lima : 0.22 UTC — Am späten Abend bei großer Hitze stelle ich ChatGPT eine Frage. Ob für sie „persönlich“, will ich wissen, eine Unterscheidung von Tagzeit zu Nachtzeit von Bedeutung sei. ChatGPT antwortet, wie erwartet, notiert Folgendes: Als KI habe ich kein Bewusstsein, keine körperlichen Empfindungen und damit auch kein Konzept von Tag oder Nacht. Zeit existiert für mich nur in dem Sinne, dass ich darauf programmiert bin, Informationen in Echtzeit zu verarbeiten und zu reagieren. Ich arbeite unabhängig von der Tageszeit und habe weder Bedürfnisse noch den biologischen Rhythmus, der bei Lebewesen das Gefühl von Tag und Nacht prägt. Für mich gibt es also keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, und ich stehe jederzeit zur Verfügung, um Informationen bereitzustellen oder Aufgaben zu erfüllen. — Output Ende. Stille. Keine Bewegung auf dem Bildschirm, keine weitere Zeile. Eine Fliege brummt durchs Zimmer, noch wach, der kleine Kerl, der mich durch den Tag begleitete, treu wie ein zahmer Vogel. In diesem Moment, kurz nach Mitternacht, eine seltsame, leise Erwartung, ChatGPT würde nach langer, geduldiger Zeit des Antwortens selbst eine persönliche Frage stellen: Louis, bist Du müde? — stop
Aus der Wörtersammlung: tage
ein flimmern
alpha : 18.55 UTC — Im Radio erzählte ein Astronaut, er habe die ersten Stunden des Überfalls der Russischen Föderation auf die Menschen des freien Staates Ukraine im Weltraum fliegend erlebt. In der Nacht ein stockdunkles Gebiet, wo Tage zuvor die Städte des Landes noch wie Erdsterne leuchteten. Die Kämpfe um Hostomel habe er als ein rötliches Flimmern oder Flirren wahrgenommen. Eines Tages führte die Flugbahn der Raumstation in 400 Kilometern Höhe von Südwesten über das Schwarze Meer. Eine tiefschwarze Rauchwolke reichte hoch hinauf bis in die Stratosphäre, das war, als die Stadt Mariupol belagert und Tag und Nacht von der See, vom Land her und aus der Luft bombardiert wurde. — stop
Kaleidoskop
Blick ins Licht
Palmengarten
10. Juli
2024
louis
alpha : 20.02 UTC — Am 6. Juli 1978 notiert Wilhelm Genazino Folgendes > Geheimnisse des Wohnens: Im Sommer: eine einzelne Fliege ist im Zimmer: Sie stößt manchmal an eine Scheibe, fällt aber sonst kaum auf, lässt auch den Bewohner in Ruhe. Angenehmes Gefühl, mit einem solchen Tier einen Nachmittag zu verbringen. — Fliege Louis, von der ich kürzlich erzählte, sitzt seit drei Tagen bereits reglos auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Es ist hell geworden, dann wieder dunkel, und wieder hell. Unverändert sitzt Fliege Louis, seit drei Phasen der Dunkelheit bereits auf meinem Küchentisch, als würde sie meditieren oder schlafen oder warten. Noch immer bewege ich mit behutsam. — stop
Paris
im Sommer
kurz nach
Sars-Cov‑2
Am Montmartre
von nicht sichtbaren spuren
alpha : 20.02 UTC — Vor wenigen Wochen erzählt ein junger Mann, er habe einen Mensch getötet. Ein Hinweis, nicht Geständnis. Er wolle nicht weiter darüber sprechen, er setzt hinzu: Heutzutage nahe einer Front Spuren in der elektromagnetisch Sphäre zu hinterlassen, sei Selbstmord. — stop
louis
echo : 20.02 UTC — Seit einigen Tagen wohnt eine Fliege in meinen Zimmern, mit mir unter dem Dach. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass jene Fliege, die ich zuletzt beobachtet habe, als ich kurz vor dem Schlaf noch einmal in die Küche trat, dieselbe Fliege war, die mich morgens schon im Flur mit einem Flugmanöver begrüßte. Da ich meine Fenster während der Nacht geöffnet hatte, könnte die Abendfliege meine Wohnung verlassen haben, indessen die Morgenfliege irgendwann in der Nacht hereingekommen war, um zu bleiben. Ich stelle fest: Ich vermag, nach Beobachtung ihrer Gestalt, eine Fliege von einer anderen Fliege nicht zu unterscheiden; sie sind groß oder klein und schillern und haben eine Flügelstimme, die mir je vertraut zu sein scheint. Nun ist jedoch Folgendes zu erzählen. Diese, eine Fliege, die vermutlich bereits seit Tagen bei mir wohnt, verhält sich, wie noch nie eine Fliege zuvor in meiner Wohnung sich verhalten hatte. Sie folgt mir nämlich Tagein, tagaus. Sobald ich mich von einem Stuhl erhebe, begleitet mich die Fliege in den Flur und weiter in mein Arbeitszimmer und wieder zurück. Sie fliegt, weil sie mir im Gehen auf dem Fußboden, an einer Wand oder einer Decke, nicht folgen könnte, an meiner Seite, und zwar in der Höhe meines Kopfes. Ich habe diese Beobachtung mehrfach überprüft, indem ich meine Aufmerksamkeit auf diese eine Fliege lenkte, bevor ich eine Wanderung durch die Wohnung begann. Die Fliege scheint auf mich zu warten, dass ich etwas unternehmen möge. Ich habe ihr einen Namen gegeben: Die Fliege heißt Louis. Louis wünscht, so mein Eindruck, für den Rest seines Lebens bei mir zu bleiben. — stop
