Aus der Wörtersammlung: russisch

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von handvögeln

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romeo : 14.25 UTC — Die New York Times erzähl­te nach mona­te­lan­ger Recher­che von Ver­bre­chen, die rus­si­sche Streit­kräf­te in der Stadt Bucha ver­üb­ten. Über­all, das wird nun sicht­bar, waren Vögel zuge­gen gewe­sen. Sie flo­gen über der Stadt in Schwär­men, sie hock­ten hin­ter Vor­hän­gen und in den Man­tel­ta­schen Spa­zie­ren­der, auch in den Hän­den getö­te­ter Men­schen, sie zeich­ne­ten das Licht, das durch ihre Augen fiel auf ihre Spei­cher­kar­ten. Sie ver­zeich­ne­ten Geräu­sche, Stim­men. Sie dien­ten als Tele­fo­ne, waren gedul­di­ge Agen­ten in den Hän­den der Mör­der, die nicht ahn­ten, dass auf­ge­zeich­net wur­de was sie ihrer Hei­mat erzähl­ten. Die Vögel bemerk­ten Num­mern, die gewählt wor­den waren, Num­mer, die zu den mor­den­den Per­so­nen führ­ten in das bür­ger­li­che Leben. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schreib­zim­mer
Mittags
15 Uhr

 

 

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ai : RUSSISCHE FÖDERATION

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MENSCH IN GEFAHR : “Die Künst­le­rin Alek­san­dra Skoch­i­len­ko ist wegen “Ver­brei­tung wis­sent­lich fal­scher Infor­ma­tio­nen über die rus­si­schen Streit­kräf­te” (Para­graf 207.3 des Straf­ge­setz­buchs) zu sie­ben Jah­ren Haft ver­ur­teilt wor­den, weil sie Preis­schil­der in ört­li­chen Super­märk­ten durch Anti­kriegs­in­for­ma­tio­nen ersetzt hat. Hier­bei han­delt es sich nicht um eine inter­na­tio­nal als Straf­tat aner­kann­te Hand­lung. Der Straf­tat­be­stand beschnei­det das Men­schen­recht auf Mei­nungs­frei­heit auf eine Wei­se, die sowohl den völ­ker­recht­li­chen als auch den ver­fas­sungs­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen Russ­lands zuwi­der­läuft. Alek­san­dra Skoch­i­len­ko lei­det an Zöli­a­kie und einer Herz­er­kran­kung. Ihren Ärzt*innen zufol­ge benö­tigt sie des­halb eine ange­mes­se­ne medi­zi­ni­sche Betreu­ung sowie eine streng glu­ten­freie Diät, die im Straf­voll­zug nicht mög­lich ist. Die Künst­le­rin befin­det sich bereits seit mehr als 19 Mona­ten in Haft. Ihr Gesund­heits­zu­stand hat sich im Gefäng­nis stark ver­schlech­tert, und eine anhal­ten­de Inhaf­tie­rung wird dies noch ver­schlim­mern bzw. kann sogar ihr Leben gefähr­den. Alex­an­dra Skot­schi­len­ko ist eine gewalt­lo­se poli­ti­sche Gefan­ge­ne, die nur auf­grund der Wahr­neh­mung ihres Rechts auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung inhaf­tiert ist. Sie muss umge­hend und bedin­gungs­los frei­ge­las­sen wer­den.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter > ai : urgent action

 

 

 

 

 

 


 
Alek­san­dra Skochilenko
vor Gericht
undatierte
Fotografie

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ameisengespräch

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tan­go : 15.18 UTC — Eine deutsch spre­chen­de, hoch­be­tag­te rus­si­sche Dame erzähl­te am Tele­fon, sie habe gehört, Amei­sen, Mil­lio­nen ver­gif­te­ter Amei­sen wür­den die ukrai­ni­sche Gren­ze in Rich­tung der rus­si­schen Föde­ra­ti­on über­quert haben im ver­gan­ge­nen Jahr bereits. Sie sei­en erschaf­fen wor­den, um ganz Russ­land zu zer­stö­ren, Men­schen, Tie­re, Pflan­zen. Die­se Amei­sen sei­en unge­wöhn­lich groß und von blau­er Far­be. Ich frag­te zunächst, ob sie denn eine der Amei­sen, von deren Exis­tenz sie hör­te, mit eige­nen Augen gese­hen habe. Nein, mein Gott, dann könn­te ich Dir von die­ser Gefahr doch nicht erzäh­len! Ob denn Foto­gra­fien oder Film­auf­nah­men das Vor­kom­men jener gefähr­li­chen Wesen doku­men­tie­ren wür­den, woll­te ich wis­sen? Ja, aber natür­lich, die­se Foto­gra­fien müs­sen exis­tie­ren, aber ja, natür­lich! — Ihr hel­les Stimm­chen. stop

