echo : 0.02 UTC — Julio Cortázar erzählt in seinem Kaleidoskop Reise um den Tag in 80 Welten eine Geschichte, in welcher eine Fliege von zentraler Bedeutung ist. Diese Fliege soll auf dem Rücken geflogen sein, als der Autor sie entdeckte, Augen nach unten demzufolge, Beinchen nach oben, ein für Fliegentiere nicht übliches Verhalten. Natürlich musste diese seltsame Fliege unverzüglich näher betrachtet werden. Julio Cortázar erfand deshalb ein Zimmer, in welchem die Fliege fortan existierte, und einen Mann, der die Fliege zu fangen suchte. Wie zu erwarten gewesen, war der Mann in seiner Beweglichkeit viel zu langsam, um die Fliege behutsam, das heißt, ohne Beschädigung, erhaschen zu können. Er bemühte sich redlich, aber die Fliege schien jede seiner Bewegungen vorherzusehen. Nach einer Weile machte sich der Mann daran, das Zimmer, in dem er sich mit der Fliege aufhielt, zu verkleinern. Er faltete Papiere zu Schachteln, die den Flugraum der besonderen Fliege nach und nach derart begrenzten, dass sie sich zuletzt kaum noch bewegen konnte. Fliege und Fänger waren in einem lichtlosen Raum innerhalb eines Schachtelzimmers gefangen, daran erinnere ich mich noch gut, oder auch nicht, weil ich diese Geschichte bereits vor langer Zeit gelesen habe, immer wieder von ihr erzählte, weshalb sich die Geschichte verändert, von der ursprünglichen Geschichte entfernt haben könnte. Das Buch, in dem sie sich aufhält, befindet sich zur Zeit außer Reichweite, aber ich werde die Geschichte sobald wie möglich überprüfen. Es ist eine Geschichte, die behilflich sein könnte, sehr schnelle Drohnenvögel einzufangen, wenn man ihrer Gattung einmal zufällig begegnen sollte oder von einer Mikrodrohne verfolgt sein würde. — Seltsame Wörter kehren zurück: Waffenstillstand . Bunker . Flugverbotszone . humanitärer Fluchtkorridor. Auch wird laut und deutlich über Machiavelli nachgedacht, über den Vorteil, in Kriegs- oder anderen Zeiten als verrückt zu gelten. — stop
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irgendwo nahe mariupol
delta : 14.32 UTC — Auf Luftbildfotografien dieses Winters wird Olga nicht zu sehen sein, zu klein dieses menschliche Wesen. Oder doch vielleicht sichtbar im Sommer unter einer Lupe, wie die alte Frau in ihrem Garten Himbeeren pflückt. Es ist ein wilder Garten geworden, weil Olga den Gewächsen ihres Gartens nicht länger Herr wird, sie muss oft im Haus sein bei ihrem Mann, dessen Namen ich nicht kenne. Er ruht im Wohnzimmer auf einem Bett, weil er alt ist und kaum noch gehen kann. Als er noch nicht ganz so alt war wie in diesem Winter, 8 Jahre jünger, war das mit dem Gehen bereits schwer geworden, weil er von einem Splitter harten Holzes in die Hüfte getroffen worden war, als eine Granate in einem Februar im Garten des Nachbarn explodierte. Der Nachbar lag drei Tage reglos auf dem Rücken im Schnee, weil er nicht mehr lebte. Dann hörte der Krieg auf. Nein, der Krieg entfernte sich, war jedoch nah genug geblieben, dass man ihn hören konnte und immer noch hören kann. Olgas Mann liegt auf dem Bett und lauscht zum Fenster hin, was man dort hört vom Krieg, ob er näher kommt. Auch hört er Olga, es ist Abend, die in den Keller gestiegen ist. Sehr steile Treppe. Es ist hell da unten, weil eine Kamera der alten Frau in den Keller folgte. Ein Mann trägt diese Kamera auf seiner Schulter, ein weiterer Mann trägt grelles Licht, eine Frau stellt Fragen, Olga antwortet: Wenn der Krieg wieder zu uns kommt, dann wird unser Sohn das Bett und seinen Vater in den Keller tragen. Dort wird es stehen, genau dort wo die Zwiebeln liegen. Hier werden wir sicher sein. Der Atem der alten Olga dampft. Von der Decke hängen Fäden, auch schneeweisse Gebeine, Spinnen, die Olga noch immer fürchtet, so, stell ich mir vor, könnte das sein. Sie schaut jetzt direkt in die Kamera. Ich betrachte ihr altes, müdes Gesicht, das sich nicht zurückziehen kann, weil ich den Film angehalten habe auf dem Bildschirm meines Fernsehgerätes. — stop

