romeo : 22.07 UTC — Wieder die Frage weshalb ich die Bewegung meines Herzens in der Brust nicht zu spüren vermag? — Umgebende Wörter: Sinusknoten Lagerbewegung Thalamus. Herzflimmern. Rasender Stillstand. ~ Ein Gespensterwesen, Russland, meiner Kindheit ist zurückgekehrt. Gedanken, wie zur Beruhigung, an Lew Sinowjewitsch Kopelew, Jelena Georgijewna Bonner, Andrei Dmitrijewitsch Sacharow, Anna Stepanowa Politkowskaja, Dmitri Muratow, Ljudmila Ulitzkaja. — stop
Schlagwort: romeo
krim : lichtbild no 3
romeo : 8.52 UTC — Associated Press veröffentlichte vor wenigen Jahren eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem kleinen Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen, ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, es sind vier Personen vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, ausserdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder. Sie tragen keine Hoheitszeichen, aber sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. Jeder Blick hinter eine Maske hervor ist ein seltsamer Blick. Einer anderer der Männer hält seinen Geldbeutel geöffnet. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, das Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Yalta, Luhansk, Mariupol. — stop / koffertest : updated — ich habe diese aufnahme mit eigenen augen gesehen.
auf dem hochseil
romeo : 2.25 UTC — Vor einiger Zeit als noch Schnee lag, entdeckte ich in einem Karton vor einem Haus auf der Straße zwei Pinguine. Sie waren ungefähr 8 Zentimeter groß und weich. Ich nahm sie mit nach Hause und stellte sie auf ein Fensterbrett. Wie das so ist waren sie einerseits anwesend, andererseits hatte ich sie soweit aus den Augen verloren, dass ich nicht länger an sie dachte oder sie bemerkte, wenn ich ans Fenster trat. Nun aber habe ich vor wenigen Minuten ein Häufchen sehr kleiner Fliegen, es waren 24 Fliegen, leblos zwischen beiden Pinguinen auf dem Fensterbrett entdeckt. Und wie ich mich nähere sehe gerade noch wie eine Spinne sich hinter dem rechten der Pinguine versteckte. Ich holte mir einen Stuhl und wartete. Bald zeigte sich die Spinne, indem sie über einen unsichtbaren Faden zwischen zwei Pinguinköpfen spazierte. In der Mitte ungefähr hielt die Spinne inne. Ich stellte mir vor, wie sie mich vielleicht betrachtete. Es war früher Nachmittag. Und so sassen wir gemeinsam eine Zeit und warteten, dass sich eine weitere Fliege, Fliege No 25, nähern möge. — stop
eine raupe im mai
romeo : 10.28 UTC — Es war Mai, ich ging, Blick auf den Boden gerichtet, spazieren. Man möchte vielleicht meinen, dass ich nur den Boden, nichts anderes sehen wollte in Gedanken versunken in Kreisen. So geh ich eine halbe Stunde dahin. Bald begegnete ich einer Raupe, die den Weg, auf dem ich ging, überquerte. Es war eine sandige Stelle. Ich blieb stehen, ging in die Knie, beobachtete, wie sich die Raupe bemühte, sandige Körner von ihren Beinen zu schütteln. Einmal rollt sie sich seitwärts ab, eine Idee, die dazu führte, dass auch das kräftige Haar ihres Rückens von Sand bedeckt worden war. Diese erste Raupe, der ich an diesem Tag begegnete, war von einem leuchtenden Gelb. Seitlich, ihren Körper entlang, waren hellrote Punkte zu erkennen. Ihr Kopf war von einem leuchtenden Blau. — stop
=
romeo : 2.28 UTC — l e b e r m e e r
loop
romeo : 0.58 UTC — Noch eh ich das Fernsehgerät in Gang setze, weiss ich was gespielt wird. Vielleicht wird’s mich im Herbst wieder fröhlicher stimmen? Seit heute verfüge ich über einen feinen Pinsel, mit dem ich Kaffeepuder aus den Magazinen meiner Kaffeemühle fächern werde. Als ich Kind war, lernte ich, dass ich mit einem Pinsel dieser Art nicht in Farbtöpfe fahren darf. Wie es wohl kommt, dass Geschichten plötzlich wie aus dem Nichts entstehen? Die Geschichte von den Apfelbäumen zum Beispiel. Im Radio morgens noch war von Haarpinseln und Bienen die Rede gewesen. — stop
kabinenlicht
