lima : 2.28 UTC — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. 2 Uhr. Ich hatte beobachtet aus mehreren Metern Entfernung, wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Das Radio erzählt, im Keller eines verschütteten Hauses der Stadt Mariupol würde seit zwei Tagen ein Transistorradio seltsame Geräusche machen, pfeifen, piepsen, vermutlich deshalb, weil der Strom zurückgekommen ist. — stop
Aus der Wörtersammlung: ballon
von eisballonen
sierra : 10.28 UTC — Erste Vorstellung eines Polarkäfers bereits im Jahr 2008 notiert. Dieser Käfer sollte, dachte ich, so hell sein, dass nur sehr feines Schattenlicht auf seinem Panzer Strukturen eines Körpers sichtbar werden lässt. Ich könnte vielleicht sagen, das heißt, ich könnte behaupten, dass der Käfer heller ist als der Schnee und kälter als das Eis. Er verträgt keine Dunkelheit, auch Dämmerung ist Dunkelheit, und ernährt sich vom Fleisch kleiner Krebse, die in Eisballonen vom Wind durch die Luft getragen werden. Stunde um Stunde, je eine Bewegung, schlägt sein Herz. Das Radio erzählt von einem jungen Mann, der mit weißer Armbinde in der Stadt Mariupol in einem Funkwagen sitzt. Es ist kalt, es ist März. Der Atem des Mannes dampft oder raucht, während er ein Gedicht vorträgt, welches in romantischer Weise vom Krieg erzählt. In diesem Augenblick scheint er selbst persönlich eine Pause in der Tätigkeit des Mordens eingelegt zu haben. — stop
ein streichholzkopf
ulysses : 22.02 — Wann war es gewesen, dass ich zum ersten Mal bemerkte, wie meine Briefe kleiner und kleiner wurden? Wesen von wirklichem Papier, Bögen in Umschlägen, mit einem Postwertzeichen, das zuletzt die Anschriftseite meines Schreibens vollständig bedeckte. Im Postamt werde ich seither ernst genommen. Vor einigen Wochen kaufte ich sinnvollerweise ein handliches Mikroskop und einen Satz Bleistifte von äußerster Härte. Ich spitzte das Schreibwerkzeug eine Viertelstunde lang, dann legte ich einen Bogen Papier in das Licht einer Linse mittlerer Stärke. Ich näherte mich mit bebenden Fingern. Man sollte mich in diesem Moment gesehen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das kleine Blatt notierte, hielt ich die Luft an. Tatsächlich habe ich in meinen Leben noch nie zuvor in einer derart sorgfältigen Weise geschrieben. Ich brauchte drei Stunden Zeit, um das Papier, das nicht größer gewesen war als eine Briefmarke von 1,5 cm Kantenlänge, vollständig zu beschriften. Ich schrieb folgende Zeilen an einen Freund: Lieber Stanislaw, Du wirst es nicht glauben, nach 1 Uhr heute Nacht schwebte ein Zeppelinkäfer einer nicht sichtbaren, schnurgeraden Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers folgend entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. – Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. – Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit sechs recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. Dein Louis, herzlichst. — Es war eine wirklich harte Arbeit, all diese Zeichen zu notieren. Dann faltete ich das Blatt Papier einmal kreuz und quer. Ich arbeite mit zwei Pinzetten wiederum unter starkem Licht, steckte den Brief in ein Couvert, dessen Herstellung noch mühevoller gewesen war als das Schreiben des Briefes selbst, und machte mich auf den Weg in das nächste Postamt. Dort wurde ich unverzüglich an den Schalter für besondere Briefformate weitergeleitet, wo mein Brief, den ich mit einer Pinzette auf den