zoulou : 15.58 UTC — Hände, meine Hände, die sich benehmen, als wären sie Lebewesen für sich, dahin tasten, dorthin tasten, über Handläufe gleiten, Klingelknöpfe berühren, Äpfel und Birnen, ein Päckchen, ein Buch, ein Telefon, meine Schreibmaschine, auch plötzlich, ich bemerke es zu spät, über meine Stirn spazieren, über Nase und Mund, weil sie sich Jahrzehnte lang ungestraft in dieser Weise bewegen durften. Wie nur soll ich sie kontrollieren? Ich dachte an Glöckchen, die an meinen Fingern befestigt, mich warnen würden, sobald ich meine Hände bewege, damit ich sie niemals vergesse, oder an elektrische Kontaktblättchen, die mich per Funksignal unverzüglich informieren würden, sobald ich mich mit meinen Händen eben Mund, Nase Wangen, Stirn und Augen, zu nähern drohte. Seltsame Sache. — stop
Aus der Wörtersammlung: päckchen
ein kind
nordpol : 0.58 — Ich stellte mir Nachrichten vor, die dazu geeignet sind, Telefone der Nachrichtenempfänger unverzüglich in Brand zu setzen. Was könnte das für Nachricht sein? Vielleicht folgende Nachricht, dass eine Geschichte wie diese Geschichte hier möglich ist, eine Geschichte, die von einem Kind erzählt, das in Großbritannien lebt. Das Kind, so wird erzählt, öffnete zur Weihnachtszeit einen Geschenkkarton, welcher in China erzeugt worden sein soll. In diesem Geschenk fand das Kind einen Zettel sorgfältig versteckt, der von Hand beschriftet worden war. Auf dem gefalteten Zettel war Folgendes zu lesen: S O S! Neugierig geworden öffnete das Kind das akkurat gefaltete Päckchen Papier. Das Kind entdeckte Zeichen, die mittels eines Kugelschreibers in blauer Farbe auf das Papier gesetzt worden waren. Und weil das Kind unbedingt herausfinden wollte, was dort handschriftlich notiert worden war, wurde die Zeichenfolge übersetzt. Von einem Ort in China war die Rede, von einem Gefängnis nahe einer großen Stadt im Norden des Landes, von der furchtbare Not eines menschlichen Wesens. Auch von der Zeit, von einem Zeitort. Bald drei Jahre war der Brief auf Reisen gewesen, ehe das Kind aufmerksam geworden war. — stop
im warenhaus
ginkgo : 0.02 UTC — An einem Abend im Warenhaus vor langer Zeit beobachtete ich einen kleinen Jungen. Er sprang in einer Warteschlange vor einer Kasse herum und lachte und verdrehte die Augen. Weil sich auf dem Förderband vor der Kasse Milchflaschen, Cornflakes, Reistüten sowie zwei Honigmelonen befanden, konnte der Junge den Mann, der an der Kasse seine Arbeit verrichtete, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann handelte es sich um Javuz Aylin, er war mittels eines Namensschildchens, das in der Nähe seines Herzens angebracht worden war, zu identifizieren. In diesem Moment der Geschichte erhob sich Herr Aylin ein wenig von seinem Stuhl, um neugierig über die Waren hinweg zu spähen, vermutlich deshalb, weil der Haarschopf des Jungen mehrfach in sein Blickfeld hüpfte. Da war noch ein zweiter Haarschopf an diesem Abend im Warenhaus in nächster Nähe, schwarzes, lockiges Haar, der jüngere Bruder des Jungen, der in wenigen Sekunden zu dem Kassierer sprechen würde, beide Kinder sind sich so ähnlich, als seien sie Zwillinge, ein großer und ein kleiner Zwilling. Gleich hinter den Buben wartete die Mutter, sie lächelte, wie sie ihre Kinder so fröhlich herumtollen sah. Die junge Frau trug ein buntes Kopftuch, ich stellte mir vor, sie könnte in Marokko geboren worden sein, kräftig geschminkter Mund, herrliche Augen. Plötzlich waren die Waren auf dem Förderband verschwunden, der ältere der beiden Jungs betrachtete aufmerksam das Gesicht des Kassierers Aylin, der müde zu sein schien. Er hielt dem Jungen ein Päckchen mit Sammelbildern zur Europameisterschaft entgegen, außerdem ein zweites Päckchen für den kleineren Bruder, der immer noch