dem Eis mit grauer Farbe Inschriften übermalt, die gegen den Krieg in der Ukraine protestierten. — stop
homs vor jahren nah
papa : 0.28 — Vor wenigen Jahren entdeckte ich einen Film, der seltsamerweise einige Tage später auf der Position, da ich ihn ihm Internet bemerkt hatte, nicht länger anzutreffen war. Der Film, so wird erzählt, war von einer Drohne aus aufgenommen worden, einem künstlichen Vogel, der über und durch die Straßen der Stadt Homs gesteuert worden war. Beinahe hätte ich notiert, die Drohne, sie muss ein recht großes Gerät gewesen sein, sei durch die Straßen der Stadt geirrt, aber für dieses Wort irren flog die Drohne viel zu souverän herum und über Häuser hinweg, sie bewegte sich wie eine professionelle Filmdrohne einer Hollywoodproduktion, oder aber so, als wäre sie an einem luftgefederten Schwenkkran befestigt, sie bewegte sich erschütterungsfrei durch die Luft, keinerlei Druckwelle, kein Wind weit und breit. Was wir sehen, wenn wir diesen Film betrachten, ist eine fürchterlich zerstörte Stadt. Ich habe diese Art Verwüstung auf Fotografien gesehen der Stadt München oder Berlins oder Frankfurts, die im Jahr 1945 aufgenommen worden waren. Ich erinnere mich, man sah dort Menschen, die mit Eimern in langen Reihen hintereinander standen, um Steine in einer Kette zu transportieren, oder Menschen mit Kinderwagen, in welchen Kartoffelsäcke lagen, Menschen mit Rucksäcken und Menschen mit Koffern, die sie über Schuttberge wuchteten. Im mehrere Minuten andauernden Flug über und durch die Stadt Homs war jedoch kein Mensch zu erkennen. Mehrfach habe ich den Film vor und zurückgespielt, nein, kein Mensch war zu sehen, nicht ein einziger Mensch, so sehr ich meine Augen bemühte, nicht einmal Geister. — stop /Koffertext
tintenzeit
echo : 14.32 UTC — Am Telefon meldete sich ein Mann, der mir eine traurige Geschichte erzählte. Er sagte: Meine Frau ist seltsam geworden, sie wurde gerade eben 84 Jahre alt, vielleicht ist sie deshalb seltsam geworden. Sie geht nicht mehr ins Bett um Mitternacht und sie hat aufgehört zu kochen, deshalb koche ich jetzt für uns beide, obwohl ich nie gekocht habe. Meine Frau sitzt in der Küche und schaut mir zu. Manchmal sagt sie, dass ich sehr gut kochen würde. Der Mann am Telefon lachte. Und ich erinnerte mich, dass ich vor Jahren einmal einen Ausflug zu einer Tante machte, die damals seit bereits über zehn Jahren in einem Heim lebte, weil sie sehr alt war und außerdem nicht mehr denken konnte. Es war Frühling und der Flieder blühte, die Luft duftete, meine Tante saß mit weiteren alten Frauen an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schlafen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augenlider durchsichtig geworden, Augen waren unter dieser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt heller Farben. Ich drückte meine Stirn gegen die Stirn meiner Tante und nannte meinen Namen. Ich sagte, dass ich hier sei, sie zu besuchen und dass der Flieder im Park blühen würde. Ich sprach sehr leise, um die Frauen, die in unserer Nähe saßen, nicht zu stören. — In diesem Augenblick hob ich meinen Füllfederhalter vom Papier, auf das ich meinen Text mit meiner rechten Hand notiert hatte. Es war sehr feines Papier, eines durch das man hindurchsehen kann, wenn man das Papier gegen etwas Licht hält, raschelndes Papier, Luftpapier. Ich hob meinen Blick, um gerade noch wahrnehmen zu können, dass sich das Wort Telefon aufzulösen begann. Zeichen für Zeichen verschwand das Wort von links nach rechts, kurz darauf löste sich auch das nachfolgende Wort vom Papier, dann ein ganzer Satz in etwa der Geschwindigkeit, mit der ich kurz zuvor noch geschrieben hatte. Das war doch seltsam gewesen. Und ich dachte noch: Du musst Dich beeilen, lieber Louis, schnell, schreib weiter. — stop
