lima : 22.12 UTC — Eine merkwürdige Person könnte einmal erfunden worden sein, ein Mann, der vor einer schweren, mechanischen Schreibmaschine sitzt. Er notiert, ohne ein Farbband eingelegt zu haben. Dann nimmt er das Papier aus der Maschine und macht den Eindruck der Zeichensätze sichtbar, in dem er mit einem Bleistift das Papier verdunkelt. — Das Radio erzählte, im 9. Stock eines Hauses am Meeresboulevard der Stadt Mariupol soll eine lebloses Ehepaar vorgefunden worden sein. Das Ehepaar war im März gemeinsam verdurstet. Die Frau wurde 92, der Mann 91 Jahre alt. — stop
Schlagwort: band
eine schreibmaschine
echo : 15.15 UTC — Ich hörte, drei Jahre sind vergangen, von der Existenz einer mechanischen Schreibmaschine, die nicht größer sein soll als ein Stück Würfelzucker. Würde man diese sehr kleine Schreibmaschine mit bloßem Auge betrachten, würde man vermutlich sagen, das könnte der Form nach eine Schreibmaschine sein. Sie verfügt über Tasten, wie bei einer gewöhnlichen Schreibmaschine, sowie eine Walze, die Papiere zu transportieren vermag, auch über ein Farbband von Haaresbreite, und über Hämmerchen, an deren Enden Plättchen befestigt sind, auf welchen sich Zeichen befinden, die wir kennen. Wie, fragte ich mich, soll diese Schreibmaschine nur zu bedienen sein, wenn sie doch so klein ist, dass sie von einem menschlichen Finger ganz und gar zerdrückt werden könnte, oder verbogen, so dass sie nie wieder schreiben würde. Und überhaupt, wer hat diese Apparatur aus welchem Grunde in jener seltsamen Größe montiert? Man könnte mit ihrer Hilfe vielleicht in der Art und Weise Jack Kerouacs einen Text verfassen, könnte demzufolge einen sehr langen Text auf eine Luftschlange notieren, wenn man nur in der Lage wäre, die Tasten der Schreibmaschine in äußerst zärtlicher Art und Weise anzuschlagen. Eine Lupe scheint unverzichtbar. Auch dass die Schreibmaschine sicher sein muss, als wäre sie in härtester Nuss geborgen. — stop
das bein
bamako : 6.32 UTC — Einmal, das war vor zehn Jahren gewesen, stürzte eine Fliege aus großer Höhe vor mir auf den Tisch. Die Vorstellung zunächst, das Tier könnte, noch im Flug befindlich, aus dem Leben geschieden sein, dann aber war Bewegung im liegenden Körper zu erkennen, zwei der vorderen Fliegenbeinchen bewegten sich bebend, bald zuckten zwei Flügel. Die Fliege schien benommen, jedoch nicht tot gewesen zu sein, weswegen sie bald darauf erwachte, eine äußerst schnelle Bewegung und schon hatte die Fliege auf ihren Beinen Platz genommen, das heißt genauer, auf fünf ihrer sechs Beine Platz genommen, das linke hintere Bein streckte die Fliege steif von sich. Keine Bewegung der Flucht in diesem Zeitraum meiner Beobachtung. Auch dann, als ich mich mit dem Kopf näherte, keine Anzeichen von Beunruhigung. Die Fliege schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, tastete mit einem ihrer Hinterbeinchen nach der gestreckten Extremität, die verletzt zu sein schien, gebrochen vielleicht oder gestaucht. Natürlich stellte sich sofort die Frage, ob es möglich ist, das Bein einer Fliege medizinisch erfolgreich zu versorgen, Bewegungsstillstand zu erreichen, sagen wir, um eine Operation zum Beispiel, die dringend geboten sein könnte, vorzubereiten. Ich machte ein paar Notizen von eigener Hand, ich notierte in etwa so: Forschen nach Mikroskop, Pinzetten, Skalpellen, anatomischen Aufzeichnungen, Schrauben, Narkotika und Verbandsmaterialien für Operation an geöffneter Calliphora vicina. — stop
ja bitte?
