nordpol : 16.22 UTC — In der Umgebung des russischen Überfalls auf die Ukraine, seltsame Wörter des Krieges: Wassertelefon (vermutlich Rohrleitung) . Hagelkörner (Granaten) . Zigarettenfeld (Bedeutung noch unbekannt) . Straßendampfschiff (Panzer) . Milchzähne (Panzersperre) . Dreharbeiten (Beschuss) . Tierheim (Schutzraum) . Glühende Todeszeiten (Schrapnelle) . Einer arabisch denkenden Maschine entnehme ich das Wort Raketenbirne für eine ebenfalls noch unbekannte arabische Wortbedeutung vor maschineller Übersetzung. — stop
Aus der Wörtersammlung: granate
notizen aus sarajevo : koffertext
ulysses : 18.55 UTC — Das Bändchen Notizen aus Sarajevo von Juan Goytisolo, das im Jahr 1993 in der Edition Suhrkamp erschien, muss einmal feucht oder nass geworden sein. Es wellt sich noch immer, obwohl es Jahre gepresst unter weiteren Büchern im Regal darauf wartete, wieder gelesen zu werden. Ich erinnere nicht, wo ich das Buch gelesen hatte, vielleicht in einem Park, vermutlich war Regen gefallen. Seit Tagen liegt es auf meinem Küchentisch, ich habe es bisher nur einmal kurz geöffnet, bemerkte folgenden mit Bleistift markierten Absatz: „Gleich nach seiner Ankunft in Sarajevo muss der Fremde in die Gesetze und Regeln eines Verhaltenskodex eingeweiht werden, der Grundvoraussetzung für sein Überleben ist. Er, der an ein freies Leben ohne Hemmnisse gewöhnt ist, muss in seinem neuen Lebensraum, der Mausefalle, die er mit 380000 anderen Menschen teilt, schnell lernen. Er muss die hochgefährlichen Gebiete und diejenigen kennen, in denen er sich ohne allzu große Gefahr bewegen kann, er muss wissen in welchen Stadtteilen Mörsergranaten niedergehen, welches die beliebtesten Straßenecken und Kreuzungen der Heckenschützen sind, wo er gebückt gehen und wo er schnell losrennen muss. Jede Unachtsamkeit oder ein Fehler bei der Auswahl des Weges können tödlich für ihn sein. Jedes Hinausgehen — und jeder muss einmal rausgehen, um Wasser, Holz oder Nahrungsmittel zu holen — ist, wie die Menschen in Sarajevo sagen, russisches Roulette.“ — stop / S.32/33
von papieren
charlie : 16.58 UTC — Wieder die Frage, ob es vielleicht möglich ist, Papiere zu erfinden, die essbar sind, nahrhaft und gut verdaulich? Man könnte sich in einen Park setzen, beispielsweise und etwas Chatwin beobachten oder Lowry oder Calvino, Bücher, die Seite für Seite nach belgischen Waffeln schmeckten, nach Birnen, Gin, Petroleum oder sehr feinen Hölzern. Einen speziellen Duft schon in der Nase, wird die erste Seite eines Buches gelesen, und dann blättert man die Seite um und liest weiter bis zur letzten Zeile, und dann isst man die Seite auf, ohne zu zögern. Oder man könnte zunächst das erste Kapitel eines Buches durchkreuzen, und während man kurz noch die Geschichte dieser Abteilung rekapituliert, würde man Stürme, Personen, Orte und alle Anzeichen eines Verbrechens verspeisen, dann bereits das nächste Kapitel eröffnen, während man noch auf dem Ersten kaut. Man könnte also, eine Bibliothek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisige Wüsten durchstreifen oder ein paar sehr hohe Berge besteigen und abends unter dem Gaslicht in den Zelten liegen und lesen und kauen und würde von Nacht zu Nacht leichter und leichter werden. – Das Radio erzählt, ein kleiner Junge habe sein Kinderzimmer in einem U‑Bahnwagon unter der Stadt Charkiw eingerichtet. — stop