giuseppi logan
marimba : 2.28 UTC — Ich lese in Dorothy Bakers Roman Young Man With A Horn. Plötzlich denke ich an Giuseppi Logan ( Hört ihm zu! ) dem ich im Jahr 2010 im Thompkins Square Park persönlich begegnet sein könnte. Viele Tage sind vergangen, seit ich eine Geschichte gelesen habe, von der ich mich sagen hörte, sie sei eine Geschichte, die ich nie wieder vergessen werde, die Geschichte selbst und auch nicht, dass sie existiert, dass sie sich tatsächlich ereignete, eine Geschichte, an die ich mich erinnern sollte selbst dann noch, wenn ich meinen Computer und seine Dateien, meine Notizbücher, meine Wohnung, meine Karteikarten während eines Erdbebens verlieren würde, alle Verzeichnisse, die ich studieren könnte, um auf jene Geschichte zu stoßen, wenn sie einmal nicht gegenwärtig sein würde. Diese Geschichte, ich erzähle eine kurze Fassung, handelt von Giuseppi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazzmusiker, ein Mann von dunkler Haut. Logan, so wird berichtet, atme Musik mit jeder Zelle seines Körpers in jeder Sekunde seines Lebens. In den 60er Jahren spielte er mit legendären Künstlern, nahm einige bedeutende Freejazzplatten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Drogen und war plötzlich verschwunden, manche seiner Freunde vermuteten, er sei gestorben, andere spekulierten, er könnte in einer psychiatrischen Anstalt vergessen worden sein. Ein Mann wie ein Blackout. Über 30 Jahre war Giuseppi Logan verschollen, als man ihn vor wenigen Jahren in einem New Yorker Park lebend entdeckte. Er existierte damals noch ohne Obdach, man erkannte ihn an seinem wilden Spiel auf einem zerbeulten Saxophon, einzigartige Geräusche. Freunde besorgten ihm eine Wohnung, eine Platte wurde aufgenommen, und so kann man ihn nun wieder spielen hören, live, weil man weiß, wo er sich befindet von Zeit zu Zeit, im Tompkins Square Park nämlich zu Manhattan. Es ist ein kleines Wunder, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wortboje Giuseppi Logan in ein Verzeichnis schreiben, das ich auswendig lernen werde, um alle die Geschichten wiederfinden zu können, die ich nicht vergessen will. — Heute las ich, dass der alte Mann im April 2020 im Lawrence Nursing Care Center in Far Rockaway, Queens während der COVID-19-Pandemie in New York City an den Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion gestorben ist. — stop
Fotographie Jon Rawlinson
„Niemand klang in einem Ensemble so wie
Giuseppi [Logan]. Bei seinem Spiel hielt er seinen Kopf weit zurück;
dazu erklärte er: „Auf diese Art ist meine Kehle weit offen“,
so konnte er mehr Luft einziehen. Er spielte in einem
Umfang von vier Oktaven auf dem Altsaxophon. Was
ihn als Improvisator von anderen unterschied,
war die Art, wie er seine Noten platzierte
und damit einen bestimmten Klang schuf,
dem die anderen der Gruppe dann folgten.
