charlie : 17.15 UTC — Ich erinnere mich an einen jungen Mann, mit dem ich einmal vor sechs Jahren eine seltsame Geschichte erlebte. Wenn sie mir damals jemand anderes als ich selbst erzählt haben würde, hätte ich sie vielleicht nicht geglaubt. Die Geschichte beginnt damit, dass ich in einem Café sitze und auf einen jungen Mann warte, der mir etwas erzählen will. Ich bin frühzeitig gekommen, bestelle einen Cappuccino und schalte mein kleines Handkino an, beobachte eine Dokumentation der Arbeit Maceo Parkers in New York, mitreißende Musik, gerade eben umarmt die Sängerin Kym Mazelle den Posaunisten Fred Wesley, als der junge Mann, den ich erwartete, plötzlich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den kleinen Bildschirm. Sofort kommen wir ins Gespräch. Ich frage ihn, welche Musik er gehört habe, als Kind in der belagerten Stadt Sarajevo. Jedenfalls nicht solche Musik, antwortet er, und lacht, no Funk, wir hatten keinen Strom. Avi ist heute Anfang dreißig, und dass er noch lebt, ist ein Wunder. Tatsächlich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sarajevo erzählt. Einmal fragte ich ihn, was er empfunden habe, als er von Radovan Karadžićs Verhaftung hörte. Anstatt zu antworten, perlte in Sekundenschnelle Schweiß von Avis Stirn. Heute beginnt er schon zu schwitzen, ehe er überhaupt zu erzählen beginnt, weil er weiß, dass er gleich wieder berichten wird von den Straßen seiner Heimatstadt, die nicht mehr passierbar waren, weil Scharfschützen sie ins Visier genommen hatten. Man schleuderte Papiere, Zigaretten, Brote, Wasserflaschen in Körben von einer Seite der Straße zu anderen. Diese Körbe wurden nicht beschossen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein kleiner Junge. Er war so klein, dass er nicht verstehen konnte, was mit ihm und um ihn herum geschah, auch dass ein Holzsplitter sein linkes Auge so schwer verletzte, dass er jetzt ein Glasauge tragen muss, das so gut gestaltet ist, dass man schon genau hinsehen muss, um sein künstliches Wesen zu erkennen. Er sagt, er könnte, wenn ich möchte, das Auge für mich herausnehmen. Aber das will ich nicht. Ich erzähle ihm, dass ich damals, als er klein gewesen war, jeden Abend Bilder aus Sarajevo im Fernsehen beobachtet habe. Was das für Bilder gewesen seien, will Avi wissen. Ich sage: Das waren Bilder, die rennende Menschen zeigten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fernsehen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer schnell und überall passierte. Und diese Geräusche. Plötzlich nimmt der junge Mann mein kleines Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopfhörer in seine Ohren ein, hört Maceo Parker, Kim Macelle, Fred Wesley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhythmus der Musik mit dem Kopf. Ein Wispern. — stop