karusellfahrt
charlie : 20.25 UTC — Jedes Erzählen, jedes Lesen scheint ein Vorrücken in einer Zeit zu sein, in der ich selbst gehalten bin, wie ein Fisch im Wasser gehalten ist. Immer, auch dann, wenn es um Jahre zurückgeht im Text, liegt die wahrzunehmende Vergangenheit bis zu einem letzten Punkt je um ein Zeichen, um ein Wort, um Zeilen oder Seiten später, das heißt in der Zukunft. Existiert in meinem Kopf eine Struktur, die einem Zufallsgenerator ähnlich ist? stop. Oder eine Struktur, die Karussellfahrten erzeugt. stop. Das Radio erzählt, in Mariupol würden menschliche oder tierische Kadavern mit Handgranaten versehen, die auf Berührung warten. — stop
irgendwo nahe mariupol
delta : 14.32 UTC — Auf Luftbildfotografien dieses Winters wird Olga nicht zu sehen sein, zu klein dieses menschliche Wesen. Oder doch vielleicht sichtbar im Sommer unter einer Lupe, wie die alte Frau in ihrem Garten Himbeeren pflückt. Es ist ein wilder Garten geworden, weil Olga den Gewächsen ihres Gartens nicht länger Herr wird, sie muss oft im Haus sein bei ihrem Mann, dessen Namen ich nicht kenne. Er ruht im Wohnzimmer auf einem Bett, weil er alt ist und kaum noch gehen kann. Als er noch nicht ganz so alt war wie in diesem Winter, 8 Jahre jünger, war das mit dem Gehen bereits schwer geworden, weil er von einem Splitter harten Holzes in die Hüfte getroffen worden war, als eine Granate in einem Februar im Garten des Nachbarn explodierte. Der Nachbar lag drei Tage reglos auf dem Rücken im Schnee, weil er nicht mehr lebte. Dann hörte der Krieg auf. Nein, der Krieg entfernte sich, war jedoch nah genug geblieben, dass man ihn hören konnte und immer noch hören kann. Olgas Mann liegt auf dem Bett und lauscht zum Fenster hin, was man dort hört vom Krieg, ob er näher kommt. Auch hört er Olga, es ist Abend, die in den Keller gestiegen ist. Sehr steile Treppe. Es ist hell da unten, weil eine Kamera der alten Frau in den Keller folgte. Ein Mann trägt diese Kamera auf seiner Schulter, ein weiterer Mann trägt grelles Licht, eine Frau stellt Fragen, Olga antwortet: Wenn der Krieg wieder zu uns kommt, dann wird unser Sohn das Bett und seinen Vater in den Keller tragen. Dort wird es stehen, genau dort, wo die Zwiebeln liegen. Hier werden wir sicher sein. Der Atem der alten Olga dampft. Von der Decke hängen Fäden, auch schneeweiße Gebeine, Spinnen, die Olga noch immer fürchtet, so, stelle ich mir vor, könnte das sein. Sie schaut jetzt direkt in die Kamera. Ich betrachte ihr altes, müdes Gesicht, das sich nicht zurückziehen kann, weil ich den Film angehalten habe auf dem Bildschirm meines Fernsehgerätes. — stop

notizen aus sarajevo
nordpol : 20.18 UTC — Das Bändchen Notizen aus Sarajevo von Juan Goytisolo, das im Jahr 1993 in der Edition Suhrkamp erschien, muss einmal feucht oder nass geworden sein. Es wellt sich noch immer, obwohl es Jahre gepresst unter weiteren Büchern im Regal darauf wartete, wieder gelesen zu werden. Ich erinnere nicht, wo ich das Buch gelesen hatte, vielleicht in einem Park, vermutlich war Regen gefallen. Seit Tagen liegt es auf meinem Küchentisch, ich habe es bisher nur einmal kurz geöffnet, bemerkte folgenden mit Bleistift markierten Absatz: „Gleich nach seiner Ankunft in Sarajevo muss der Fremde in die Gesetze und Regeln eines Verhaltenskodex eingeweiht werden, der Grundvoraussetzung für sein Überleben