Aus der Wörtersammlung: berge

///

von ziffern

9

bamako : 23.02 UTC — Ich packe einen Kof­fer. Har­te, sehr har­te Scha­le, hart wie die Scha­le der Pekan­nüs­se. Ich lege Hem­den hin­ein, und Hosen und eine Jacke, es könn­te kalt wer­den nachts dort, wohin ich rei­se. Bril­le, Turn­schu­he, bun­te Strümp­fe und 1 Paar Hand­schu­he, Hals­tü­cher in Gelb und Rot und Blau. 2 Bücher, die von Vögeln erzäh­len, 1 Land­kar­te, 2  star­ke Bat­te­rien für Schreib­ma­schi­ne, 1 Gum­mi­band, Sei­fe, 1 Stet­son Hut, 1 Pull­over tau­ben­grau, 1 Pull­over gelb, 1 Tele­fon. Letz­te Pha­se vor Abrei­se. Ich sit­ze und schau mir an, was ich als Rei­se­ord­nung betrach­te. Ich klap­pe den Kof­fer zu und ver­schlie­ße mein Gepäck, in dem ich das Zah­len­schloss wild bewe­ge.  Der Kof­fer ist zu, ich kann ihn nicht öff­nen. Ich suche nach einem Zet­tel.  Ich bin auf­ge­regt. Ich mah­ne zur Ruhe. Ich sage: Sei gleich­mü­tig, Lou­is! Geduld, Lou­is!  Eine Zahl ist zu erin­nern, vier Stel­len. Noch ist Zeit. Ich begin­ne mit der Zahl 001. Zwei Flie­gen sau­sen her­um. Im Café um die Ecke wird gefei­ert. Ich beob­ach­te, als gehör­ten sie nicht zu mir, mei­ne Fin­ger, die in rhyth­mi­scher Bewe­gung Zah­len ver­su­chen. Astor Piaz­zolla: Tiem­po Nue­vo. Es geht dar­um, kei­ne der mög­li­chen Zah­len zu über­ge­hen, es geht um Prä­zi­si­on. Eine wun­der­ba­re Nacht, noch früh. — stop

///

ai : JORDANIEN

aihead2

MENSCH IN GEFAHR: „Dem syri­schen Flücht­ling Ati­ya Moham­mad Abu Salem droht unmit­tel­bar die Abschie­bung aus Jor­da­ni­en. Er lebt seit zwölf Jah­ren in Jor­da­ni­en und ist Jour­na­lis­mus­stu­dent und frei­be­ruf­li­cher Videofilmer./ Am 9. April wur­de Ati­ya Moham­mad Abu Salem in al-Rabieh in Amman von Sicher­heits­kräf­ten fest­ge­nom­men, als er eine pro­pa­läs­ti­nen­si­sche Pro­test­kund­ge­bung in der Nähe der israe­li­schen Bot­schaft fil­men woll­te. Die Sicher­heits­kräf­te infor­mier­ten ihn nicht über die Grün­de für sei­ne Fest­nah­me und ver­hör­ten ihn ohne einen Rechts­bei­stand. Nach Anga­ben sei­nes Rechts­bei­stands droh­ten die Sicher­heits­kräf­te Ati­ya Moham­mad Abu Salem mit Abschie­bung und zwan­gen ihn, sein Tele­fon zur Über­prü­fung zu ent­sper­ren. Er wur­de weder der Jus­tiz über­ge­ben noch wegen einer Straf­tat ange­klagt. Den­noch erhielt sein Rechts­bei­stand die Infor­ma­ti­on, dass ein Abschie­bungs­be­fehl für sei­nen Man­dan­ten aus­ge­stellt wor­den sei. / Eine Rechts­hil­fe­or­ga­ni­sa­ti­on hat im Namen des Flücht­lings vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Rechts­mit­tel ein­ge­legt. In Syri­en wäre Ati­ya Moham­mad Abu Salem nicht sicher. Amnes­ty Inter­na­tio­nal und ande­re Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen haben über die Jah­re hin­weg durch­ge­hend schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gegen Flücht­lin­ge doku­men­tiert, die rechts­wid­rig nach Syri­en abge­scho­ben wur­den. So sind die syri­schen Sicher­heits­kräf­te u. a. für will­kür­li­che Fest­nah­men, Fol­te­run­gen und Ver­schwin­den­las­sen ver­ant­wort­lich. Gemäß den Bestim­mun­gen des Völ­ker­rechts müs­sen die jor­da­ni­schen Behör­den den Abschie­bungs­be­fehl gegen Ati­ya Moham­mad Abu Salem unver­züg­lich auf­he­ben und ihn frei­las­sen, sofern er nicht umge­hend einer inter­na­tio­nal aner­kann­ten Straf­tat ange­klagt wird. Soll­te er ange­klagt wer­den, so muss dies vor einem ordent­li­chen Gericht und unter Ein­hal­tung sei­ner Ver­fah­rens­rech­te gesche­hen.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter > ai : urgent action

