echo : 8.12 UTC — Ich dachte wieder einmal daran, dass ich den Faden einer Geschichte mit Möwe, die mich auf einem Fährschiff besuchte, vermutlich so nie wieder erleben werde. Trotzdem beachtete ich in den darauffolgenden Tagen die Erscheinungen der Möwen, welche auf dem Dach des alten Hauses saßen. Etwas war anders geworden. Ich hatte bemerkt, dass es sich bei dem alten Haus um ein Hotel handelte. Ich kannte nun den Namen des Hotels, obwohl ich nie dort gewesen war, ich hatte das Gebäude in der digitalen Sphäre identifiziert. Tage vergehen. Plötzlich sitze ich in einem Zug. Es ist spät, dunkel draußen, Menschen in meiner Nähe schlafen, bisweilen tauchen Lichter einer Stadt oder eines Dorfes aus der Lichtlosigkeit. Ich beobachte einen Film auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine. Es geht schön laut zu in dem Film, ich trage Kopfhörer, und ich denke, wenn ich in ein Attentat geraten würde, ich würde möglicherweise das Attentat nicht bemerken, solange nicht bemerken, bis mir jemand von hinten oder von der Seite her in den Kopf schießt, auch das würde ich eventuell nicht bemerken. — Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol würde man im März des Jahres 2022 Scharfschützen entdeckt haben, die auf Hausdächern lagen und auf Möwen und Menschen schossen. — stop
Aus der Wörtersammlung: faden
zwergdrache
sierra : 2.28 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Sommer 1958. Auf einem Fährschiff, dessen Name ich nicht ermitteln konnte, steht am Heck ein Junge im Alter von ungefähr 12 Jahren. Es ist früher Nachmittag, die Schule vermutlich gerade vorüber, der Junge fährt mit dem Schiff von Manhattan nach Hause. Er trägt Halbschuhe, ein helles Hemd, eine Krawatte und ein dunkles Jackett, seine Schultasche lehnt an einem Pfeiler, der für schwere Schiffstaue vorgesehen ist. Im Hintergrund, am Horizont, sind Kräne zu erkennen, die wie eiserne Vögel auf stelzenartigen Füssen stehend, zu warten scheinen. Einige Meter über dem Jungen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Junge selbst, reglos in einer Schwarz-Weiß-Fotografie gefangen. Zwei ältere Personen, eine Frau in einem hellen Kleid, und ein Mann, der einen dunklen Anzug trägt, lungern auf einer Bank. Sie küssen sich gerade auf den Mund, sind vielleicht eigentliche Ursache der Fotografie, der Junge, der gefährlich nah an der Kante zum Wasser steht, ist also möglicherweise versehentlich mit auf das Bild geraten. Eine Hand des Jungen ist nach vorn hin ausgestreckt, es ist seine linke Hand, während seine rechte Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sichtbar ist, um diese linke ausgestreckte Hand wickelt, als wäre sie eine Spule. Der Junge scheint im Moment der Aufnahme mit seiner Arbeit des Wickelns beinahe fertig geworden zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sichtbar, ein kleiner Drache von Papier ist dort befestigt, ein Drache nicht länger als zehn Zentimeter und nicht breiter als sechs Zentimeter, ein Zwergdrache, in der einfach gekreuzten Form der Kinderdrachen, dessen Körper mit Seidenpapier bespannt gewesen sein könnte, unbekannte Farbe, vielleicht blau, vielleicht gelb. Eine erstaunliche Entdeckung. Zweiter Blick. – Das Radio erzählt, man habe in der Stadt Mariupol einen städtischen Bus mühevoll in Bewegung gesetzt. — stop
voliere
echo : 18.58 UTC — Im Traum stehe ich im Park vor einer Voliere, die an einem Bindfaden hängt. Dieser Bindfaden muss in großer Höhe am Himmel befestigt sein. In der Voliere schweben Vögel. Sie sind nicht sehr viel größer als ein Daumen, ihr Gefieder von prächtigen Farben, die sich langsam fließend verändern. Ich sitze auf einem Stuhl, habe Brotzeit mitgebracht, Kürbiskernbrötchen, Schinken, 1 Schnittlauchsträußchen, Champignonpastete, Himbeerbrause, eine Kanne Kaffee. Ich beobachte das Vogelhaus, das über keinerlei Tür verfügt. Tagelang, es wurde immer wieder dunkel, saß ich auf meinem Stuhl. Wenn es dunkel geworden war, leuchtete ich mit einer Taschenlampe zu den Vögeln hin. Sie mochten das Licht, ihre Augen glühten wie Dioden in Blau, Orange, Grün und Rot. Auch waren sie stumm. Sie schienen aufmerksam zu sein. Vielleicht wunderten sie sich über diesen Mann, der geduldig wartete, ob sie bald einmal landen würden. Das Radio erzählt, in Mariupol würden Telefonsimkarten wie Brot verteilt. Menschen standen, so wird berichtet, mit versteinerten Gesichtern in Reih und Glied vor Lastkraftwagen. — stop