ist. Er, der an ein freies Leben ohne Hemmnisse gewöhnt ist, muss in seinem neuen Lebensraum, der Mausefalle, die er mit 380000 anderen Menschen teilt, schnell lernen. Er muss die hochgefährlichen Gebiete und diejenigen kennen, in denen er sich ohne allzu große Gefahr bewegen kann, er muss wissen in welchen Stadtteilen Mörsergranaten niedergehen, welches die beliebtesten Straßenecken und Kreuzungen der Heckenschützen sind, wo er gebückt gehen und wo er schnell losrennen muss. Jede Unachtsamkeit oder ein Fehler bei der Auswahl des Weges können tödlich für ihn sein. Jedes Hinausgehen — und jeder muss einmal rausgehen, um Wasser, Holz oder Nahrungsmittel zu holen — ist, wie die Menschen in Sarajevo sagen, russisches Roulette.“ — stop / S.32/33
aleppo
ginkgo : 22.15 UTC — Ich erinnere mich, wie ich als Kind an Geräuschen der Luft zu unterscheiden vermochte, ob ich einer singenden Amsel lauschte oder einer Meise, einer Lerche, einem Rotkehlchen. Ich hörte, Kinder, die in Aleppo leben oder lebten, sollen in der Lage sein, sehr genau zu unterscheiden, um welche Art Munition es sich handelt, die nachts ihre Betten, ihre Lager, erschütterte, welche Flugzeuggattungen sich am Himmel befinden, das Kaliber detonierender Granaten zu erraten. Sofern sie überlebten, haben sie die Vögel noch zu lernen oder wiederzufinden, vielleicht in Buchenwäldern. — stop
von schuhen
charlie : 3.25 – Bahnsteig 23, Zentralbahnhof, Dienstag, 28 Minuten nach 10 Uhr abends. Auf einer Bank sitzt eine Frau in dunklem Gewand, über ihrem Kopf ein Tuch von ebenso schwarzer oder dunkelgrauer Farbe, das ihr Haar lose bedeckt. Die Frau scheint von hohem Alter zu sein und müde und scheu, noch nicht einmal drei Stunden ist es her, dass sie an diesem Ort eingetroffen ist. Ich höre, der junge Mann, der an ihrer rechten Seite sitzt, sei ihr Enkel, er war es gewesen, der die alte Frau aus dem Zug getragen hatte, weil sie nicht mehr laufen konnte, so erschöpft waren ihre Füße vom wochenlangen Wandern durch halb Europa, außerdem waren zuletzt Schuhe kaum noch vorhanden. Ein Mädchen hat ihren Kopf im Schoß der Urgroßmutter geborgen und schläft. Eigentlich müssten da noch zwei Jungs sein, der ältere Bruder des kleinen Mädchens, aber der ist tot, und auch ihr jüngerer Bruder ist nicht da, weil er tot ist, und auch ihre Mutter nicht, da ihre Wohnung von einer Granate getroffen worden war, als das kleine Mädchen auf die Straße rannte ganz allein, was eigentlich verboten war im November des vergangenen Jahres in einem Dorf 16 Kilometer weit entfernt von der Stadt Homs. Auch der Urgroßvater des überlebenden Mädchens ist abwesend, weil er tot ist. Allerdings ist der Urgroßvater zur üblichen Zeit eines natürlichen Todes gestorben und in Form einer Fotografie nach Europa mitgekommen, die die alte Frau in diesem Moment in ihrer Hand hält und betrachtet. Ihr Sohn, der Vater des jungen Mannes, der seine Großmutter aus dem Zug getragen hatte, spricht gerade mit einer fröhlichen Person, die eine Weste trägt, welche leuchtet, dass es in den Augen nur so schmerzt. Er versucht der jungen deutschen Frau zu erklären, dass er vor Stunden seine Ehefrau aus den Augen verloren habe, er sagt immer wieder ihre Namen auf, damit man unverzüglich nach ihr suchen könne. Sein Sohn, der junge Mann, der neben seiner Großmutter sitzt, erzählt indessen in englischer Sprache, seine