 

///

schneefliegen

9

nord­pol : 1.15 UTC — Eine bis­lang unbe­kann­te Flie­gen­gat­tung soll unlängst in den Ber­gen Tibets ent­deckt wor­den sein. Es han­delt sich um Schnee­flie­gen, die über einen außer­or­dent­lich fei­nen Pelz ver­fü­gen. Die­ser Pelz nun, man wür­de in ihm zunächst ein evo­lu­tio­nä­res Han­di­cap unter Flug­tie­ren ver­mu­ten, ist trotz sei­ner Dich­te von außer­or­dent­li­cher Leich­tig­keit. Es wird berich­tet, dass eini­ge der Schnee­flie­gen auf gehei­men Wegen nach Euro­pa trans­por­tiert wor­den sei­en, wo man sie ein­ge­hend unter­such­te. Sie ver­meh­ren sich selbst in gewöhn­li­chen Kühl­schrän­ken bei Licht mit rasen­der Geschwin­dig­keit. Wovon sie sich ernäh­ren, ist bis­her nicht bekannt, aber dass man ihnen den Pelz vom Leib rei­ßen kann, mit äußerst fei­nen Werk­zeu­gen ist sicher. Über die Fabri­ka­ti­on von Flie­gen­pe­lz­män­teln wird nun ernst­haft nach­ge­dacht, über Flie­gen­pe­lz­müt­zen, Flie­gen­pe­lz­hand­schu­he und wei­te­re Gegen­stän­de zur Wär­mung mensch­li­cher Exis­tenz. — Das Radio erzählt von der Mee­res­be­ob­ach­tung eines Man­nes im März des ver­gan­ge­nen Jah­res. Er habe, sagt der Mann, mit eige­nen Augen gese­hen, wie Rake­ten ähn­li­che Flug­kör­per dicht über die Ober­flä­che des Was­sers hin in Rich­tung der Stadt Mariu­pol geflo­gen sei­en. — stop

ping

///

von den vasentieren

pic

india : 3.15 UTC — Tage­lang hat­te ich über­legt, ob es sinn­voll wäre, über die Exis­tenz der Vasen­tie­re wei­ter nach­zu­den­ken. In die­sem Dis­kurs mit mir selbst, hat­ten mei­ne Vor­stel­lun­gen über das Wesen und die Gestalt der Vasen­tie­re, indes­sen wei­ter an Prä­zi­si­on zuge­nom­men, ohne dass ich das zunächst bemerk­te. Ein­mal war­te­te ich an einer Ampel unter einer Kas­ta­nie. Es war frü­her Abend gewe­sen und ich nutz­te die­se Situa­ti­on des Inne­hal­tens, um mir vor­zu­stel­len, wie es sein könn­te, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigent­lich nicht not­wen­dig gewe­sen war, Vasen­tie­re dür­fen atmen, Vasen­tie­re müs­sen atmen, und ver­such­te mich so wenig wie mög­lich zu bewe­gen, eine inne­re fes­te Struk­tur aus­zu­bil­den, sagen wir, eben eine Art Behäl­ter zu sein. Das ist gut gelun­gen, auch nach­dem ich von einer Kas­ta­nie auf den Kopf getrof­fen wor­den war, beweg­te ich mich nicht. In die­sem Moment wur­de statt­des­sen deut­lich, dass Vasen­tie­re nie­mals flüch­ten, weil sie nicht flüch­ten wol­len und weil sie nicht flüch­ten kön­nen, ihnen feh­len Füße und Bei­ne. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer orga­ni­schen Kon­struk­ti­on her begabt, For­men nach­zu­ah­men, die geeig­net sind, tie­fe­re Gewäs­ser in sich aus­zu­bil­den, das ist nicht ver­han­del­bar. Auch nicht, dass sie das Was­ser zur Ver­sor­gung der Pflan­zen, wel­chen sie Her­ber­ge bie­ten, aus der Luft ent­neh­men, sei sie noch so tro­cken. Mög­lich ist, dass Vasen­tie­re, die in der Lage sind, mit­tels ihrer Gedan­ken Bewe­gung zu for­mu­lie­ren, eher unglück­li­che Wesen sein wer­den, dar­an soll­te man unbe­dingt den­ken, ehe man sich an die Ver­wirk­li­chung der Vasen­tie­re machen wird. — Das Radio erzählt, hung­ri­ge Men­schen hät­ten im März wil­den Tau­ben nach­ge­stellt, auch im April sei man unter Lebens­ge­fahr auf Tau­ben­jagd gegan­gen. — stop