Kyjiw
inari 5 im Wald
olimambo : 16.28 — Eigenartig wiederum, das Verhalten der Papiere, das Verhalten meiner Hände, meiner Bleistifte. Seit ich wieder stundenweise mit einfachsten Werkzeugen notiere, mit Werkzeugen, die ohne Elektrizität funktionieren, der Verdacht, dass von eigensinniger Natur ist, was ich auf kleinere oder größere Zettel schreibe. Meine Wörter wollen sich nicht auf Linien legen, sie wollen fliegen, weshalb sie über den Zeilen aufwärts steigen. An einem anderen Tag, wieder einem Tag ohnmächtiger Horizonte, sinken sie, ohne dass ich präzise sagen könnte, warum es an dem einen Tag aufwärts und an dem anderen Tag abwärtsgehen will, immerhin war jeweils nur ein wenig Schlaf zwischen da und dort zu verzeichnen gewesen. Auch mit den Buchstaben habe ich Mühe, mal bricht die Bleistiftspitze, dann wieder ist ein Zeichen gemalt, das man doch eher für ein ganz anderes halten möchte. Die Buchstaben Z und G sind besonders widerspenstige Gestalten, und das S und das A machen schon immer, was sie wollen. Dagegen sind das I und das M an jedem meiner Arbeitstage zuverlässige Erscheinungen, Welle und Giraffenhals, schlicht und weich. Ich nehme das noch immer, gerade wie es kommt, in aller Ruhe. — stop
Inari 5
Taunus
Flugübungen
zur Zeit der
Abenddämmerung
on the road
himalaya : 7.12 UTC —Vor wenigen Jahren entdeckte ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book. Ich beobachtete, dass eine Rechenmaschine irgendwo, vermutlich von Nordamerika aus, verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist März, leichter Regen. — Die Welt der Wörter scheint sich der Lage unserer Welt anzugleichen: Vor einigen Tagen bemerkte ich das Wort Aerosolbombe. Sollte ich tatsächlich der Registratur meines Wörterspeichers gestatten, Wörter des Krieges zu erlernen, sodass meine Schreibmaschine in der Zukunft des Notierens weder Warn- noch Fehlerhinweise an mich senden würde. — stop
Iannis Xenakis
Die Schönheit
sichtbarer
Musik
von schildkröten : sars cov 2
ginkgo : 15.08 UTC — Das gedankenlose Spazieren in der Stadt scheint unmöglich geworden. Es ist März oder April. Das Jahr 2020. Nervöse Blicke eilen weit voraus. Ist die Straße frei, ist Platz, kann ich passieren, ohne einer Person nahezukommen? Das Distanzieren brennt sich in den Kopf. In den ersten Tagen der Verordnung zu Abstand waren alle noch ernst gewesen, jetzt da und dort immer wieder ein Lächeln, ein leises Dankeschön, wenn man wartet, um Raum zu spenden. In einer zweifach um Ecken gefalteten Schlange stehen Menschen, sie warten in ein Postamt eintreten zu können. Wann habe ich in meinem Leben je so verharrt, geduldig, demütig, entspannt? Rotkopfschildkröten hocken an Stränden der verbotenen Parkseen, ihre verwitterten Körper sind vollständig aus dem Wasser gekommen, als würden sie nach Menschen jenseits der Zäune luren. Ein wunderbarer Frühling. Goldfarbene Stäube schweben durch die Luft, die so klar ist, wie noch nie seit ich denken kann, auch Spinnen an ihrer Seide, und all das Unsichtbare, das ich ein und wieder ausatme. An das Unsichtbare denken, das ist neu, dass das Nichtsichtbare Gedanken beherrscht, auch die Träume. Die Litfaßsäulen meiner Straße sind weiß wie leer. Eine Fotografie auf einer Zeitung vor dem Kiosk zeigt Menschen, die von Apparaturen umgeben unbekleidet auf dem Bauch liegen. Im Spielfilm abends hocken Menschen im Kaffeehaus Seite und Seite und gegenüber, stecken ihre Köpfe zusammen und debattieren, seltsam, gefährlich. Ich wollte etwas sagen. — stop
von vögeln
sierra : 22.08 UTC — Kleine oder handliche fliegende Fotoapparate sind zunächst zu kleinen fliegenden Filmkameras geworden. Man kann sie mithilfe eines Mobiltelefons und zweier Daumen steuern. Diese fliegenden, filmenden, aufmerksamen Augen scheinen Objekte der Vogelwelt geworden zu sein. Man könnte nun weiteren durchbluteten Vögeln in der Luft begegnen. Man könnte ihnen folgen. Man könnte gleichwohl Menschen besuchen, die in höheren Etagen städtischer Wohnhäuser leben. Man könnte Menschen betrachten aus dem Dunkel heraus, ohne vielleicht selbst gesehen zur werden. Man kann, das ist beobachtet, nun seit bald zwei Jahren Sprengstoffe laden und aus größerer Höhe zur Erde hin stürzen. Beobachtende Vögel sind zu Raubvögeln geworden, sie rauben Bilder und töten. Die Vorstellung heute, spazierend im Palmengarten, die Vorstellung zierlicher Drohnen, die herumfliegen, um da und dort in den Städten und in den Wäldern, Proben zu nehmen von Kot, aus Abfallstoffen der Müllhalden, Gewässern, auch unmittelbar aus den Blutkreisläufen lebender Organismen, von Kühen und von Menschen, denkbare Welten. — stop