alpha : 2.26 UTC — Folgende Person, ein Mann, könnte reine Erfindung sein. Der Mann war mir während eines Spazierganges aufgefallen, dass heißt, ich hatte einen Einfall oder eine Idee, oder ich machte vielleicht eine Entdeckung. Ich könnte von dieser Person, die sich nicht wehren kann, behaupten, dass sie nicht ganz bei Verstand sein wird, weil sie seit langer Zeit in einem Hotelzimmer lebt, welches sie niemals verlässt. Das Hotel, in dem sich dieses Zimmer befindet, erreicht man vom Flughafen der norwegischen Stadt Bergen aus in 25 Minuten, sofern man sich ein Taxi leisten kann. Es ist das Bristol, unweit des Nationaltheaters gelegen, dort, im dritten Stock, ein kleines Zimmer, der Boden hell, sodass man meinen möchte, man spazierte auf Walknochen herum. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigentlich erzählen will. Es handelt sich um einen wohlhabenden Mann im Alter von fünfzig Jahren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haare auf dem Kopf, wiegt 73 Kilogramm, und trägt eine Brille. Sieben weiße Hemden gehören zu ihm, Strümpfe, Unterwäsche, dunkelbraune Schuhe mit weichen Sohlen, ein hellgrauer Anzug und ein Koffer, der unter dem Bett verwahrt wird. Auf einem Tisch nahe eines Fensters, zwei Handcomputer. In den Anschluss des einen Computers wurde ein USB-Speichermedium eingeführt. Auf dem Bildschirm sind Verzeichnisse und Dateinamen zu erkennen, die sich auf jenem Speichermedium befinden. Auf dem Bildschirm des anderen Computers ein ähnliches Bild, Verzeichnisse, Dateinamen, Zeitangaben, Größenordnungen. Was wir sehen, sind Computer des Mannes, der Mann arbeitet in Bergen im Bristol im Zimmer auf dem Knochenboden. Er sitzt vor den Bildschirmen und öffnet Dateien, um sie zu vergleichen, Texte im Blocksatz. Zeile um Zeile wandert der Mann mit Hilfe einer Bleistiftspitze durch das Gebiet der Worte, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Sprache notiert wurden, die mir unbekannt. Es scheint eine verschlüsselte Sprache zu sein, weshalb der Mann dazu gezwungen ist, jedes Zeichen für sich zu überprüfen. Fünf Stunden Arbeit am Vormittag, fünf Stunden Arbeit am Nachmittag, und weitere fünf Stunden am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafelwasser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, Seeteufel, Steinbutt. 277275 Dateien sind zu überprüfen, 12.532.365 Seiten. Er scheint noch nicht weit gekommen zu sein. Die Vorhänge der Fenster sind zugezogen, es ist ohnehin gerade eine Zeit ohne Licht. Ein Mädchen, das ihm manchmal seinen Fisch serviert, macht ihm schöne Augen. Morgens sind die Hörner der Schiffe zu vernehmen, die den Hafen der Stadt verlassen. Das war am 1. Dezember 2013 gewesen. — Im Radio wird von einer Frau erzählt, die seit dem 28. Februar diesen Jahres täglich von Lissabon aus mehrfach vergeblich versucht ihre Eltern in Mariupol zu erreichen. Kein Laut. Kein Zeichen. Aber Stille Tag für Tag. Stunde um Stunde. Minute für Minute. — stop
Schlagwort: hilfe
gallipoli : melissano : ugento : kyiv
delta : 2.14 UTC — Linosa erzählte mir eine Geschichte, von der ich nicht sagen kann, ob sie sich tatsächlich so ereignete wie behauptet, oder ob die Geschichte rein erfunden sein könnte. Seit einigen Monaten erhalte er nämlich täglich einen Luftpostbrief aus Italien. In dem Brief sei jeweils ein beidseitig bedrucktes Blatt Papier enthalten, Text in englischer Sprache, nummeriert, feine, präzise formulierte Sätze. Er habe, so berichtete Linosa, einige dieser Sätze in die Maske einer Suchmaschine eingegeben, weshalb ihm nun bekannt sei, dass es sich wohl um ein zerlegtes Buch handeln könnte, das man ihm schicken würde, um Herman Melvilles Erzählung Bartleby. Das sei für sich genommen schon eine seltsame Angelegenheit, noch merkwürdiger komme ihm aber vor, dass