Tresen befördert hatte, von einer weiteren Pinzette entgegengenommen wurde. Ich war sehr glücklich. Ich beobachtete, wie der Beamte eine Briefmarke von der Größe eines Reiskorns behutsam auf meinen Brief legte und mittels eines Stempels, der vor meinen bloßen Augen kaum noch sichtbar gewesen war, entwertete. Dann ging mein Brief auf Reisen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kurze Zeit vergessen. Nun aber, vor wenigen Stunden, wurde mir von einem Sonderboten der Post ein Brief von derart leichter Gestalt übergeben, dass ich zunächst die Anweisung erhielt, alle Fenster meiner Wohnung zu schließen. Dieser Brief, eine Depesche meines Freundes, ruht vor mir auf dem Tisch, ein Kunstwerk. Auf seiner Briefmarke sollen sich zwei Paradiesvögel befinden, die ihre Schnäbel kreuzen. Ich werde das gleich überprüfen. — Das Radio erzählt, dem ersten Offizier einer “Somalieinheit” soll in der Stadt Mariupol ein Orden übergeben worden sein, der fortan mittels einer Spangennadel für alle Zeit an der Brust des Mannes mittleren Alters befestigt sein wird. — stop
schlafen in turku
delta : 12.03 — Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — - Stille herrscht. — - Nur das Donnern der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. – Guten Morgen! Heute ist Dienstag oder Mittwoch oder Samstag. Das Radio erzählt von Fallschirmen, die in der Stadt Mariupol von zersplitterten Bäumen hängen. — stop
fensterlicht
nordpol : 15.01 UTC — Im Spazieren kurz vor Ausgangssperre Blick zu den Fenstern hin. Licht von Lampen, die selbst nicht sichtbar sind, oder Lampenwesen selbst, ihre Schirme, Ballone, Birnen. Da und dort Bewegung, ein Mensch, der am Fenster steht oder sich bewegt in der nicht sichtbaren Tiefe der Zimmer, das Licht der Fernsehbildschirme, unruhig, auch rote, grüne und blaue Simulationen. Und Fenster, die ohne Licht sind. — stop
von der wally nocheinmal
echo : 20.12 UTC — Meine Lieblingstante zum Beispiel, ein wunderbares Geschöpf, das an Sonntagen immer oder an Montagen von München aus zu Besuch gekommen war. Wir nannten sie Wally. Sie hatte sehr weiche, rosige Haut und immerzu kühle Hände und war von einem Ballon Lavendelluft umhüllt. Da war Moos, ein moosgrünes Kleid, und da war ein spinnseidiges Haarnetz (Warum?), und eine rußige Stirn zur Winterzeit, und das Rascheln der Papiertüten, und Lauchgemüse, das dort herausragte, und kleine Geschenke, die sie uns Kindern mitbrachte, — Matchboxautos, Füllfederhalter, Malbücher -, und ihre Schenkel, auf denen ich turnte, der nasse, bittere Kuss, der niemals abgewendet werden konnte. Eine Brille, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, darin runde Gläser, die ich gern mit meinen Fingern berührte. Irgendwann einmal erzählte mir jemand, die Wally sei 1919, als Räte ihre Heimatstadt verteidigten, im Kugelhagel über die Münchener Gollierstraße gerobbt. Deshalb die Pistole in ihrer Tasche, deshalb das Feuer in ihren Augen. Seit einigen Stunden versuche ich zu erinnern, ob die alte Tante Wally mir je von der spanischen Grippe erzählte, die sie zweifellos in München erlebt haben muss. — stop
lebenszeichen