hüpfte, weil er gerade eben doch noch zu klein war, um über das Band selbst hinweg spähen zu können. Oh, danke, sagte der Junge zu Herrn Aylin. Er schaute kurz zur Mutter hinauf, die nickte. Ich habe schon fast alle Karten, fuhr er fort, die deutsche Mannschaft ist komplett. Er machte eine kurze Pause. Ich bin nämlich Deutscher, sagte der Junge mit kräftiger Stimme, auch mein Bruder ist Deutscher. Wieder schaute er zu Mutter hin, und wieder nickte die junge Frau und lachte. Bist Du auch Deutscher, fragt der Junge Herrn Aylin. Der schüttelte den Kopf und schnitt eine freundliche Grimasse. Der Junge setzte nach: Ach so! Warum nicht? Aber das war gewesen, ehe Herr Aylin antworten konnte, er war mit seinem kleinen Bruder und seinen Sammelbildern bereits hinter der Kasse verschwunden, sodass sich ihre Mutter beeilen musste, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. — Das Radio erzählt, man habe, indem man Menschen neben Straßen der Stadt Mariupol beerdigte, zur gleichen Zeit ein Fläschchen zu den Toten gelegt. Dort, im Fläschchen, wurden auf einem Zettel verzeichnet der Name des verstorbenen Menschen und der Tag seiner Geburt und der Tag seines gewaltsamen Todes. — stop
ein pfeifen
tango : 2.12 — Nabokov schrieb vor einiger Zeit, er habe mir eine ungewöhnliche Uhr geschickt, ich solle ihm notieren, sobald sie angekommen sei. Vergangenen Freitag erneute Frage: Lieber Louis, ist die Uhr, die ich vor zwei Monaten sendete, angekommen? Gestern war Nabokovs Uhr endlich im Briefkasten, zollamtlicher Vermerk: Zur Prüfung geöffnet. Ich will an dieser Stelle bemerken, von der Öffnung des Päckchens war nicht die mindeste Spur zu erkennen, kein Schnitt, kein Riss, keine Falte. Im Päckchen nun eine Schachtel von hellem Karton, in der Schachtel Seidenpapiere, von Nabokovs eigener Hand vermutlich zerknüllt. In weitere Seidenpapiere eingeschlagen, besagte Uhr, wunderbares Stück, ovales Gehäuse, blechern, vermutlich Trompete, welches schwer in der Hand liegt. Kurioserweise fehlt der Uhr das Zifferblatt, weiterhin keinerlei Zeiger, weder Dioden noch Leuchtzeichen. Ich versuchte, das Gehäuse der Uhr zu öffnen, vergeblich. Erstaunlich ist nun, dass, wenn ich auf das Gehäuse der Uhr Druck ausübe, sich ein schmaler Schacht seitlich öffnet, dem, wie zum Beweis der Existenz der Zeit, ein Streifen feinsten Papiers entkommt, auf welchem ein Uhrzeitpunkt aufgetragen worden ist. Sechssiebzehnzwölf. Allerbesten Dank, Nabokov, allerbesten Dank! — stop — Das Radio erzählt heut Folgendes mitten in der Nacht mit der Stimme einer jungen Frau: Die Bomben, wenn sie fliegen haben ein Pfeifen. Und wenn sie den Boden treffen und explodieren, dann bebt die Erde. Und Splitter fliegen wie ein Fächer durch die Gegend und später sammeln Menschen diese Splitter in Eimern, die sie nach Hause tragen. — stop
von händen
india : 22.28 — Hände, meine Hände, die sich benehmen, als wären sie Lebewesen für sich, dahin tasten, dorthin tasten, über Handläufe gleiten, Klingelknöpfe berühren, Äpfel und Birnen, ein Päckchen, ein Buch, ein Telefon, meine Schreibmaschine, auch plötzlich, ich bemerke es zu spät, über meine Stirn spazieren, über Nase und Mund, weil sie sich Jahrzehnte lang ungestraft in dieser Weise bewegen durften. Ich dachte an Glöckchen, die an meinen Fingern befestigt, mich warnen würden, sobald ich meine Hände bewege, damit ich sie niemals vergesse, an elektrische Kontaktblättchen, die mich per Funksignal unverzüglich informieren werden, sobald ich mich mit meinen Händen eben Mund, Nase, Wangen, Stirn und Augen zu nähern drohe. — stop
am telefon