dem Schreiben bisher keine Erklärung, Begründung oder auch nur ein Gruß beigefügt worden sei. Manchmal könne er mit Hilfe des postalischen Stempels entziffern, in welcher Stadt der Brief Tage zuvor aufgegeben wurde. Städte mit wundervollen Namen, Gallipoli, Melissano, Ugento, Lecce, Brindisi, seien darunter. Während er sich in den ersten Tagen noch gewundert, ja sogar ein wenig gefürchtet habe, würde er sich inzwischen darüber freuen, nachmittags aus dem 12. Stock seines Mietshauses zum Briefkasten hin abzusteigen, um den Brief entnehmen, öffnen und wieder im Aufstieg befindlich lesen zu können. 34 Briefe habe er bislang erhalten, 16 weitere Briefe sollten noch folgen, sofern der unbekannte Absender in logischer Weise fortsetzen würde. Der letzte Brief, der gestern aus Fasano kommend, bei Mr. Linosa eingetroffen war, soll eine besondere Briefmarke auf seiner Anschriftenseite getragen haben, acht Rentiere, die in einen verschneiten Himmel fliegen. Diese Briefmarke leuchte nachts in der Küche im Dunkeln, wo sie nun auf dem Stapel zuvor eingetroffener Briefe solange sichtbar ruhen werden, bis wieder Nachmittag geworden sein wird. — Das Radio erzählt von Menschen, deren Wohnungen von Raketen getroffen worden sein sollen. Sie berichten fassungslos, dass sie, wenn sie nicht im Flur, sondern in ihrem Wohnzimmer geschlafen hätten, nun tot sein würden. - stop
gedankengang
ulysses : 6.52 UTC — Ich gehe, wie so oft, ein paar Schritte nach links, dann gehe ich, wie so oft, ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. Ich habe schon viel nachgedacht während ich ging. Und ich habe schon viel vergessen während ich ging. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken aus der Luft und verschwinden wieder in die Luft. Wenn ich sitze, kommen die Gedanken aus meinen Händen. Sobald ich einmal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tasten der Schreibmaschine und warten. Sie warten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktiert, was zu schreiben ist. Ich könnte vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warten, mein Gedächtnis zu entlasten. Was ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notierte. Seltsame Dinge. Ich denke manchmal seltsame Dinge zum zweiten oder dritten Mal. Gerade eben habe ich wahrgenommen, dass es nicht möglich ist, zwei Zeichen zur selben Zeit auf meiner Schreibmaschine zu schreiben, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen. Wenn ich seltsame Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht bleiben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewegung versetzt. Ich springe auf, wenn ich saß, oder ich springe in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. — Das Kurzfilmkino erzählt von einem russischen Soldaten, der nach dem Verlust seines linken Beines auf dem Boden liegt. Ein weiterer, ein sehr großer Mann, kniet neben ihm. Er bietet dem verletzten Mann seine Hilfe an. Wir Ukrainer sind nicht so wie Du fürchtest, sagt er, Hilfe kommt sofort. Der Mann erhebt sich und sucht nach dem Bein des Verletzten, er findet das Bein und einen Schuh. — stop
jenseits
tango : 20.55 UTC — Einmal, vor Jahren, war ich in der digitalen Sphäre auf der Suche nach Propellerflugmaschinen gewesen, die von Hand zu bedienen sind. Ich entdeckte eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mit Hilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war sehr gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — Das Radio berichtet von einem schwerhörigen Opa, der in Kyiv vor einem Fernsehgerät sitzt mit dem Ton so laut, dass seine Enkelkinder im Nebenzimmer die Einschläge von Raketensprengköpfen nicht hören. — stop
eine schreibmaschine