Seine Stücke waren aus diesem Grund sehr
attraktiv; Giuseppi hatte seine ganz eigenen
Ansichten über Musik …“ – Bill Dixon
loop
romeo : 0.58 UTC — Noch eh ich das Fernsehgerät in Gang setze, weiss ich was gespielt wird. Vielleicht wird’s mich im Herbst wieder fröhlicher stimmen? Seit heute verfüge ich über einen feinen Pinsel, mit dem ich Kaffeepuder aus den Magazinen meiner Kaffeemühle fächern werde. Als ich Kind war, lernte ich, dass ich mit einem Pinsel dieser Art nicht in Farbtöpfe fahren darf. Wie es wohl kommt, dass Geschichten plötzlich wie aus dem Nichts entstehen? Die Geschichte von den Apfelbäumen zum Beispiel. Im Radio morgens noch war von Haarpinseln und Bienen die Rede gewesen. — stop
sandwellenwinde
alpha : 22.18 UTC — Man kann Geschichten erzählen über das was man fotografiert, das ahne ich schon lange. Vater beispielsweise erzählte wie er mit Mutter an einem heißen Nachmittag Coney Island besuchte, wie sie im warmen Sand sitzen, wie er seiner geliebten Frau berichtet, dass er schon einmal an diesem Ort gewesen sei, da kannten sie sich bereits. Viele Jahre später werde ich meinem Vater erzählen, dass ich eine Fotografie besuchte, die er gefertigt hatte, als ich noch nicht ganz fünf Jahre alt gewesen war. Ich sagte: Es ist, lieber Vater, tatsächlich wie Du berichtest. Man fährt eine halbe Stunde mit der Subway vom Washington Square aus in südwestliche Richtung, dann ist man am atlantischen Meer und der Himmel hell über dem Wasser. Heftige Sandwellenwinde fauchen mir über die Stirn, wie ich auf diesem Boden gehe, der fest ist. Zerbrochene Muscheln, Scherben von buntem Glas, Sommerbestecke, Schuhe, Wodkaflaschen, Lippenstifte, Holz, Knochen. Da und dort haben sich scharfe Kanten gebildet unter der strengen Hand der Winterstürme, dunkle, feste Strukturen, in welchen sich Spuren menschlicher Füße finden als wären sie versteinert. Bald Brighton Beach. An den Wänden der Häuser entlang der Seepromenade sitzen alte russische Frauen wohl verpackt, aufgehoben in diesem Bild frostiger Temperatur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Isaac Bashevis Singer, der hier spazierte lang vor meiner Zeit. — stop
seltsame geschichte
india : 16.28 UTC — Ich lieg auf dem Rücken mit Schreibmaschine auf dem Bauch und sehe Händen zu, wie sie über Tasten hüpfen. Ich schreib gern so mit den Fingerhänden. Ich hab das heut zum erstem Mal bemerkt, dass ich mit den Mittelfingern schreibe, nicht mit den Zeigefingern, wann hat das angefangen? Wann habe ich Zeigefinger aufgegeben? — stop
eine taube
lima : 22.12 UTC — Die Bilder des letzten Films, den mein Vater mit seinem Fotoapparat aufgenommen hatte, zeigen seine Hose, seine Schuhe, Treppenstufen, eine Taube. Als ich die digitalen Fotografien für meinen Vater auf seinem Computer öffnete, hockte der alte Mann in der Betrachtung seines letzten Films vor dem Bildschirm und klickte immer schneller werdend von Bild zu Bild. Er sagte, dass er sich an das, was er fotografiert hatte, genau erinnere. Da war eine Landschaft nahe Prag durch das Zugfenster aufgenommen, da war eine weitere Landschaft, kurz nachdem der Zug den Prager Bahnhof verlassen hatte, da war ein tanzendes Paar auf einem Donaureiseschiff nahe Budapest. Und da war Mutter, die neben einem Rettungsboot desselben Schiffes stand und lächelte. Vater hatte ungefähr 50 Aufnahmen gefertigt, jede der Aufnahmen zeigte nun seine Schuhe, seine Hose oder eben eine Taube, die zu seinen Füßen Brotkrumen pickte. Er war verzweifelt. Da stand ich leise auf und suchte nach seiner Kamera. Ich bin doch nicht verrückt geworden, sagte Vater. Nein, antwortete ich, schau her, Du bist nicht verrückt geworden! Vater nahm seine Kamera in die Hand. Er schüttelte den kleinen, flachen Apparat und sagte: Na, das ist mein vielleicht seltsamster Film geworden. Diese Taube hier, da waren wir schon auf dem Schiff gewesen. Es war Nachmittag. Ich muss etwas an der Kamera verstellt haben. Dieses Rädchen hier könnte es gewesen sein. Immer Sekunden zu spät. Na sowas, sagte Vater. — stop