romeo : 6.08 UTC — Wenn ich schlafe, wache ich immer wieder einmal auf, während meine Hände weiterschlafen. Das ist seltsam, meine Hände wachen zurzeit ein wenig später auf als ich selbst. Ich trete ans Fenster. Manchmal ist früher Morgen. Es ist noch dunkel. Straßenbahnen queren den Platz weit da unten. In ihrem Kabinenlicht sitzen Menschen mit Masken vor Mund und Nase. Es sind dieselben Personen, wie mir scheint, die ich gestern am Abend bereits durch mein Opernglas beobachtet habe. Sie werden vermutlich für das Umherfahren bezahlt. Zwei Tauben sitzen tief unter mir auf einer Straßenlaterne, sie schlafen wie meine Hände, die nun langsam wach werden, weil ich mit ihnen schreibe. Guten Morgen! — stop
von telefonen
romeo : 0.08 UTC – Das Telefonbuch meiner Großmutter wurde von meinem Bruder in einer Kommode entdeckt, die vielfach mit uns umgezogen war. Es ist ein dunkles Bändchen von Karton und Papier, das in den tiefen Schattenräumen der Truhe beinahe übersehen worden wäre. In Sütterlin wurden dort Namen verzeichnet, sowie Ziffern, die einmal vor langer Zeit Telefonen verbunden gewesen waren, welche sehr sicher nicht länger existieren. Bei genauer Betrachtung sind vielfach Namen ein und derselben Nummer verbunden gewesen, vermutlich, weil die Telefone zur Nummer in Fluren oder Treppenhäusern an den Wänden befestigt waren, nicht in Wohnungen selbst, oder Telefonen, die sich in benachbarten Wohnungen befanden. Man rief nun Frau Sindelfinger an, die über ein Telefon verfügte, die Frau Huber zu sich holte, die selbst über kein Telefon verfügte, aber Frau Sindelfinger gefragt hatte, ob sie die Nummer ihres Telefons bei Gelegenheit weiterreichen dürfe. Frau Liebermann aus dem 1. Stock habe ich noch persönlich gekannt, da war ich 50 cm hoch und trug sehr kleine Lederschuhe von blauer Farbe. Kurz war ich versucht, eine der Telefonnummern zu probieren, das war mir dann aber doch zu unheimlich gewesen an diesem nebligen Tag, da mir beim Spazieren zum ersten Mal leuchtende Mundnasenmasken begegneten. — stop
von häubchen
romeo : 0.24 UTC — Das Gedächtnis meiner Haut oder doch etwa ihre Fähigkeit zu vergessen. Nach Stunden, da ich eine enganliegende Maske trage, die 95 Prozent feinster Partikel aus meiner Atemluft filtern soll, meiner Atemluft hin und meiner Atemluft her, vergesse ich, dass Nase und Mund bedeckt worden sind. Ein Stück Schokolade, das ich zum Mund führe, stößt auf Widerstand, Wasser rinnt mir den Hals entlang. Und wie ich auf die Straße trete, das Häubchen von Mund und Nase nehme, so wie ich es lernte anzufassen an seinen Schlaufen für zwei Ohren, fühlt sich das an, als würde etwas fehlen. Der Wind plötzlich, es ist kühl, frisch, dort auf der Haut. Nachts baumeln meine Tageshäubchen vor den Fenstern im Wind. Zwanzig Tage lang schaukeln sie dort von der Sonne bestrahlt, drehen sich, werden nachts von Nachtfaltern besucht. — stop
rosetta
romeo : 3.12 UTC — Nabokov schrieb vor langer Zeit, er habe mir eine ungewöhnliche Uhr geschickt, ich solle ihm notieren, sobald sie angekommen sei. Wenige Wochen später erneute Frage: Lieber Louis, ist die Uhr, die ich vor zwei Monaten sendete, angekommen? Eine erste Uhr Nabokovs lag kurz darauf im Briefkasten, zollamtlicher Vermerk: Zur Prüfung geöffnet. Nun, in diesem seltsamen Mai, habe ich eine weitere Uhr von Nabokov erhalten. Zollamtlicher Vermerk, derselbe. Ich will an dieser Stelle bemerken, von der Öffnung des Päckchens war wiederum nicht die mindeste Spur zu erkennen, kein Schnitt, kein Riss, keine Falte. Im Päckchen diesmal eine Schachtel von rotem Karton, in der Schachtel Seidenpapiere, von Nabokovs eigener Hand vermutlich zerknüllt. In weitere Seidenpapiere eingeschlagen, besagte Uhr, wunderbares Stück, rechteckiges Gehäuse, blechern, vermutlich Trompete, welches schwer in der Hand liegt. Kurioserweise fehlt auch dieser Uhr das Zifferblatt, weiterhin keinerlei Zeiger, weder Dioden noch Leuchtzeichen. Ich versuchte das Gehäuse der Uhr zu öffnen, erneut vergeblich. Wenn ich auf das Gehäuse der Uhr Druck ausübe, öffnet sich am Uhrboden ein schmaler Schacht, dem, wie zum Beweis der Existenz der Zeit, ein Streifen feinsten Papiers entkommt, auf welchem ein Uhrzeitpunkt aufgetragen worden ist: Achtzehnzwölf. — Es ist Nacht geworden. Ich liege im Halbschlaf auf dem Sofa. Meine Schreibmaschine atmet leise, ein beständiges Fauchen. Seit einigen Tagen arbeitet sie auch während ich schlafe, rechnet vor sich hin für ein besonderes Projekt: Rosetta@home — stop