echo : 15.15 UTC — Ich hörte, drei Jahre sind vergangen, von der Existenz einer mechanischen Schreibmaschine, die nicht größer sein soll als ein Stück Würfelzucker. Würde man diese sehr kleine Schreibmaschine mit bloßem Auge betrachten, würde man vermutlich sagen, das könnte der Form nach eine Schreibmaschine sein. Sie verfügt über Tasten, wie bei einer gewöhnlichen Schreibmaschine, sowie eine Walze, die Papiere zu transportieren vermag, auch über ein Farbband von Haaresbreite, und über Hämmerchen, an deren Enden Plättchen befestigt sind, auf welchen sich Zeichen befinden, die wir kennen. Wie, fragte ich mich, soll diese Schreibmaschine nur zu bedienen sein, wenn sie doch so klein ist, dass sie von einem menschlichen Finger ganz und gar zerdrückt werden könnte, oder verbogen, so dass sie nie wieder schreiben würde. Und überhaupt, wer hat diese Apparatur aus welchem Grunde in jener seltsamen Größe montiert? Man könnte mit ihrer Hilfe vielleicht in der Art und Weise Jack Kerouacs einen Text verfassen, könnte demzufolge einen sehr langen Text auf eine Luftschlange notieren, wenn man nur in der Lage wäre, die Tasten der Schreibmaschine in äußerst zärtlicher Art und Weise anzuschlagen. Eine Lupe scheint unverzichtbar. Auch dass die Schreibmaschine sicher sein muss, als wäre sie in härtester Nuss geborgen. — stop
im wald
ulysses : 18.12 UTC — Einmal spazierte ich mit Mutter durch einen Wald. Die alte Dame, sie trug rote Turnschuhe, fragte mich, ob sie denn seltsam aussehen würde, so wie sie ging. Und ich antwortete: Nein, dein Gang ist vielleicht etwas steif geworden, etwas langsamer, vorsichtiger, aber nicht seltsam. Am Himmel kreiste ein Modellflugzeug mit einem Kopfpropeller, sehr leise, kunstvoll über einem Hügel, von dem aus wir Vaters Segelflugzeuge in herbstliche Winde hängten. In jenem Wald, ich erinnere mich, den ich mit Mutter spazierte, suchte ich als Junge nach Skeletten. Es war ein dichter Wald junger Tannen. Man erzählte, dass die Tiere sich dorthin zurückzogen, um in Ruhe zu sterben. Vermutlich deshalb habe ich sehr viele Knochen gefunden. Sie waren über Jahre hin über den Boden gewandert, das waren vermutlich Wildschweine gewesen. Ich trug zahlreiche Knochen nach Hause, um sie zu sortieren mithilfe eines naturkundlichen Buches. In einem großen Karton verwahrte ich Knochen, die ich nicht zuordnen konnte. Einmal schüttete ich diese Knochen vor mich auf den Boden und setzt sie so zusammen, dass sich ein Tier abzeichnete, welches über mehrere Schädel verfügte und zahlreiche Beine. Das Tier war sehr lang, ein Tier, über dessen Leben ich aufregende Geschichten erzählen konnte. — stop
taschkent
nordpol : 9.18 UTC — Eine Dame sitzt mit hellrot geschminktem Mund an einem Holztisch in einer Wohnung der Stadt Taschkent. Es ist später Nachmittag. Auf dem Tisch ruht eine Schreibmaschine, ein Notebook, das hat ihr die Tochter geschenkt, die in Amerika wohnt, in Brooklyn genauer, im vierten Stock eines Hauses mit Blick auf den East River. Dort ist jetzt früher Morgen. Die Tochter, die wie ihre Mutter in der Ferne vor einem Notebook, einer Schreibmaschine, sitzt, freut sich, weil sie auf einem Bildschirm das Gesicht ihrer Mutter sehen kann. Endlich hat es funktioniert, das Programm, der ganz Computer überhaupt, ihre Mutter kann ihn jetzt einschalten, und das Programm starten, das eine Verbindung knüpft nach New York, sodass sie ihrerseits auf dem Bildschirm der Mutter sichtbar werden kann. Die Tochter lächelt, gerade hat ihr die Mutter erzählt, sie habe einen leicht amerikanischen Akzent entwickelt nach Jahren ihres Lebens in New York. Aber sie spricht nicht viel in diesen ersten Momenten einer Begegnung auf dem Bildschirm. Sie will ihre alte Mutter nicht überfordern, sie sagt: Jetzt können wir telefonieren sooft wir wollen, es kostest fast nichts. Die Mutter schaut glücklich zu dem Bildschirm hin. Sie könnte das Gesicht ihrer