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ai : RUSSISCHE FÖDERATION

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MENSCH IN GEFAHR : “Wla­di­mir Kara-Mur­sa wur­de am 11. April 2022 in der Nähe sei­ner Woh­nung in Mos­kau fest­ge­nom­men und ein­zig auf­grund sei­nes fried­li­chen poli­ti­schen Akti­vis­mus und sei­ner Kri­tik an den rus­si­schen Behör­den vor Gericht gestellt. Grund­la­ge für die Vor­wür­fe sind Vor­trä­ge, in denen er den rus­si­schen Ein­marsch in der Ukrai­ne kri­ti­siert hat­te, sowie sei­ne Ver­bin­dung zu der oppo­si­tio­nel­len Grup­pie­rung Open Rus­sia. Am 17. April wur­de Wla­di­mir Kara-Mur­sa schul­dig gespro­chen und zu 25 Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt. Das Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung wird sowohl durch das Völ­ker­recht als auch die rus­si­sche Ver­fas­sung garan­tiert. Die Wahr­neh­mung die­ses Rechts darf daher nicht mit Repres­sa­li­en oder gar lan­gen Haft­stra­fen ein­her­ge­hen. Wla­di­mir Kara-Mur­sa lei­det Berich­ten zufol­ge in bei­den Füßen an Poly­neu­ro­pa­thie, was gemäß rus­si­schem Recht eigent­lich bedeu­tet, dass er nicht inhaf­tiert wer­den darf. Auf­grund sei­ner lan­gen Haft­stra­fe besteht Sor­ge um sei­nen Gesund­heits­zu­stand.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter > ai : urgent action

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mensch auf einem fahrrad

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romeo : 15.12 UTC — Viel­fach bekannt: Ein Kriegs­schiff sank im ver­gan­ge­nen Jahr in einem Sturm, der nicht exis­tier­te. Gegen 22 Uhr die Nach­richt, das Schliff seit tat­säch­lich unter­ge­gan­gen. Die rus­si­sche Nach­rich­ten­agen­tur Tass bestä­tig­te den Unter­gang des Schif­fes, des­sen Ende von ukrai­ni­schen Nach­rich­ten bereits Stun­den zuvor ange­kün­digt wor­den war. Wirk­lich­keit exis­tiert als Sum­me von Nach­rich­ten­er­eig­nis­sen. Und da war eine Stras­se, auf der sich dicht an dicht Pan­zer­fahr­zeu­ge reih­ten. Von weit oben her, aus dem Welt­raum betrach­tet, moch­te man mei­nen, jene Pan­zer­amei­sen, die sich über eine Stras­se hin bewe­gen, wür­den doch nicht sehr gefähr­lich sein. Aber jene Gegen­stän­de oder Wesen, auf die die Pan­zer­am­m­ei­sen schies­sen, sind noch klei­ner, sie wären auf Welt­raum­bil­dern kaum noch sicht­bar. Es ist sehr schwer Grö­ßen­ver­hält­nis­se zu ver­ste­hen in krie­ge­ri­schen Wirk­lich­kei­ten. Und Feu­er­bäl­le. Und über­haupt die Zeit. In einem Dorf schoss ein Pan­zer auf einen Rad­fah­rer. Auch dies wur­de von oben her betrach­tet, aus gerin­ge­rer Höhe. Der Rad­fah­rer hör­te voll­stän­dig auf zu exis­tie­ren in Bruch­tei­len einer Sekun­de. — stop