irkutsk
marimba : 8.12 UTC — Ich beobachtete Filmaufnahmen, die in Irkutsk aufgenommen worden waren. Irgendjemand spazierte eine Straße entlang. Dort Häuser von Holz, Häuser, deren Fenster bis zum Boden hin reichten. Die Häuser wirkten, als würden sie langsam in den Boden versinken. Das komme, hörte ich, weil die Häuser über keinen Keller und kein Fundament verfügten. Sie seien auch nicht gut isoliert nach Unten hin, sodass die Wärme, die Menschen mit Öfen oder ihren Körpern entfachten, den Boden unter den Häuser tauten. In der vergangen Nacht träumte ich, in einem dieser Häuser selbst zu wohnen. Ich sass auf einem weichen Sofa und erzählte, dass ich geträumt habe, wie ich eine Strasse in Irkutsk entlang gehe und filme, indessen ich mich selbst erkenne, wie ich in der Tiefe auf einem Sofa sitze. — stop
mundsegel
delta : 18.28 UTC — Abends kommt sie mir entgegen im Treppenhaus 2. Stock. Sie geht sehr langsam, rechte Hand am Geländer, ihre weitere Hand stützt auf ihrem linken Oberschenkel, derart drückt sie sich Stufe für Stufe zur Wohnung hoch. Sie sieht, dass ich oben auf dem Treppenabsatz warte, damit ich Platz machen kann damit wir uns nicht zu nahe kommen. Vermutlich erkennt sie mich bereits an den Schuhen. Von Unten ruft ein junger Mann, der ihr den Einkauf nach oben trägt, er gehe jetzt los. Und wie sie an mir vorüber kommt, sie lächelt hinterm Mundsegel, entdecke ich, das das schwere dichte Segel zu einem leichteren Segel geworden ist, das knistert, indem sie ein oder ausatmet. Zwei Tage später höre ich, sie sei geimpft worden. Ihre dunklen Augen, ich erinnere mich, funkelten im Halblicht. Sie trug Sommerschuhe. Und sie wusste in ihrem beschwerlichen Aufstieg vermutlich schon, dass sie am Abend, begleitet vom geduldigen jungen Mann aus dem ersten Stock, mit ihrem Rollwägelchen in den nahen Park spazieren würde, um einer Bekannten Pfandflaschen weiterzureichen. Es sind diesmal nicht so viele, wird sie vielleicht entschuldigend sagen. — stop
vom nachtstrassenmuseum
alpha : 22.25 UTC — Es ist nicht etwa so, dass Menschen auf der Strasse tief unter meinem Fenster nach Süden hin kurz vor Beginn der Ausgangssperren sich beeilen würden nach Hause zu kommen. Sie gehen voran so wie immer um diese Zeit, aber allein. Es sind ausserdem wenige Menschen, die sich dort unten bewegen. Für einen Moment dachte ich, vielleicht haben sie Eintritt bezahlt für das Museum der Nachstrassen zu Zeit der Ausgangsperre: 150 Euro. Ich muss das beobachten, das Museum, die Menschen, und die Nachtbienen, ihre Geräusche, ihre Wege, ihre Besuche hier oben, wo ich am Fenster stehe. — stop
kabinenlicht
romeo : 6.08 UTC — Wenn ich schlafe, wache ich immer wieder einmal auf, während meine Hände weiterschlafen. Das ist seltsam, meine Hände wachen zurzeit ein wenig später auf als ich selbst. Ich trete ans Fenster. Manchmal ist früher Morgen. Es ist noch dunkel. Straßenbahnen queren den Platz weit da unten. In ihrem Kabinenlicht sitzen Menschen mit Masken vor Mund und Nase. Es sind dieselben Personen, wie mir scheint, die ich gestern am Abend bereits durch mein Opernglas beobachtet habe. Sie werden vermutlich für das Umherfahren bezahlt. Zwei Tauben sitzen tief unter mir auf einer Straßenlaterne, sie schlafen wie meine Hände, die nun langsam wach werden, weil ich mit ihnen schreibe. Guten Morgen! — stop
beobachtung
sierra : 16.25 UTC — Samstag. Leichter Regen. Es ist kalt geworden. Noch immer, nach jahrelanger Beobachtung, habe ich keine Antwort auf die Frage, weshalb Kiemenmenschen, sobald sie schlafen oder sich küssen, Kopf nach unten in ihren Wasserwohnungen schweben. – stop
vor abend zeit