///

ein streichholzkopf

9

ulys­ses : 22.02 — Wann war es gewe­sen, dass ich zum ers­ten Mal bemerk­te, wie mei­ne Brie­fe klei­ner und klei­ner wur­den? Wesen von wirk­li­chem Papier, Bögen in Umschlä­gen, mit einem Post­wert­zei­chen, das zuletzt die Anschrift­sei­te mei­nes Schrei­bens voll­stän­dig bedeck­te. Im Post­amt wer­de ich seit­her ernst genom­men. Vor eini­gen Wochen kauf­te ich sinn­vol­ler­wei­se ein hand­li­ches Mikro­skop und einen Satz Blei­stif­te von äußers­ter Här­te. Ich spitz­te das Schreib­werk­zeug eine Vier­tel­stun­de lang, dann leg­te ich einen Bogen Papier in das Licht einer Lin­se mitt­le­rer Stär­ke. Ich näher­te mich mit beben­den Fin­gern. Man soll­te mich in die­sem Moment gese­hen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das klei­ne Blatt notier­te, hielt ich die Luft an. Tat­säch­lich habe ich in mei­nen Leben noch nie zuvor in einer der­art sorg­fäl­ti­gen Wei­se geschrie­ben. Ich brauch­te drei Stun­den Zeit, um das Papier, das nicht grö­ßer gewe­sen war als eine Brief­mar­ke von 1,5 cm Kan­ten­län­ge, voll­stän­dig zu beschrif­ten. Ich schrieb fol­gen­de Zei­len an einen Freund: Lie­ber Sta­nis­law, Du wirst es nicht glau­ben, nach 1 Uhr heu­te Nacht schweb­te ein Zep­pel­in­kä­fer einer nicht sicht­ba­ren, schnur­ge­ra­den Linie über den höl­zer­nen Fuß­bo­den mei­nes Arbeits­zim­mers fol­gend ent­lang, wur­de in der Mit­te des Zim­mers von einer Luft­strö­mung erfasst, etwas ange­ho­ben, dann wie­der zurück­ge­wor­fen, ohne aller­dings mit dem Boden in Berüh­rung zu kom­men. – Ein merk­wür­di­ger Auf­tritt. – Und die­ser groß­ar­ti­ge Bal­lon von opa­k­em Weiß! Ein Licht, das kaum noch merk­lich fla­cker­te, als ob eine offe­ne Flam­me in ihm bren­nen wür­de. Ich habe mich zunächst gefürch­tet, dann aber vor­sich­tig auf Knien genä­hert, um den Käfer von allen Sei­ten her auf das Genau­es­te zu betrach­ten. – Fol­gen­des ist nun zu sagen. Sobald man einen Zep­pel­in­kä­fer von unten her besich­tigt, wird man sofort erken­nen, dass es sich bei einem Wesen die­ser Gat­tung eigent­lich um eine fili­gra­ne, flü­gel­lo­se Käfer­ge­stalt han­delt, um eine zer­brech­li­che Per­sön­lich­keit gera­de­zu, nicht grö­ßer als ein