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bienengeschichte

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lima : 18.12 UTC — Die fol­gen­de Geschich­te ist natür­lich eine erfun­de­ne Geschich­te. Ich habe sie vor Jah­ren bereits schon ein­mal erfun­den. Und wie­der wer­de ich so tun, als wäre sie nicht erfun­den. Am bes­ten begin­ne ich in die­ser ein­ge­üb­ten Wei­se: Seit zwei Wochen hal­te ich mich stun­den­lang unter frei­em Him­mel auf. Das ist des­halb so gekom­men, weil ich eine Auf­ga­be über­nom­men habe, die mir nach wie vor sehr inter­es­sant zu sein scheint. Ich beob­ach­te Bie­nen wie sie sich über eine Wie­se fort­be­we­gen. Des­halb lie­ge oder knie ich oder lau­fe gebückt dahin, den Kopf dicht über dem Boden, was nicht immer ganz leicht ist, weil Bie­nen doch sehr schnel­le Flie­ger sind. Jene Bie­nen­tie­re, die ich beob­ach­te, woh­nen in nächs­ter Nähe am Saum eines Wal­des, des­sen prä­zi­se Posi­ti­on ich nicht ver­ra­ten darf. Sie tra­gen Num­mern von 1 – 100 auf ihren Rücken, was für mei­ne Arbeit sehr bedeu­tend ist, da ich Bie­nen, die ohne eine Num­mer sind, nie­mals beach­te. So lau­tet mei­ne Instruk­ti­on, Bie­nen ohne Num­mer ist nicht zu fol­gen, viel­mehr ist solan­ge Zeit am Ran­de der Wie­se zu war­ten, bis eine Bie­ne mit Kenn­zeich­nung auf der Wie­se erscheint. Ich tra­ge eine Schirm­müt­ze gegen die Blend­wir­kung der Son­ne und eine Mon­okel­lu­pe, die vor mei­nem rech­ten Auge sitzt und mir einen prä­zi­sen Blick in die klei­ne Welt der Bie­nen in der Nähe des Bodens ermög­licht. Genau­ge­nom­men ist es mei­ne vor­neh­me Auf­ga­be, eine Bie­ne, die ich ein­mal in den Blick genom­men habe, solan­ge wie mög­lich zu beglei­ten auf ihrem Flug von Blü­te zu Blü­te. Ich bin indes­sen nicht ein­mal stumm. Ich sage zum Bei­spiel: Hier spricht Lou­is. Es ist 15 Uhr und 12 Minu­ten. Ich fol­ge Bie­ne No. 58. Wir nähern uns einer But­ter­blu­men­blü­te. Ja, das genau sage ich laut und deut­lich. Ich spre­che in ein Funk­ge­rät, von dem ich weiß, dass mir in der Fer­ne im See­bad Brigh­ton an der eng­li­schen Küs­te irgend­je­mand an einem ande­ren Funk­ge­rät zuhört. Ich sage: Hier spricht Lou­is. Bie­ne No 58: Lan­dung But­ter­blu­me. OVER! Dann betrach­te ich die Bie­ne wie sie in der Blü­te arbei­tet und war­te. Bald fliegt die Bie­ne wei­ter und ich sage kurz dar­auf: Bie­ne No 58: Lan­dung Feu­er­nel­ke. OVER! Ja, so mache ich das. Ich wer­de immer bes­ser dar­in. Ich glau­be, die Bie­nen mögen mich. Ich bin ihnen ver­traut gewor­den. In eini­gen Tagen wer­de ich viel­leicht etwas genau­er erzäh­len, war­um ich Bie­nen beob­ach­te. — Das Radio erzählt von Men­schen, die die rus­si­sche Höl­len­ma­schi­ne der Stadt Mariu­pol über­leb­ten. Man­che wür­den nun in der Frem­de lebend, Schlüs­sel ihrer ver­las­se­nen oder zer­stör­ten Woh­nun­gen in Taschen von Hosen und Män­teln und Klei­dern mit sich füh­ren. — stop