Tochter berühren, aber sie will nichts tun, das seltsam erscheinen könnte, weil sie nicht allein ist. Unsichtbar für die Tochter in Brooklyn zunächst, sitzt in einem sinnvollen Abstand eine junge Frau, eine Studentin, auf einem Stuhl, der knistert, sobald sie sich bewegt. Es ist nämlich so, dass die Studentin der alten Dame half, ihre Schreibmaschine in ein Telefon mit Bildschirm zu verwandeln, eigentlich zunächst nicht sehr schwierig für eine Studentin der russischen Literatur, ihrer Professorin beizustehen. Das Notebook musste jedoch derart verwandelt werden, dass es sich ohne ihre Hilfe jederzeit erneut in einen Telefon mit Bildschirm zurückverwandeln könnte, deshalb alles ganz langsam, vor und zurück, vor und zurück, Schritt für Schritt, was ein Fingercurser ist, was eine Maus. Die junge Frau kommt nun ins Bild, sie trägt einen Mundschutz, auch die alte Dame ziehen ihren Mundschutz vom Hals herauf. Beide lächeln, das kann die Tochter sehen. Und sie ist sehr beruhigt, dass ihre Mutter auf sich achtet in der Ferne, glücklich ist sie. Und so springt sie auf und eilt zum Fenster. Eine Minute Zeit vergeht. Die Möwe späht ins Zimmer. Da kommt die Tochter zurück zum Tisch, sie trägt jetzt gleichwohl einen Mundschutz in roter Farbe mit weißen Punkten darauf. — stop
ai : TÜRKEI
MENSCH IN GEFAHR : “Am Abend des 15. Juli 2016 versuchten Teile der türkischen Streitkräfte mit Waffengewalt, die Regierung zu stürzen. Doch der Putschversuch wurde schnell niedergeschlagen. Tausende Menschen protestierten auf den Straßen dagegen und die Putschisten wurden von Sicherheitskräften überwältigt. In einer Nacht voller Gewalt wurden Hunderte getötet und Tausende verletzt. Unmittelbar nach dem gescheiterten Staatsstreich beschuldigte die Regierung den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen und seine Anhänger_innen, sich zum Sturz der Regierung verschworen zu haben. Die religiöse Gülen-Bewegung wird von den türkischen Behörden als terroristische Organisation eingestuft. Am 20. Juli 2016 rief die Regierung den Ausnahmezustand aus, der zwei Jahre lang in Kraft blieb. Es folgte eine massive Verhaftungswelle gegen Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Richterinnen, Staatsanwältinnen sowie vermeintliche und tatsächliche Kritikerinnen der Regierungspartei AKP. / Ahmet Altan und sein Bruder Mehmet Altan nahmen am 14. Juli – dem Vorabend des Putsches – an einer Live-Fernsehsendung mit der Moderatorin Nazlı Ilıcak teil. Während der Sendung diskutierten sie auch über türkische Politik. Anschließend wurden alle drei unter dem Vorwurf festgenommen, in der Sendung „unterschwellige Botschaften“ über den bevorstehenden Putsch verbreitet zu haben. Nazlı Ilıcak kam Ende Juli, Ahmet Altan und Mehmet Altan kamen im September 2016 in Untersuchungshaft. Ahmet Altan, Mehmet Altan, Nazlı Ilıcak und drei weitere Angeklagte wurden dann im Februar 2018 wegen des Vorwurfs, „die verfassungsmäßige Ordnung umstürzen zu wollen“ zu einer lebenslangen Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer Bewährung verurteilt. Als das Oberste Berufungsgericht die Schuldsprüche im Juli 2019 aufhob, wurde ein neues Verfahren gegen fünf der Angeklagten eingeleitet. Mehmet Altan wurde dagegen freigesprochen. / Am 4. November 2019 wurden mithilfe der Anklage „Unterstützung einer terroristischen Organisation, ohne deren Mitglied zu sein“ Ahmet Altan zu zehneinhalb Jahren und die Journalistin Nazlı Ilıcak zu acht Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Beide wurden bis zum Urteil in ihrem Rechtsmittelverfahren vor dem Strafgericht für schwere Strafsachen Nr. 26 in Istanbul freigelassen und mit einem Reiseverbot belegt. Das Gericht sprach in dem unfairen Verfahren drei weitere Personen schuldig, darunter zwei Medienschaffende, und