echo : 15.02 UTC — In den Archiven meiner flachen Glasschreibmaschine sind letzte Gespräche geborgen, die ich vor zwei Jahren im Sommer mit meiner Mutter führte. Sie war im Haus der alten Menschen plötzlich wieder wach geworden, so wach, dass sie in ihrem Bett sitzen und erzählen wollte. Sie trug, ich erinnere mich noch gut, eine rosafarbene Bluse, und während sie erzählte, fasste sie immer wieder nach meiner Schreibmaschine, wollte sie in Händen halten, sah die Bewegung ihrer Stimme auf dem Bildschirm, Amplituden. Plötzlich schlief sie ein. Und ich ließ das Tonbandprogramm laufen, legte meine Schreibmaschine neben Mutter ins Bett und ging ein wenig über die Flure spazieren. Als ich zurückkehrte, war meine Mutter wach geworden. Ich hörte, noch war ich auf dem Flur, wie sie sprach, wie sie der Maschine erzählte, die sie gleich neben sich liegen sah. Sie lachte als sie mich entdeckte und erzählte weiter, ohne eine Pause zu machen. Ich habe diese Gespräche mit meiner Mutter, ihre Erzählungen, seither nicht wieder gehört, habe sie jedoch sorgfältig gesichert. Es fällt nicht leicht ihre Stimme zu erinnern so einfach so. Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde sie anrufen, dann geht es: Sie sagt: Ja bitte? — stop
im zug
victory : 22.02 – Ich hab mich auf den Weg gemacht durch meine Stadt. Ich dachte noch, Du wirst diese Stadt spazieren, ohne sie zu berühren mit Deinen Händen, keinen Menschen berühren, keine Straßenbahn, keine Häuserwand, keine Kaffeetasse, keinen Knopf, keine Geländer. Mit dieser Vorstellung im Kopf ging ich los, Hände in den Hosentaschen. Schon einmal hab ich so etwas versucht, da wars nur ein Spiel, in einem New Yorker Subwayzug mit geschlossenen Augen freihändig zu stehen und zu balancieren, sagen wir eine zweistündige Fahrt mit der Linie D von Coney Island rauf zum Bedford Park Boulevard. Das Reiten auf einem wilden Tier. Vielleicht könnte ich sagen, dass das Erlernen einer Subwaystrecke, das neuronale Verzeichnen ihrer Steigungen, ihrer Gefälle, ihrer Kurven, auch ihrer feinsten Unebenheiten, dem wortgetreuen Studium eines Romantextes vergleichbar ist. Aber dann die Zufälle des Alltages, das nicht Berechenbare, ein Tunnelvogel, eine schmutzige Möwe, Höhe 135. Straße, die den Zug zur Bremsung zwingt, Eigenarten des Zuges selbst, das unvorhersehbare Verhalten zusteigender Fahrgastpersonen, eine Jazzband, wie ich dringend darum bitte, man möge nicht näher kommen. — stop
vom walfischorchester
india : 20.33 UTC — Manchmal erfinde ich eine Geschichte. Kurz darauf vergesse ich die Geschichte oder verliere sie wieder aus den Augen. Wenn ich die Geschichte nach Wochen oder Jahren wieder bemerke, scheint sie zu einer wirklichen Geschichte geworden zu sein, das ist seltsam. Auch weil Geschichten, die einmal erfunden worden sind, sich Lebewesen ähnlich verhalten, sie machen sich immer wieder bemerkbar, wie die Geschichte von Louis Kekkola’s Eisbuch Das Walfischorchester. Es war damals kurz nach vier Uhr gewesen, Dämmerung. Ich trug Handschuhe. Ich schaltete mein Tonbandgerät an und sprach leise, in dem ich das zerbrechliche Buchwesen in Händen hielt. Kaum war eine Seite des Buches von meinen Augen abgetastet, schloß ich den Kühlschrank, ging in der Wohnung spazieren und ließ mir alles, was ich gelesen hatte, durch den Kopf gehen. Dann kehrte ich zurück und las mit dampfendem Atem vor dem Kühlschrank sitzend weiter. Es war die nächste Seite, die ich vorsichtig unter meine Augenlupe nahm, auch sie war sehr vertraut, sie war wie erlebt, vermutlich deshalb, weil ich sie erinnern konnte. Manchmal muss nur eine Nacht vergehen, manchmal ein Jahr. — stop
reisende pinguine