Streich­holz­kopf, aber schlan­ker, mit sechs recht lan­gen Ruder­bei­nen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebra­pfer­de. Fünf Augen in grau­blau­er Far­be, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erd­bo­den gerich­tet. Als ich bis auf eine Nasen­län­ge Ent­fer­nung an den Käfer her­an­ge­kom­men war, habe ich einen leich­ten Duft von Schwe­fel wahr­ge­nom­men, auch, dass der Käfer flüch­tet, sobald man ihn mit einem Fin­ger berüh­ren möch­te. Ein Wesen ohne Laut. Dein Lou­is, herz­lichst. — Es war eine wirk­lich har­te Arbeit, all die­se Zei­chen zu notie­ren. Dann fal­te­te ich das Blatt Papier ein­mal kreuz und quer. Ich arbei­te mit zwei Pin­zet­ten wie­der­um unter star­kem Licht, steck­te den Brief in ein Cou­vert, des­sen Her­stel­lung noch mühe­vol­ler gewe­sen war als das Schrei­ben des Brie­fes selbst, und mach­te mich auf den Weg in das nächs­te Post­amt. Dort wur­de ich unver­züg­lich an den Schal­ter für beson­de­re Brief­for­ma­te wei­ter­ge­lei­tet, wo mein Brief, den ich mit einer Pin­zet­te auf den Tre­sen beför­dert hat­te, von einer wei­te­ren Pin­zet­te ent­ge­gen­ge­nom­men wur­de. Ich war sehr glück­lich. Ich beob­ach­te­te, wie der Beam­te eine Brief­mar­ke von der Grö­ße eines Reis­korns behut­sam auf mei­nen Brief leg­te und mit­tels eines Stem­pels, der vor mei­nen blo­ßen Augen kaum noch sicht­bar gewe­sen war, ent­wer­te­te. Dann ging mein Brief auf Rei­sen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kur­ze Zeit ver­ges­sen. Nun aber, vor weni­gen Stun­den, wur­de mir von einem Son­der­bo­ten der Post ein Brief von der­art leich­ter Gestalt über­ge­ben, dass ich zunächst die Anwei­sung erhielt, alle Fens­ter mei­ner Woh­nung zu schlie­ßen. Die­ser Brief, eine Depe­sche mei­nes Freun­des, ruht vor mir auf dem Tisch, ein Kunst­werk. Auf sei­ner Brief­mar­ke sol­len sich zwei Para­dies­vö­gel befin­den, die ihre Schnä­bel kreu­zen. Ich wer­de das gleich über­prü­fen. — Das Radio erzählt, dem ers­ten Offi­zier einer “Soma­liein­heit” soll in der Stadt Mariu­pol ein Orden über­ge­ben wor­den sein, der fort­an mit­tels einer Span­gen­na­del für alle Zeit an der Brust des Man­nes mitt­le­ren Alters befes­tigt sein wird. — stop