von fallschirmen
echo : 20.28 UTC — Hört zu! Folgendes: Fliegende oder Sommerfäden werden von jungen und alten Spinnen gesponnen und zwar vornehmlich von Individuen der Gattungen Luchsspinne (Lycosa), Kreuzspinne (Epeira), Krabbenspinne (Thomisus) und Weberspinne (Theridium). Diese Spinnen sind zum Herbst herangewachsen, und ihre Fäden bezeichnen die Wege, welche sie zogen. Da sie aber nur bei gutem Wetter spinnen, so steht die Erscheinung in der That im Zusammenhang mit schönen Herbsttagen. Die Fäden werden zum Teil vom Wind losgerissen und fortgeführt, aber auch von den Spinnen direkt für eine Fahrt durch die Luft erzeugt. Das Tierchen kriecht auf einen erhöhten Punkt, reckt den Hinterleib in die Höhe, schießt einen oder mehrere Fäden aus seinen Spinnwarzen empor und überlasst sich, von diesen getragen, der Luftströmung. Will die Spinne auf den Boden zurückkehren, so klettert sie an dem Faden hinauf und wickelt ihn dabei mit den Füßen zu einem Flöckchen zusammen, welches sich langsam zu Boden senkt.* – Nichts denken zur Beruhigung als das Wort l u m u m b a . – stop / gefunden bei *Peter Hug
dschungelfäden
lima : 18.30 UTC — Eine seltsame Vorstellung vielleicht: In dem Bild dieser Vorstellung würde jede digitale Verbindung unserer handlichen Telefone je zu einem Faden werden oder einem Seil, sodass wir uns in unseren Städten kaum noch von einem Ort zu einem anderen Ort bewegen könnten. — stop
auf dem hochseil
romeo : 2.25 UTC — Vor einiger Zeit, als noch Schnee lag, entdeckte ich in einem Karton vor einem Haus auf der Straße zwei Pinguine. Sie waren ungefähr 8 Zentimeter groß und weich. Ich nahm sie mit nach Hause und stellte sie auf ein Fensterbrett. Wie das so ist, waren sie einerseits anwesend, andererseits hatte ich sie so weit aus den Augen verloren, dass ich nicht länger an sie dachte oder sie bemerkte, wenn ich ans Fenster trat. Nun aber habe ich vor wenigen Minuten ein Häufchen winziger Fliegen, es waren 24 Fliegen, leblos zwischen beiden Pinguinen auf dem Fensterbrett entdeckt. Und wie ich mich nähere sehe gerade noch wie eine Spinne sich hinter dem rechten der Pinguine versteckte. Ich holte mir einen Stuhl und wartete. Bald zeigte sich die Spinne, indem sie über einen unsichtbaren Faden zwischen zwei Pinguinköpfen spazierte. In der Mitte ungefähr hielt die Spinne inne. Ich stellte mir vor, wie sie mich vielleicht betrachtete. Es war früher Nachmittag. Und so saßen wir gemeinsam eine Zeit und warteten, dass sich eine weitere Fliege, Fliege No 25, nähern möge. — stop
vögel
india : 18.55 UTC — Im Traum stehe ich im Park vor einer Voliere, die an einem Bindfaden hängt. Dieser Bindfaden muss irgendwo in großer Höhe am Himmel befestigt sein. In der Voliere schweben Vögel. Sie sind nicht sehr viel größer als ein Daumen, ihr Gefieder von prächtigen Farben, die sich langsam fließend verändern. Ich sitze auf einem Stuhl, habe Brotzeit mitgebracht, Kürbiskernbrötchen, Schinken, 1 Schnittlauchsträußchen, Champignonpastete, Himbeerbrause, eine Kanne Kaffee. Ich beobachte das Vogelhaus, das über keinerlei Tür verfügt. Tagelang, es wurde immer wieder dunkel, saß ich auf meinem Stuhl. Wenn es dunkel geworden war, leuchtete ich mit einer Taschenlampe zu den Vögeln hin. Sie mochten das Licht, ihre Augen glühten wie Dioden in blau, orange, grün und rot. Auch waren sie stumm. Sie schienen aufmerksam zu sein. Vielleicht wunderten sie sich über diesen Mann, der geduldig wartete, ob sie bald einmal landen würden. — stop
faden
olimambo : 15.12 UTC — Einmal entdeckte ich das Wort Spinnfaden. Ja, dachte ich, derart fein sollten Erzählungen ausgedacht sein, dass sie sich wie an einem Spinnfaden entlang bewegen, der jederzeit reißen könnte. Nicht telefonieren. Nicht spazieren. Nicht Radio hören. Nicht atmen. Einer, der schweigt, sollte gut geschlafen haben. — stop