ulysses : 18.05 UTC — L. berichtet, er habe mit seiner Mutter telefoniert, die in Russland lebe nahe der Stadt Irkutsk. Das war an einem Sonntagnachmittag sibirischer Ortszeit. Die Stimme seiner Mutter sei gut zu vernehmen gewesen. Er habe zunächst drei Telefonnummern gewählt, eine Nummer nach der anderen Nummer, dann auf die Stimme seiner Mutter gewartet. Seine Mutter habe ihn gefragt, wie es ihm gehe. Dann habe sie ihm erzählt, dass es schon geschneit habe, und dass sein Päckchen angekommen sei, alles sei drin gewesen im Päckchen, genauso wie er es beschrieben hatte, Schuhe und Schokolade aus Belgien und Hartkäse aus Luxemburg. L. freute sich und lauschte der Stimme seiner Mutter, die vertraut war, weil er regelmäßig mit ihr sprechen kann, dann meinte er ein knisterndes Geräusch am Telefon vernommen zu haben, da erzählte ihm seine Mutter, dass es schon geschneit habe, und dass sein Päckchen angekommen sei, alles sei drin gewesen im Päckchen wie er es beschrieben hatte, Schuhe und Schokolade aus Belgien und Hartkäse aus Luxemburg. Und wieder knisterte es im Telefonhörer, und seine Mutter erzählte, dass es schon geschneit habe, und dass sein Päckchen angekommen sei, alles sei drin gewesen im Päckchen, wie er es beschrieben hatte, Schuhe und Schokolade aus Belgien und Hartkäse aus Luxemburg. Das war schon sehr merkwürdig gewesen und Sonntag. — stop
im warenhaus
marimba : 0.02 — Am Abend im Warenhaus beobachte ich einen Jungen. Er springt in einer Warteschlange vor einer Kasse herum und lacht und verdreht die Augen. Weil sich auf dem Förderband vor der Kasse Milchflaschen, Cornflakesschachteln, Reistüten sowie zwei Honigmelonen befinden, kann der Junge den Mann, der an der Kasse seine Arbeit verrichtet, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann handelt es sich um Javuz Aylin, er ist mittels eines Namensschildchens, das in der Nähe seines Herzens angebracht wurde, zu identifizieren. In diesem Moment der Geschichte erhebt sich Herr Aylin ein wenig von seinem Stuhl, um neugierig über die Waren hinweg zu spähen, vermutlich deshalb, weil der Haarschopf des Jungen mehrfach in sein Blickfeld hüpfte. Da ist noch ein zweiter Haarschopf an diesem Abend im Warenhaus in nächster Nähe, schwarzes, lockiges Haar, es ist der jüngere Bruder des Jungen, der in wenigen Sekunden zu dem Kassierer sprechen wird, beide Kinder sind sich so ähnlich, als seien sie Zwillinge, ein großer und ein kleiner Zwilling. Gleich hinter den Buben wartet die Mutter, sie lächelt, wie sie ihre Kinder so fröhlich herumtollen sieht. Die junge Frau trägt ein schönes buntes Kopftuch, ich stelle mir vor, sie könnte in Marokko geboren worden sein, kräftig geschminkter Mund, herrliche Augen. Plötzlich sind die Waren auf dem Förderband verschwunden, der ältere der beiden Jungs betrachtet aufmerksam das Gesicht des Kassierers Aylin, der müde zu sein scheint. Er hält dem Jungen ein Päckchen mit Sammelbildern zur Europameisterschaft entgegen, außerdem ein zweites Päckchen für den kleineren Bruder, der immer noch hüpft, weil er soeben doch noch zu klein ist, um über das Band selbst hinweg spähen zu können. Oh, danke, sagt der Junge zu Herrn Aylin. Er schaut kurz zur Mutter hinauf, die nickt. Ich habe schon fast alle Karten, fährt er fort, die deutsche Mannschaft ist komplett. Er macht eine kurze Pause. Ich bin nämlich Deutscher, sagt der Junge mit kräftiger Stimme, auch mein Bruder ist Deutscher. Wieder schaut er zu Mutter hin, und wieder nickt die junge Frau und lacht. Bist Du auch Deutscher, fragt der Junge Herrn Aylin. Der schüttelt jetzt den Kopf und schneidet eine freundliche Grimasse. Der Junge setzt nach: Ach so! Warum nicht? Aber da ist er, ehe Herr Aylin antworten kann, mit seinem kleinen Bruder und seinen Sammelbildern bereits hinter der Kasse verschwunden, sodass sich ihre Mutter beeilen muss, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. — stop
winterpäckchen