///

bristolhotel

9

alpha : 2.26 UTC — Fol­gen­de Per­son, ein Mann, könn­te rei­ne Erfin­dung sein. Der Mann war mir wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges auf­ge­fal­len, das heißt, ich hat­te einen Ein­fall oder eine Idee, oder ich mach­te viel­leicht eine Ent­de­ckung. Ich könn­te von die­ser Per­son, die sich nicht weh­ren kann, behaup­ten, dass sie nicht ganz bei Ver­stand sein wird, weil sie seit lan­ger Zeit in einem Hotel­zim­mer lebt, wel­ches sie nie­mals ver­lässt. Das Hotel, in dem sich die­ses Zim­mer befin­det, erreicht man vom Flug­ha­fen der nor­we­gi­schen Stadt Ber­gen aus in 25 Minu­ten, sofern man sich ein Taxi leis­ten kann. Es ist das Bris­tol, unweit des Natio­nal­thea­ters gele­gen, dort, im drit­ten Stock, ein klei­nes Zim­mer, der Boden hell, sodass man mei­nen möch­te, man spa­zier­te auf Wal­kno­chen her­um. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigent­lich erzäh­len will. Es han­delt sich um einen wohl­ha­ben­den Mann im Alter von fünf­zig Jah­ren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haa­re auf dem Kopf, wiegt 73 Kilo­gramm, und trägt eine Bril­le. Sie­ben wei­ße Hem­den gehö­ren zu ihm, Strümp­fe, Unter­wä­sche, dun­kel­brau­ne Schu­he mit wei­chen Soh­len, ein hell­grau­er Anzug und ein Kof­fer, der unter dem Bett ver­wahrt wird. Auf einem Tisch nahe einem Fens­ter, zwei Hand­com­pu­ter. In den Anschluss des einen Com­pu­ters wur­de ein USB-Spei­cher­me­di­um ein­ge­führt. Auf dem Bild­schirm sind Ver­zeich­nis­se und Datei­na­men zu erken­nen, die sich auf jenem Spei­cher­me­di­um befin­den. Auf dem Bild­schirm des zwei­ten Com­pu­ters ein ähn­li­ches Bild, Ver­zeich­nis­se, Datei­na­men, Zeit­an­ga­ben, Grö­ßen­ord­nun­gen. Was wir sehen, sind Com­pu­ter des Man­nes, der Mann arbei­tet in Ber­gen im Bris­tol im Zim­mer auf dem Kno­chen­bo­den. Er sitzt vor den Bild­schir­men und öff­net Datei­en, um sie zu ver­glei­chen, Tex­te im Block­satz. Zei­le um Zei­le wan­dert der Mann mit­hil­fe einer Blei­stift­spit­ze durch das Gebiet der Wor­te, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Spra­che notiert wur­den, die mir unbe­kannt. Es scheint eine ver­schlüs­sel­te Spra­che zu sein, wes­halb der Mann dazu gezwun­gen ist, jedes Zei­chen für sich zu über­prü­fen. Fünf Stun­den Arbeit am Vor­mit­tag, fünf Stun­den Arbeit am Nach­mit­tag, und wei­te­re fünf Stun­den am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafel­was­ser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, See­teu­fel, Stein­butt. 277275 Datei­en sind zu über­prü­fen, 12.532.365 Sei­ten. Er scheint nicht sehr weit gekom­men zu sein. Die Vor­hän­ge der Fens­ter sind zuge­zo­gen, es ist ohne­hin gera­de eine Zeit ohne Licht. Ein Mäd­chen, das ihm manch­mal sei­nen Fisch ser­viert, macht ihm schö­ne Augen. Mor­gens sind die Hör­ner der Schif­fe zu ver­neh­men, die den Hafen der Stadt ver­las­sen. Das war am 1. Dezem­ber 2013 gewe­sen. — Im Radio wird von einer Frau erzählt, die seit dem 28. Febru­ar die­ses Jah­res täg­lich von Lis­sa­bon aus mehr­fach ver­geb­lich ver­sucht ihre Eltern in Mariu­pol zu errei­chen. Kein Laut. Kein Zei­chen. Aber Stil­le, Tag für Tag. Stun­de um Stun­de. Minu­te für Minu­te. — stop