india : 11.28 UTC — Da sind Thermometerwerkzeuge, 5 + 1, zur Messung der Temperaturen eines Zimmers. Und flackerndes Regenlicht, das von den Fenstern her kommt. Ein Computerbildschirm, in dem sich der Computer selbst befindet, zuletzt vor fünf Jahren angeschaltet. Auf dem Schreibtisch ruhen anatomische Bücher, gedruckt in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bitterer Duft steigt auf, sobald sie geöffnet sind. Das Handbuch eines Opel-Rekord und eine Blechdose, drin sind Liebesbriefe: Meine Liebste, wie ich mich nach Dir sehne! Eine Zigarrenschachtel weiterhin voller Briefmarken des Deutschen Reiches, die der Junge noch sammelte. Ein Kinderbuch: Zwei Pinguine winken. Ein Gerät, das den Strom zu vermessen vermag, haardünner Zeiger. Eine Karte der Stadt Lissabon und Fahrkarten einer Straßenbahn, die in Lissabon noch immer anzutreffen ist. Zwei Menschen waren dort, die Lissabon liebten. Dem Jungen, der Lissabon später einmal lieben sollte, gehörten zwei Schulbücher, er wird später ein Doktor der Physik und ein Verehrer Andrei Sacharows. Sein Vater war Arzt gewesen, deshalb auch Skalpelle auf rotem Samt und eine Schachtel, in welcher sich Objektträger befinden. Dort Spuren, die gelblich schimmern. Und Dioden und Widerstände und Rechenkerne auf Platinen geschraubt. Auch Luftpostbriefe, die ein junger Student an sich selbst oder seine Geliebte notierte, da waren sie noch nicht nach Lissabon gereist, prächtige Marken und Stempel und Sonderwertzeichen der Ballonpost zu einer Zeit, als Expressbriefe noch durch Eilboten zugestellt worden waren. Eine Filmdose und noch eine Filmdose, die man nicht wagt im Regenlicht zu öffnen. Auf einem Dia ist sehr klein eine junge Frau zu erkennen, die vor dem World Trade Center in New York steht. Sie ist dem Auge ihres Sohnes sofort bekannt. In einer Kladde verschnürt, Blätter eines Herbariums: Schlüsselblume von Bleistiftbeschriftung umgeben, das war alles notiert am 24. VIII 1904. Auch zwei Funkantennen wie Fühler eines Insektes ohne Strom. Eine Postkarte ist da noch und immer noch Regen draußen vor den Fenstern. Auf der Postkarte steht in großen Buchstaben rot umrandet vermerkt: Lebenszeichen von L.K. aus der Braubachstraße / 8. II. 44: Meine Lieben! Wir sind gesund und unbeschädigt. Marie & Familie. — stop
brooklyn : zur zeit der fliederblüte
sierra : 2.10 — Man stelle sich das einmal vor, wie man an einem warmen Frühlingstag in Brooklyn durch den Prospect Park spaziert. Gerade ist die Zeit der Fliederblüte angebrochen, die Bäume duften weit in die Straßen hinein, Möwen fliegen im Park herum, obwohl sie eigentlich niemals die Innenseite der Stadt besuchen, es ist eben ein besonderer Tag in einem nächsten Jahr. Und wie wir so im Park spazieren, meinen wir zu bemerken, dass das Licht ein anderes Licht ist, als noch vor Monaten, als wir zuletzt an diesem wunderbaren Ort ein paar Stunden Zeit verbrachten, um Waschbären zu zählen vielleicht, oder Eichhörnchen, Tauben, Menschen, diese Freude, jawohl, an der Zählung der Welt, an der Beobachtung der Farben. Heute aber ist das Licht ein anderes Licht geworden, noch immer oder wieder Sonne, aber auch ein seltsamer Schatten, keiner der Wolkenschatten, die immerzu von Licht durchsetzt gewesen sind, sondern ein Schatten, der energisch ist, der das Gleichgewicht des Lichtes in der Weite des Parks zu verändern scheint. Noch haben wir nicht zum Himmel geschaut, sondern uns nur gewundert, dass das Licht ein anderes Licht ist, ein Lichtgefühl, das sich grundsätzlich änderte, das könnte sein, ein merkwürdig blaues Licht, das auf den Blättern der Bäume flimmert, auf den Fellen der Eichhörnchen, im Gefieder der Tauben. Und da sehen wir, dass den Bäumen, den Eichhörnchentieren, den Tauben