Großmutter habe das Dorf, aus dem die Familie vor Monaten geflüchtet war, in ihrem ganz Leben nicht ein einziges Mal verlassen, und jetzt sitzt sie also hier auf einer Bank in diesem Nordland, Bahnsteig 23, Zentralbahnhof, versteht kein Wort, von dem, was da so überall um sie herum gesprochen wird, und streicht mit ihren Händen behutsam über das Haar des schlafenden Kindes. Immer wieder schaut sie zu ihren Füßen hin, als wäre sie nicht sicher, dass diese Füße ihre eigenen Füße sind. Vorsichtig bewegt sie sie hin und her, noch keine Viertelstunde ist vergangen, da hatte sich ihr Enkel vor ihr niedergekniet, um ihr nagelneue feuerrote Turnschuhe anzuziehen von Puma. – stop
ai : KOLUMBIEN
MENSCH IN GEFAHR : „Das Haus des indigenen Menschenrechtsverteidigers Pedro Manuel Loperena im Nordosten Kolumbiens wurde am 11. Mai von einer Granate getroffen. / Am 11. Mai warfen zwei unbekannte Motorradfahrer eine Granate auf das Haus von Pedro Manuel Loperena im Bezirk Don Carmelo in Valledupar, der Hauptstadt des Departamento Cesar. / Pedro Manuel Loperena ist Koordinator der Menschenrechtskommission der Indigenenvereinigung Organización Wiwa Yugumaiun Bunkuanarrua Tayrona (OWYBT), die das indigene Volk der Wiwa vertritt, welches in der Bergkette der Sierra Nevada de Santa Marta lebt. Die Menschenrechtskommission setzt sich seit einiger Zeit in mehreren Fällen für Gerechtigkeit ein, bei denen es um die Verletzung der Menschenrechte geht, wie z. B. im Fall der außergerichtlichen Hinrichtung von elf Angehörigen der Gemeinschaft der Wiwa durch Sicherheitskräfte zwischen dem 15. Februar 2005 und dem 3. August 2006 sowie in anderen Fällen, in denen auf der einen Seite Sicherheitskräfte gemeinsam mit Paramilitärs, auf der anderen Seite Guerillaeinheiten Menschenrechtsverstöße begangen haben. Die Menschenrechtskommission kämpft zudem gegen zahlreiche Bergbau‑, Infrastruktur- und Tourismusprojekte im Gebiet der Sierra Nevada, da das Volk der Wiwa der Ansicht ist, diese Projekte würden ihre Nahrungsmittelversorgung einschränken, ihre traditionelle Lebensweise beeinträchtigen und somit ihr Überleben gefährden. Pedro Manuel Loperena hat sich zudem öffentlich gegen das anhaltende Operieren von illegalen bewaffneten Gruppen im Lebensraum der Wiwa ausgesprochen. / Zum Zeitpunkt des Granatenanschlags auf das Haus von Pedro Manuel Loperena befanden sich zudem seine Frau, die im Büro des Menschenrechtsbeauftragten (Defensoría del Pueblo) als Vertreterin der Gemeinschaft tätig ist, sowie seine vier Kinder (sieben, zehn, 18 und 19 Jahre alt) im Haus. Niemand von ihnen kam bei der Explosion zu Schaden. / Im Februar wählte die Gemeinschaft der Wiwa neue GemeindesprecherInnen. Das kolumbianische Innenministerium hat sich bislang geweigert, die neuen SprecherInnen anzuerkennen.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 27. Juni 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
aleppo
charlie : 20.05 — Als Kind konnte ich an Geräuschen der Luft unterscheiden, ob ich einer singenden Amsel lauschte oder einer Meise, einer Lerche, einem Rotkehlchen. Ich hörte nun, die Kinder von Aleppo sollen in der Lage sein, sehr genau zu unterscheiden, um welche Art Munition es sich handelt, die nachts ihre Betten erschüttert, welche Flugzeuggattungen sich am Himmel befinden, das Kaliber detonierender Granaten zu erraten. — stop