ping

///

frau mit löffel

2

india : 5.28 — Ein­mal mach­te ich einen Aus­flug zu einer Tan­te, die seit über zehn Jah­ren in einem Heim lebt, weil sie sehr alt ist und außer­dem nicht mehr den­ken kann. Der Flie­der blüh­te, die Luft duf­te­te, mei­ne Tan­te saß mit ande­ren alten Frau­en an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schla­fen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen­li­der durch­sich­tig gewor­den, Augen waren unter die­ser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt hel­ler Far­ben. Ich drück­te mei­ne Stirn gegen die Stirn mei­ner Tan­te und nann­te mei­nen Namen. Ich sag­te, dass ich hier sei, sie zu besu­chen und dass der Flie­der im Park blü­hen wür­de. Ich sprach sehr lei­se, um die Frau­en, die in unse­rer Nähe saßen, nicht zu stö­ren. Sie schlie­fen einer­seits, ande­re betrach­te­ten mich inter­es­siert, so wie man Vögel betrach­tet oder Blu­men. Es ist schon selt­sam, dass ich immer dann, wenn ich glau­be, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit begin­ne, eine Geschich­te zu erzäh­len in der Hoff­nung, die Geschich­te wür­de jen­seits der Stil­le viel­leicht doch noch Gehör fin­den. Ich erzähl­te mei­ner Tan­te von einer Wan­de­rung, die ich unlängst in den Ber­gen unter­nom­men hat­te, und dass ich auf einer Bank in ein­tau­send Meter Höhe ein Tele­fon­buch der Stadt Chi­ca­go gefun­den habe, das noch les­bar gewe­sen war und wie ich den Ein­druck hat­te, dass ich aus den Wäl­dern her­aus beob­ach­tet wür­de. Ich erzähl­te von Leber­blüm­chen und vom glas­kla­ren Was­ser der Bäche und vom Schnee, der in der Son­ne knis­ter­te. Doh­len waren in der Luft, wun­der­vol­le Wol­ken­ma­le­rei am Him­mel, Sala­man­der schau­kel­ten über den schma­len Fuß­weg, der auf­wärts führ­te. So erzähl­te ich, und wäh­rend ich erzähl­te eine hal­be Stun­de lang, schien mei­ne Tan­te zu schla­fen oder zuzu­hö­ren, wie immer, wenn ich sie besu­che. Ihr Mund stand etwas offen und ich konn­te sehen, wie ihr Bauch sich hob und senk­te unter ihrer Blu­se. Am Tisch gleich gegen­über war­te­te eine ande­re alte Frau, sie trug wei­ßes Haar auf dem Kopf, Haar so weiß wie Schreib­ma­schi­nen­pa­pier. Vor ihr stand ein Tel­ler mit Erb­sen. Die alte Frau hielt einen Löf­fel in der Hand. Die­ser Löf­fel schweb­te wäh­rend der lan­gen Zeit, die ich erzähl­te, etwa einen Zen­ti­me­ter hoch in der Luft über ihrem Tel­ler. In die­ser Hal­tung schlief die alte Frau oder lausch­te. — Das Radio erzählt, man habe in der Stadt Mariu­pol zahl­rei­che Men­schen hohen Alters leb­los in ihren Woh­nun­gen ent­deckt. Sie bewohn­ten ins­be­son­de­re höhe­re Eta­gen. Die Auf­zü­ge waren defekt. — stop

///

von papieren

pic

char­lie : 16.58 UTC — Wie­der die Fra­ge, ob es viel­leicht mög­lich ist, Papie­re zu erfin­den, die ess­bar sind, nahr­haft und gut ver­dau­lich? Man könn­te sich in einen Park set­zen, bei­spiels­wei­se und etwas Chat­win beob­ach­ten oder Lowry oder Cal­vi­no, Bücher, die Sei­te für Sei­te nach bel­gi­schen Waf­feln schmeck­ten, nach Bir­nen, Gin, Petro­le­um oder sehr fei­nen Höl­zern. Einen spe­zi­el­len Duft schon in der Nase, wird die ers­te Sei­te eines Buches gele­sen, und dann blät­tert man die Sei­te um und liest wei­ter bis zur letz­ten Zei­le, und dann isst man die Sei­te auf, ohne zu zögern. Oder man könn­te zunächst das ers­te Kapi­tel eines Buches durch­kreu­zen, und wäh­rend man kurz noch die Geschich­te die­ser Abtei­lung reka­pi­tu­liert, wür­de man Stür­me, Per­so­nen, Orte und alle Anzei­chen eines Ver­bre­chens ver­spei­sen, dann bereits das nächs­te Kapi­tel eröff­nen, wäh­rend man noch auf dem Ers­ten kaut. Man könn­te also, eine Biblio­thek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisi­ge Wüs­ten durch­strei­fen oder ein paar sehr hohe Ber­ge bestei­gen und abends unter dem Gas­licht in den Zel­ten lie­gen und lesen und kau­en und wür­de von Nacht zu Nacht leich­ter und leich­ter wer­den. – Das Radio erzählt, ein klei­ner Jun­ge habe sein Kin­der­zim­mer in einem U‑Bahnwagon unter der Stadt Char­kiw ein­ge­rich­tet. — stop