ihre Schatten fehlen, als wäre so etwas wie eine Sonnenfinsternis am Himmel aufgetreten. Höhe Caroll Street entdecken wir ein Tau, nein, ein metallenes Seil, das im Gestein fest verankert wurde, ein kräftiges Seil, das senkrecht aus dem Boden steigt, ein Seil, um welches sich weitere Seile aus dem Boden erheben. Gerade in dem Moment, als wir dort am Ort der im Wiesenboden verankerten Seilstränge angekommen sind, beobachten wir eine metallene Seilbahnkabine, in welcher ein Mensch steht, der langsam himmelwärts schwebt. Wir folgen ihm mit unseren Blicken hinauf zu einem riesigen Fesselballon, an welchem statt eines Korbes, Gebäude von Holz befestigt sind. Das sind wunderbare, kleine Häuser, sie sind in den Farben der Nordländer gestrichen, in Blau und Gelb und grün und rot, eine Traube bunter Häuser, die über Fenster verfügen, dort, wo sich an Häusern Fenster immer befinden. Aber die Türen, die Türen sind in den Boden der Häuser eingelassen, das ist schon seltsam, diese Türen, die sich dort befinden, wo man die Häuser niemals sieht, weil sie auf dem Boden ruhen. Wir stehen ganz still und schauen hinauf, und wir wundern uns wie weit es da doch hinaufgeht, Menschen winken aus geöffneten Fenstern, sie sind klein, ja, diese winkenden Wesen müssen unbedingt Menschen sein, an diesem wunderbar warmen Frühlingstag in Brooklyn im kommenden Jahr, einem Tag, an dem Silbermöwen in fürchterlichen Rudeln vom Meer her in die Stadt gekommen sind. — stop
louis an louis
romeo : 6.55 – Du wirst Dich vielleicht wundern, lieber Louis, weshalb ich für Dich notiere in dieser Weise auf eine Seite Papier von Heißluftballonen über der Stadt Turku, unter welchen in Körben schlafende Menschen wohnen. Ich erzählte Dir von einer schneeweißen Spinne mit acht hellblauen Augen, die im Gefrierfach Deines Kühlschranks wohnt. Erinnerst Du Dich? Wie wir durch Istanbul fahren im Winter im Wagen einer alten Straßenbahn auf der Suche nach Mr. Pamuk. Wir sind allein im Waggon, es ist schon spät, wir sitzen gleich hinter der Kabine des Fahrers und erzählen lauthals von der Erfindung der Trompetenkäfer. Der Fahrer, ein älterer Herr, nickt immerzu mit dem Kopf, und wir überlegen, ob er unsere Sprache vielleicht verstehen könnte, also erzählen wir weiter, wir erzählten von Vögeln ohne Füße, die niemals landen, von Tiefseeelefanten, die den Atlantik in Herden durchstreifen, und von der Sekunde da Melly Cusaro, wohnhaft in Brooklyn, an ihrem 10 Geburtstag beschloss, Astronautin zu werden. Wenn Du diesen Brief lesen wirst, lieber Louis, wird ein Jahr später sein. Ich habe diesen Brief vor genau 365 Tagen für Dich aufgeschrieben, verbunden mit der Anweisung, ihn am 1. Dezember 2015 an Dich zuzustellen. Im Text sind wesentliche Passwortkerne für Deine Schreibmaschine enthalten, gut versteckt, Du wirst sie, sofern notwendig, wiedererkennen. Würdest Du bitte noch in dieser Stunde, da Du meinen oder Deinen Brief gelesen haben wirst, Passwortkerne, mit neuen Phrasen und Geschichten versehen, einen weiteren Brief notieren, zu senden an Louis im Auftrag: Zuzustellen am 14. Dezember des Jahres 2016. Sei herzlich gegrüßt. Alles Gute! Dein Louis – stop
von zeppelinkäfern
marimba : 2.28 — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. Das war gegen 2 Uhr gewesen. Ich beobachtete aus mehreren Metern Entfernung, wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Guten Morgen! Heute ist Sonntag bei großer Hitze. — stop