marimba : 3.05 – Am vergangenen Mittwoch soll Ludwig, er ist gerade 8 Jahre alt geworden, dabei beobachtet worden sein, wie er eine Schuhschachtel vor das Fenster seines Zimmers stellte, um 1 Stunde lang das Licht eines frühen Nachmittags einzufangen. Er wendete in dieser Stunde nicht eine Minute seinen Blick von dem Behälter, den er dann sorgfältig mit ernster Miene verschloss, um ihn noch an demselben Tag mit seiner Mutter zu einem Postamt zu bringen. Das ist für meinen Freund Janos, erklärte Ludwig dem Beamten, der bei der Verfertigung einer zollamtlichen Erklärung behilflich war, 1 Stunde Sonne für meinen Freund, der in Teriberka weit im Norden in Russland wohnt. Jetzt wartet Ludwig. Es ist denkbar, dass er nun seinerseits zur Weihnacht vielleicht etwas Winternachtlicht geschenkt bekommen wird. — stop
nabokovs uhr
ginkgo : 6.12 — Nabokov schrieb vor einiger Zeit, er habe mir eine ungewöhnliche Uhr geschickt, ich solle ihm notieren, sobald sie angekommen sei. Vergangenen Freitag erneute Frage: Lieber Louis, ist die Uhr, die ich vor zwei Monaten sendete, angekommen? Gestern war Nabokov’s Uhr endlich im Briefkasten, zollamtlicher Vermerk: Zur Prüfung geöffnet. Ich will an dieser Stelle bemerken, von der Öffnung des Päckchens war nicht die mindeste Spur zu erkennen, kein Schnitt, kein Riss, keine Falte. Im Päckchen nun eine Schachtel von hellem Karton, in der Schachtel Seidenpapiere, von Nabokov*s eigener Hand vermutlich zerknüllt. In weitere Seidenpapiere eingeschlagen, besagte Uhr, wunderbares Stück, ovales Gehäuse, blechern, vermutlich Trompete, welches schwer in der Hand liegt. Kurioserweise fehlt der Uhr das Zifferblatt, weiterhin keinerlei Zeiger, weder Dioden noch Leuchtzeichen. Ich versuchte das Gehäuse der Uhr zu öffnen, vergeblich. Erstaunlich ist nun, dass, wenn ich auf das Gehäuse der Uhr Druck ausübe, sich ein schmaler Schacht seitlich öffnet, dem, wie zum Beweis der Existenz der Zeit, ein Streifen feinsten Papiers entkommt, auf welchem ein Uhrzeitpunkt aufgetragen worden ist. Sechssiebzehnzwölf. Allerbesten Dank, Nabokov, allerbesten Dank! — stop
von der wirbelkastenschnecke
tango : 3.52 — Gestern war ein heißer Tag gewesen, es war heiß in der Küche, heiß in den Zimmern zum Schlafen, zum Spazieren, heiß im Bad, im Treppenhaus, sogar im Keller, auf der Straße und in der Trambahn war es so heiß, dass ich mich gern sofort in einen Kühlschrank gesetzt haben würde. Als ich das Wort Kühlschrank dachte, erinnerte ich mich an einen hölzernen Kühlschrank, den ich mir einmal ausgemalt hatte, da war ich gerade auf dem Postamt, auch da war es heiß, und die Männer und Frauen hinter dem Tresen schwitzten. Ausgerechnet an einem Tag heißer Luft erreichte mich ein Päckchen, auf das ich seit beinahe zwei Wochen in außerordentlicher Kälte wartete. Ich hatte bei Hvalfjördur Corporation eine Scheibe aus dem Brustbein eines Pottwales bestellt, aber die isländische Post war acht Tage lang in einen Streik getreten, und so war das gekommen, dass das Päckchen einen erbärmlichen Gestank verströmte, was mich nicht im Mindesten wunderte, da man vergessen hatte, das Brustbein des Wales, der bereits im Mai gefangen und zerlegt worden war, ganz und gar von Blut zu befreien. Nun aber ist alles wieder in Ordnung. Ich habe den Knochen, der erstaunlich leicht in der Hand liegt, gründlich gereinigt, nur noch ein leiser Verdacht von Verwesung liegt in der Luft, ist vermutlich nicht tatsächlich, ist vielmehr ein Faden von Erinnerung. Sobald der Knochen getrocknet sein wird, werde ich einen ersten Versuch unternehmen, eine Schnecke aus ihm zu schnitzen, die der Wirbelkastenschnecke einer Geige ähnlich sein wird. – Samstag, kurz vor Dämmerung. Es ist noch immer heiß. Vor den Fenstern jagen Fledermäuse. – stop