ping

///

maidan 23 uhr 15 MEZ

2

gink­go : 23.30 UTC — Der Platz in oran­ge­far­be­nem Licht. Eine Film­auf­nah­me von einer Web­ka­me­ra aus. Von dort Stil­le, Stil­le, die kei­ne wirk­li­che Stil­le ist, rau­schen­de Stil­le, das Geräusch des Mikro­fons selbst ver­mut­lich, wel­ches sich bemüht etwas jen­seits der Stil­le da drau­ßen ein­zu­fan­gen. Hin und wie­der, sel­ten, das Fau­chen eines Auto­mo­bi­les, auch viel­leicht Luft­sum­men von Ven­ti­la­to­ren. Dann plötz­lich Sire­nen, unheim­lich, laut, Sire­nen­ge­heul, das ich von Kind­heit her ken­ne. Als noch Tages­licht, waren Pan­zer­sper­ren zu sehen in Rich­tung umge­ben­der Stra­ßen. Um Mit­ter­nacht beginnt es leicht zu schnei­en. Kein Mensch, wirk­lich kein Mensch. In die­ser Nacht leuch­ten die Ampeln des Plat­zes rot, vor Tagen waren sie noch grün und blie­ben grün. Ver­ein­zelt Leucht­re­kla­men. Ein Auto für eine Minu­te, groß wie ein Fiat 500, ein zivi­les Fahr­zeug, viel­leicht eine Patrouil­le. Unter einer Arka­de blinkt lang­sam ein Licht: Sin­ging Moun­ta­ins — Vor­über­ge­hend geschlos­sen. Die Stadt scheint hell beleuch­tet zu sein, viel­leicht um Angrei­fer zu erfas­sen, die in Grup­pen vom Him­mel fal­len könn­ten. — stop

///

homs vor jahren nah

2

papa : 0.28 — Vor weni­gen Jah­ren ent­deck­te ich einen Film, der selt­sa­mer­wei­se eini­ge Tage spä­ter auf der Posi­ti­on, da ich ihn im Inter­net bemerkt hat­te, nicht län­ger anzu­tref­fen war. Der Film, so wird erzählt, war von einer Droh­ne aus auf­ge­nom­men wor­den, einem künst­li­chen Vogel, der über und durch die Stra­ßen der Stadt Homs gesteu­ert wor­den war. Bei­na­he hät­te ich notiert, die Droh­ne, sie muss ein recht gro­ßes Gerät gewe­sen sein, sei durch die Stra­ßen der Stadt geirrt, aber für die­ses Wort irren flog die Droh­ne viel zu sou­ve­rän her­um und über Häu­ser hin­weg, sie beweg­te sich wie eine pro­fes­sio­nel­le Film­droh­ne einer Hol­ly­wood­pro­duk­ti­on, oder aber so, als wäre sie an einem mit Luft gefe­der­ten Schwenk­kran befes­tigt, sie beweg­te sich erschüt­te­rungs­frei durch die Luft, kei­ner­lei Druck­wel­le, kein Wind weit und breit. Was wir sehen, wenn wir die­sen Film betrach­ten, ist eine fürch­ter­lich zer­stör­te Stadt. Ich habe die­se Art Ver­wüs­tung auf Foto­gra­fien gese­hen, der Stadt Mün­chen oder Ber­lins oder Frank­furts, die im Jahr 1945 auf­ge­nom­men wor­den waren. Ich erin­ne­re mich, man sah dort Men­schen, die mit Eimern in lan­gen Rei­hen hin­ter­ein­an­der stan­den, um Stei­ne in einer Ket­te zu trans­por­tie­ren, oder Men­schen mit Kin­der­wa­gen, in wel­chen Kar­tof­fel­sä­cke lagen, Men­schen mit Ruck­sä­cken und Men­schen mit Kof­fern, die sie über Schutt­ber­ge wuch­te­ten. Im meh­re­re Minu­ten andau­ern­den Flug über und durch die Stadt Homs war jedoch kein Mensch zu erken­nen. Mehr­fach habe ich den Film vor und zurück­ge­spielt, nein, kein Mensch war zu sehen, nicht ein ein­zi­ger Mensch, sosehr ich mei­ne Augen bemüh­te, nicht ein­mal Geis­ter. — stop /Kof­fer­text

ping



ping

ping