sierra : 16.08 UTC — Ehe ich meine Wohnung verließ, telefonierte ich mit K. K. sagte, er würde zurzeit sehr viel lieber zu Hause bleiben, als auf die Straße zu treten. Du bist jung, Du kannst ruhig spazieren gehen, ich bin bald Neunzig, ich warte ab. K. erzählte, er habe einen großen Balkon, das sei jetzt seine Straße, mal laufe er dort oben, 5. Stock, langsam auf und ab, dann wieder beobachte er Menschen weit unten auf der Straße. Sie tragen fast alle Maske, das sei doch beruhigend, trotzdem wolle er lieber hier oben bleiben, noch genug Zeit, um später einmal unten bei den Passantenmenschen spazieren zu gehen. So wie ich auf und abgehe oder hin und her, sagte K., könnte man mich doch ernsthaft für eine Spindel halten, die etwas webt. In den Bäumen sitzen Vögel. Die Vögel wundern sich. Wenn Du das Haus verlässt, sagte K., solltest Du eine dieser sehr dichten Masken tragen. Du musst das üben, Louis! Du solltest erst einmal sechs Stunden eine dieser speziellen Segeltaschen vor Mund und Nase spannen, probieren, ob Du das gut aushalten kannst. Geh herum, steige ein paar Treppen, probiere, ob Du ausreichend Luft bekommst. Seit zwei Stunden also trage ich eine dieser Masken, die so dicht sein sollen, dass sie Aerosole, kleinste fliegende Teilchen einzufangen vermögen. Ich höre meinem Atem zu. Ich habe den Eindruck, als hörte ich mit meiner Nase. Auch habe ich den Eindruck, dass ich vielleicht mit meinen Ohren atme, als ob unbekannte Wege der Luftzirkulation in meinem Kopf existierten. Ich muss das beobachten. Noch vier Stunden, dann geh ich aus. — stop
kaprunbiber
sierra : 22.03 UTC — Sobald ich mit meiner Schreibmaschine eine U‑Bahn betrete, beginnt sie nach weiteren Schreibmaschinen zu suchen, vermutlich, um Kontakt herzustellen. Meistens antworten anwesende Schreibmaschinen. Sie erzählen einerseits, dass sie da sind, dass sie über Sensoren verfügen, die bemerken, dass meine Schreibmaschine sich nach ihrer Gegenwart erkundigt. Andererseits zeigen sie an, dass sie im Grunde keinen Kontakt aufzunehmen wünschen. Sie senden Namen, Bezeichnungen, Zahlen oder Buchstabenfolgen, die auf nichts verweisen, als eindeutig sie selbst: L‑887MN oder Easy665X. Manchmal jedoch sind Zeichenfolgen zu entdecken, die ein Geräusch im Kopf erzeugen, Mezizo 7, zum Beispiel, oder, gestern: Kaprunbiber. Das war unheimlich, ich drehte mich um. — stop
regen
bamako : 18.55 UTC Morgen oder übermorgen werde ich eine Geschichte erzählen, die mit Jack Kerouac in einer gewissen losen Verbindung stehen wird. Als ich die Geschichte zu notieren begann, erinnerte ich mich an einen Text, den ich vor 11 Jahren an dieser Stelle bereits gesendet hatte. Es war gleichwohl im September gewesen, es regnete damals und ich spazierte unter einem Regenschirm. Zunächst regnete es Regensand, dann Regenreis, dann regnete es kleine Frösche. Für einen kurzen Moment dachte ich, in einem Film angekommen zu sein, der von Louisiana handelte. Das war ein feines Gefühl gewesen unterm klingenden Schirm am Ufer des Mississippi zu stehn und den Fröschen zu lauschen, die auf ihrer letzten Reise vom Himmel erstaunliche, pfeifende Geräusche von sich gaben. Als ich so im Froschregen am großen Fluss stand, erinnerte ich mich wiederum an einen kleinen Text, den ich ein Jahr zuvor bereits geschrieben hatte. Und sofort wusste ich, dass ich diesen Text, sobald ich wieder zu Hause angekommen sein würde, noch einmal lesen sollte. Es ist noch immer, auch heute, 12 Jahre später, ein beruhigender Text, ein Text, der mich berührt. Deshalb will ich diesen kleinen Text, eine Anleitung zum Glücklichsein, noch einmal, zum dritten Mal, für Sie wiederholen: Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man solange durch die Stadt bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man Cortazar, Julio – Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Cafe, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauf folgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works. — stop