auf der intensivstation
ulysses : 8.22 UTC — Am Telefon berichtete eine Schwester der Intensivmedizin: Heute Nacht war es ernst, sie hatte eine Atemkrise. Vielleicht wollen sie kurz vorbeikommen? Eine Straßenbahnhalbstunde später trat ich in die Station. Seltsam hupende Geräusche von da, von dort. Blinkende Apparaturen, gelb, rot, grün. Eine weitere Schwester erzählte, sie habe morgens bei der Übergabe gehört, es sei knapp gewesen: Das Leben ihrer Freundin hing an einem seidenen Faden. Und ich dachte, sie wird nicht dieselbe sein, wenn sie wieder aufwachen wird. Wer wird sie sein? Und ich dachte noch dazu: Jedes der Zimmer an diesem Ort, jedes Abteil, ist eine Sorgenwelt. Und schon saß ich auf einem Stuhl vor dem Bett der Schlafenden. Sie lag auf dem Bauch, ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Ohren. Eine der tapfer fröhlichen Schwestern schlug vor, ich solle doch möglichst mit der Schlafenden sprechen: Das mögen sie nämlich! Und schon waren wir unter uns allein mit den Maschinen. Ich versuchte also zu sprechen. Es ist schwer, einer schlafenden Person zu erzählen, man hört nur sich selbst, und man glaubt nicht, was man erzählt, obwohl doch alles wahr ist, was man erzählt. Sofort in dieser Notlage suchte ich in den Magazinen meiner Schreibmaschine nach Geschichten, die ich vorlesen könnte, vorlesen, sagen wir, wie sprechen, mit meiner Stimme locken. Ich sagte: Folgendes, hör zu! Da ist ein Museum, das Museum der Nachthäuser, das sich in New York am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der East River so nah, dass man ihn riechen kann. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor hörte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil, so war zu lesen, das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung geöffnet würde. Es ist eben ein Museum für Nachtmenschen, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum dann öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher in dieser Nacht gewesen war, führte mich ein junger Mann herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er überaus spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz erzählen, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung zwischen einem Gecko und einer Spinne erinnerte. Das Ding war verrostet. Es hatte die Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handele, aus einer Zeit da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter den Dächern ein und derselben Häuser wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf,- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen hatten. Ja, zum Teufel, schon zum hundertsten Male war das so geschehen, obwohl man aller freundlichst um etwas Ruhe, um etwas Vorsicht gebeten hatte, nein gefleht, nein geflüstert. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich jene Tagmenschen, die über geräumigen Zimmern wohnten, sicher fühlten vor jenen Nachtmenschen, die unter ihnen wohnten und mit ihren Schritten die Zimmerdecke niemals erreichen konnten. Aus und fini! — stop
laterne
echo : 0.18 UTC — Gestern bemerkte ich eine Bewegung auf meinem Bildschirm, die ich weder verstehen noch beeinflussen konnte. Ich notierte gerade eine E‑Mail, als zwei Sätze dieser E‑Mail Buchstabe für Buchstabe rückwärts gelöscht wurden. Nichts konnte ich tun, als diesen Vorgang beobachten. Ich erinnerte mich an das Bild eines Pullovers, wie er verloren ging, ein Faden meines Pullovers war in die Fänge einer Katze geraten, die wild spielend durch die Wohnung raste. Ich saß still auf einem Stuhl und beobachtete, wie sich der Zusammenhang meines Pullovers auflöste. Ich habe heute verstanden, dass man Informationen, die innerhalb eines Lichtstroms übermittelt werden, mittels eines Prismas in zwei Lichtströme spalten kann. Auch dass es möglich ist, mittels eines Enzyms SARS-CoV-2-Viren zu beleuchten, das heißt Teile, Segmente des Virus so zu codieren, dass Licht von ihnen ausgeht. Es ist ein winziges Licht, aber wenn man sehr nahe herangeht an das Licht mittels eines Mikroskops, ist das Licht ein großes Licht, man könnte dann von einer Laterne sprechen — stop