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remember

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nord­pol : 0.05 UTC — “Alek­san­dra Skoch­i­len­ko ist eine Song­wri­te­rin und Künst­le­rin aus Sankt Peters­burg. Ihr wird vor­ge­wor­fen, Preis­schil­der in ört­li­chen Super­märk­ten durch Anti­kriegs­in­for­ma­tio­nen ersetzt zu haben, dar­un­ter Infor­ma­tio­nen über die Toten durch die Bom­bar­die­rung des Thea­ters von Mariu­pol. / Der Sankt Peters­bur­ge­rin wird die “öffent­li­che Ver­brei­tung wis­sent­lich fal­scher Infor­ma­tio­nen über den Ein­satz der Streit­kräf­te der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on und die Aus­übung der Befug­nis­se der staat­li­chen Orga­ne der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on” gemäß dem kürz­lich hin­zu­ge­füg­ten Para­gra­fen 207.3 Absatz 2 des Straf­ge­setz­buchs vor­ge­wor­fen. / Alek­san­dra Skoch­i­len­ko ist in der Kunst­sze­ne bekannt: Sie schreibt Lie­der, ver­fasst Comic-Bücher und Car­toons, orga­ni­siert Kon­zer­te und Jam­ses­si­ons. Außer­dem hat sie das bekann­te “Buch über Depres­sio­nen” geschrie­ben, das dazu bei­trägt, das Stig­ma psy­chi­scher Erkran­kun­gen zu ver­rin­gern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wur­de mehr­fach neu auf­ge­legt und in meh­re­re Spra­chen über­setzt und hat vie­len Men­schen inner­halb und außer­halb Russ­lands gehol­fen. Vie­le Vide­os und Aus­stel­lun­gen wur­den durch das Buch inspi­riert.” Alek­san­dra Skoch­i­len­ko ist noch immer in Haft. Schrei­ben Sie einen Brief! — stop

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helena

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char­lie : 18.32 UTC — Hele­na, die sechs Jah­re alt gewor­den war, frag­te mich am Tele­fon, inwie­fern sich ein Regen­schirm von einem Schnee­schirm unter­schei­de. Das ist eine auf­re­gen­de Geschich­te, dach­te ich, ich habe von der Exis­tenz der Schnee­schir­me noch nie zuvor gehört. Das ist näm­lich so, sag­te Hele­na, wenn es Regen­schir­me gibt muss es auch Schnee­schir­me geben, wie Son­nen­schir­me und Wind­schir­me. Um Zeit zu gewin­nen, wie­der­hol­te ich Hele­nas Fra­ge. Du willst wis­sen, inwie­fern sich Regen­schir­me von Schnee­schir­men unter­schei­den? Habe ich Dich rich­tig ver­stan­den? Ja, ant­wor­te­te Hele­na, was heisst inwie­fern? Plötz­lich war sie nicht mehr am Tele­fon. Ich hör­te ihre Schrit­te, wie sie durch die fer­ne Woh­nung lief, sie schien nach etwas zu suchen. Bald hör­te ich ihre Stim­me, sie erzähl­te eine Geschich­te von einem Frosch, den sie im Gar­ten ent­deckt hat­te, ihre Mut­ter lach­te. Nach einer Wei­le hör­te ich Hele­nas Schrit­te wie­der näher­kom­men, dann ihre Stim­me. Ich habe dich fast ver­ges­sen, dass du am Tele­fon bist, sag­te Hele­na, das ist phä­no­me­nal. Sie lach­te. Das ist ja wirk­lich phä­no­me­nal. Was bedeu­tet : phä­no­me­nal? — Das Radio erzählt, in der Stadt Mariu­pol sei ein Auto­mo­bil explo­diert. An Bord habe ein hoher rus­si­scher Beam­ter der Stadt Mariu­pol vor einer Ampel gewar­tet. — stop

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notizen aus sarajevo : koffertext