entschied, dass sie in Untersuchungshaft bleiben müssten. Die Staatsanwaltschaft legte am 6. November 2019 Rechtsmittel gegen Ahmet Altans Freilassung ein. Am 8. November wies das Gericht für schwere Strafsachen Nr. 26 in Istanbul den Antrag des Staatsanwalts zurück, Ahmet Altan erneut in Haft zu nehmen und verwies die Strafsache an das Gericht für schwere Strafsachen Nr. 27. Dieses Gericht akzeptierte das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft am 12. November. Ahmet Altan und sein Rechtsbeistand erfuhren nicht direkt von dieser Entscheidung des Gerichts, sondern durch regierungsnahe Medien. Noch am gleichen Abend wurde Ahmet Altan zuhause in Istanbul festgenommen und in Polizeigewahrsam überstellt. / Die erneute Festnahme von Ahmet Altan scheint politisch motiviert, willkürlich und unvereinbar mit dem Recht auf Freiheit nach Paragraf 5 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu sein, der jeden willkürlichen Freiheitsentzug verbietet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte fest, dass vorsätzliche Handlungen der Behörden zu Willkür führen können. Die erneute Inhaftierung von Ahmet Altan verstößt eklatant gegen seine Rechte.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 8.1.2020 unter > ai : urgent action
ai : USA
MENSCH IN GEFAHR : “Die Festnahme von Scott Warren erfolgte nur Stunden nach der Veröffentlichung eines Berichts, der die vorsätzliche Vernichtung humanitärer Hilfsgüter im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko durch die Grenzbehörden dokumentiert. / Scott Warren leistet als Freiwilliger für die humanitäre Organisation No More Deaths lebenswichtige humanitäre Hilfe, um das Recht auf Leben von Migrant_innen zu schützen und weitere Todesfälle von Migrant_innen und Asylsuchenden in der Sonora-Wüste zu verhindern. Menschenrechtsaktivist_innen aus Städten entlang der Grenze, die in Hilfsorganisationen, Glaubensgemeinschaften oder Aktivistengruppen organisiert sind, unterstützen Migrant_innen bereits seit vielen Jahren. / Straf‑, Zivil- und Verwaltungsgesetze sollten nicht dazu missbraucht werden, Menschenrechtsverteidiger_innen zu schikanieren, die sich für die Rechte von Migrant_innen, Asylsuchenden und Flüchtlingen oder anderen einsetzen, deren Leben gefährdet ist und denen Menschenrechtsverletzungen drohen. Regierungen sollten sicherstellen, dass Menschenrechts-verteidiger_innen und ihre Organisationen ihre Arbeit in einem sicheren und unterstützenden Umfeld ohne Angst vor Repressalien nachgehen können. / Die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe und von einfachsten Gesten der Unterstützung, bei denen nicht nach der Staatsangehörigkeit gefragt wird, ist ein Angriff auf die Menschenrechte.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 30. Juni 2019 unter > ai : urgent action
schildkrötengeschichte
india : 15.03 UTC — Vor wenigen Stunden war ich im Stadtwald spazieren. Ich ging um einen Teich herum, in dem Schildkröten unter der Wasseroberfläche gegeneinander kämpften. Plötzlich hörte ich das Geräusch einer hellen, scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, irgendjemand will Dich wecken. Und ich dachte, Du kennst diese Geschichte, das hast Du schon einmal geträumt. Du musst zunächst versuchen, wach zu werden, dachte ich. Also versuchte ich, wach zu werden. Ich wanderte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit mir, und ich bemerkte, die Küche ist kein guter Ort, um wach werden zu können. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte. Es war das Glöckchen, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht wurde, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch sehr schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mit Hilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. — stop