nordpol : 20.01 UTC — Lese in Louis Kekkola’s Eisbuch Jennifer.Five. Es ist jetzt kurz nach acht Uhr abends, Vögel pfeifen. In diesem Moment trage ich Handschuhe. Ich habe mein Tonbandgerät angeschaltet und spreche leise, indem ich das zerbrechliche Buchwesen in Händen halte. Kaum habe ich eine Seite abgetastet, schließe ich den Kühlschrank, gehe in der Wohnung spazieren und lasse mir alles durch den Kopf gehen. Dann kehre ich zurück und lese mit dampfendem Atem weiter. Höre in diesen Minuten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekunden Zeit erteilt, um das Buch ungestüm warmer Heizluft auszusetzen. Auf Seite 52 entdecke ich Louis Kekkola’s Notiz über 22 Pinguine, die nordwärts reisten in Flugzeugen in hölzernen Behältern, um auf Grönland weiterzuleben. Sie sollen dort das Nordlicht ( Aurora borealis ) studíeren. — stop
ein mann wird belichtet
charlie : 20.26 UTC — Einmal, vor zwölf Jahren, habe ich eine merkwürdige Person erfunden, einen Mann, der vor einer schweren, mechanischen Schreibmaschine sitzt. Er notiert, ohne ein Farbband eingelegt zu haben. Dann nimmt er das Papier aus der Maschine und macht den Eindruck der Zeichensätze sichtbar, in dem er mit einem Bleistift das Papier verdunkelt. Es ist vielleicht deshalb so gekommen, weil der Mann seine Schreibmaschine nicht aufgeben mochte, ein Lebewesen, für das seit langer Zeit kein Farbband mehr aufzufinden ist. Die Existenz dieses Mannes scheint Jahr für Jahr wahrscheinlicher geworden zu sein. — stop
regen
bamako : 18.55 UTC Morgen oder übermorgen werde ich eine Geschichte erzählen, die mit Jack Kerouac in einer gewissen losen Verbindung stehen wird. Als ich die Geschichte zu notieren begann, erinnerte ich mich an einen Text, den ich vor 11 Jahren an dieser Stelle bereits gesendet hatte. Es war gleichwohl im September gewesen, es regnete damals und ich spazierte unter einem Regenschirm. Zunächst regnete es Regensand, dann Regenreis, dann regnete es kleine Frösche. Für einen kurzen Moment dachte ich, in einem Film angekommen zu sein, der von Louisiana handelte. Das war ein feines Gefühl gewesen unterm klingenden Schirm am Ufer des Mississippi zu stehn und den Fröschen zu lauschen, die auf ihrer letzten Reise vom Himmel erstaunliche, pfeifende Geräusche von sich gaben. Als ich so im Froschregen am großen Fluss stand, erinnerte ich mich wiederum an einen kleinen Text, den ich ein Jahr zuvor bereits geschrieben hatte. Und sofort wusste ich, dass ich diesen Text, sobald ich wieder zu Hause angekommen sein würde, noch einmal lesen sollte. Es ist noch immer, auch heute, 12 Jahre später, ein beruhigender Text, ein Text, der mich berührt. Deshalb will ich diesen kleinen Text, eine Anleitung zum Glücklichsein, noch einmal, zum dritten Mal, für Sie wiederholen: Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man solange durch die Stadt bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man Cortazar, Julio – Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Cafe, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauf folgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works. — stop
regen
zoulou : 18.07 UTC — Ein Freund erzählte von einer kleinen Rede, die er an einem späten Sommerabend auf einem Anrufbeantworter vorfand, als er nach Hause gekommen war. Diese kleine liebevolle Rede war von seiner sterbenskranken Frau kurz vor ihrem Tod im Hospital für ihren geliebten Mann gesprochen worden, während er gerade auf dem Fahrrad von ihr zurück nach Hause fuhr. Es hatte geregnet. Er saß in der Küche im letzten Licht des Tages. Er erzählte, er habe lange Zeit geweint, sich die Rede immer wieder angehört, dann beschlossen, die Stimme seiner geliebten Frau mittels eines Tonbandes aufzunehmen. Irgendetwas muss kurz darauf geschehen sein, wovon er nicht berichten wollte. — stop