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ulys­ses : 18.55 UTC — Das Bänd­chen Noti­zen aus Sara­je­vo von Juan Goy­tiso­lo, das im Jahr 1993 in der Edi­ti­on Suhr­kamp erschien, muss ein­mal feucht oder nass gewor­den sein. Es wellt sich noch immer, obwohl es Jah­re gepresst unter wei­te­ren Büchern im Regal dar­auf war­te­te, wie­der gele­sen zu wer­den. Ich erin­ne­re nicht, wo ich das Buch gele­sen hat­te, viel­leicht in einem Park, ver­mut­lich war Regen gefal­len. Seit Tagen liegt es auf mei­nem Küchen­tisch, ich habe es bis­her nur ein­mal kurz geöff­net, bemerk­te fol­gen­den mit Blei­stift mar­kier­ten Absatz: “Gleich nach sei­ner Ankunft in Sara­je­vo muss der Frem­de in die Geset­ze und Regeln eines Ver­hal­tens­ko­dex ein­ge­weiht wer­den, der Grund­vor­aus­set­zung für sein Über­le­ben ist. Er, der an ein frei­es Leben ohne Hemm­nis­se gewöhnt ist, muss in sei­nem neu­en Lebens­raum, der Mau­se­fal­le, die er mit 380000 ande­ren Men­schen teilt, schnell ler­nen. Er muss die hoch­ge­fähr­li­chen Gebie­te und die­je­ni­gen ken­nen, in denen er sich ohne all­zu gro­ße Gefahr bewe­gen kann, er muss wis­sen in wel­chen Stadt­tei­len Mör­ser­gra­na­ten nie­der­ge­hen, wel­ches die belieb­tes­ten Stra­ßen­ecken und Kreu­zun­gen der Hecken­schüt­zen sind, wo er gebückt gehen und wo er schnell los­ren­nen muss. Jede Unacht­sam­keit oder ein Feh­ler bei der Aus­wahl des Weges kön­nen töd­lich für ihn sein. Jedes Hin­aus­ge­hen — und jeder muss ein­mal raus­ge­hen, um Was­ser, Holz oder Nah­rungs­mit­tel zu holen — ist, wie die Men­schen in Sara­je­vo sagen, rus­si­sches Rou­lette.“ — stop / S.32/33

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oli­mam­bo : 5.58 UTC — Vor bald 10 Jah­ren schrieb mir Leroy einen Brief auf Papier. Er notier­te: Lie­ber Lou­is, seit sechs Wochen nun bin ich online. Man kann mich lesen so oft und so lan­ge man möch­te, ohne einen Cent dafür bezah­len zu müs­sen. Das ist ein ange­neh­mes Gefühl durch­aus. Ich hat­te die­ses Gefühl so nicht erwar­tet. Manch­mal sit­ze ich vor dem Bild­schirm und beob­ach­te mei­nen Text auf dem sel­ben Weg, den auch ande­re neh­men, um mich lesen zu kön­nen. Ich bin begeis­tert davon, dass ich dem Text nicht anzu­se­hen ver­mag, ob ihn gera­de in die­sem Moment ande­re Augen betrach­ten, weil es doch der­sel­be Text mit dem sel­ben Ursprung ist. Ich wer­de noch dahin­ter­kom­men, bis dahin wun­de­re ich mich wei­ter. Ges­tern war Sin­ger zu Besuch, der sich aus­kennt in digi­ta­len Din­gen. Er frag­te, ob ich ihm sagen kön­ne, wie vie­le Men­schen denn mei­ne elek­tri­schen Tex­te besuch­ten. Ich erzähl­te ihm, dass ich selbst­ver­ständ­lich Nach­richt davon erhal­ten habe. Ich genie­ße, sag­te ich, die Auf­merk­sam­keit eini­ger Leser in Island, Ame­ri­ka, Togo, Deutsch­land, der Schweiz, den Nie­der­lan­den, Chi­na, Eng­land, Frank­reich, Marok­ko, Spa­ni­en. Man­che kom­men sehr häu­fig und lesen, sie kom­men stünd­lich vor­bei, auf die Sekun­de genau, ande­re eher sel­ten, als wür­de sie mich gele­sen haben und sofort wie­der ver­ges­sen. Ich hol­te uns am Kiosk eine Limo­na­de, wäh­rend Sin­ger sich mit mei­nen Log­files beschäf­tig­te. Als ich zurück­kam, hör­te ich Sin­ger lachen, in dem Moment genau, da ich die Tür öff­ne­te, hör­te ich Sin­ger lachen. Dann hör­te er auf, und wir spra­chen über Kak­teen und ihre Win­ter­blü­te, und dass er bald wie­der für eini­ge Mona­te nach Mana­ro­la rei­sen wür­de, wo es mild sei im Win­ter. Kurz dar­auf schlief ich ein. Ich erwach­te vom Lärm vie­ler Stim­men. Auf der Stra­ße lie­fen Men­schen hin und her, es war frü­her Nach­mit­tag, ich wuss­te, dass die Nacht für mich zu Ende war. Heu­te ist also Sonn­tag. Ich grü­ße Dich. Dein Leroy. — Das Radio erzählt, die Stadt Mariu­pol sei nun für immer und ewig eine rus­si­sche Stadt. Selt­sa­me Sache. - stop
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