echo : 20.92 UTC — Seit einigen Tagen wohnt eine Fliege in meinen Zimmern mit mir unter dem Dach. Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, dass jene Fliege, die ich zuletzt beobachtet habe, als ich kurz vor dem Schlaf noch einmal in die Küche trat, dieselbe Fliege war, die mich morgens schon im Flur mit einem Flugmanöver begrüßte. Da ich meine Fenster während der Nacht geöffnet hatte, könnte die Abendfliege meine Wohnung verlassen haben, indessen die Morgenfliege irgendwann in der Nacht hereingekommen war, um zu bleiben. Ich stelle fest: Ich vermag, nach Beobachtung ihrer Gestalt, eine Fliege von einer anderen Fliege nicht zu unterscheiden; sie sind groß oder klein und schillern und haben eine Flügelstimme, die mir je vertraut zu sein scheint. Nun ist jedoch Folgendes zu erzählen. Diese, eine Fliege, die vermutlich bereits seit Tagen bei mir wohnt, verhält sich, wie noch nie eine Fliege zuvor in meiner Wohnung sich verhalten hatte. Sie folgt mir nämlich tagein, tagaus. Sobald ich mich von einem Stuhl erhebe, begleitet mich die Fliege in den Flur und weiter in mein Arbeitszimmer und wieder zurück. Sie fliegt, weil sie mir im Gehen auf dem Fußboden, an einer Wand oder einer Decke, nicht folgen könnte, an meiner Seite, und zwar in der Höhe meines Kopfes. Ich habe diese Beobachtung mehrfach überprüft, indem ich meine Aufmerksamkeit auf diese eine Fliege lenkte, bevor ich eine Wanderung durch die Wohnung begann. Die Fliege scheint auf mich zu warten, dass ich etwas unternehmen möge. Ich habe ihr einen Namen gegeben: Die Fliege heißt Louis. Louis wünscht, so mein Eindruck, für den Rest seines Lebens bei mir zu bleiben. — stop
Aus der Wörtersammlung: kopf
mariupol / 6.
victory : 22.01 UTC — In einem Zimmer eines Hauses in Mariupol im sechsten Stock lag eine Fotografie auf dem Boden. Kinder sitzen dort im Bild auf Stühlen. Ihr erster Schultag. Die Fotografie war verstaubt und außerdem verletzt von einem Granatsplitter, der das Bild durchschlagen hatte. Der Kopf eines Mädchens war in dieser Weise verschwunden. Das Mädchen hatte einen himmelblauen Rock getragen, eine korallenfarbene Bluse mit weißen Blüten einer Rose, schwarze glänzende Schuhe mit goldenen Spangen und eine Kette bunter Steine um den Hals. Über das Gesicht des Mädchens kann ich natürlich nichts erzählen. Auch nicht über ihr Haar. Ich müsste, um über das Gesicht des Mädchens erzählen zu können, die Kinder des Bildes finden und befragen. Vielleicht haben sie alle überlebt, das ist vielleicht möglich. Oder eines oder zwei der Kinder. — stop
Lokomotive
des Jahres 1968
auf meinem
Küchentisch
im Winter um
kurz nach
Mitternacht
von feuervögeln
himalaya : 20.18 UTC — Und wenn doch Mobiltelefone mittels Nachrichten von fern her entzündet werden könnten? — Ich sitze neben irgendeinem Mann in irgendeinem Zug. Es ist Abend. Der Mann blickt auf den Bildschirm seines Mobiltelefons. Sein Daumen fördert Bilder von unten nach oben hin in rasender Geschwindigkeit. Ich betrachte seinen Kopf. Und plötzlich denke ich: Was denkt dieser Kopf? Kann dieser Kopf so schnell denken, wie sich die Bilder unter der Bewegung seines Daumens bewegen. Vielleicht kennt dieser Mann all jene Bilder, dieser fördert bereits. Vielleicht will er vertiefen, was er denkt. Immer wieder der Eindruck, ein kleiner Vogel, der pfeift von Zeit zu Zeit, liege rücklings in seiner Hand. Sofort wird aus der Bewegung eines Daumens, zärtliche Bewegung. — stop
von handvögeln
romeo : 14.25 UTC — Die New York Times berichtete nach monatelangen Recherchen über die Verbrechen der russischen Streitkräfte in der Stadt Bucha. Überall, so wird nun sichtbar, waren Vögel gewesen. Sie flogen in Schwärmen über die Stadt, sie hockten hinter Vorhängen und in den Manteltaschen der Spaziergänger, auch in den Händen der Getöteten, sie speicherten das Licht, das durch ihre Augen fiel, auf ihre Speicherkarten. Sie verzeichneten Geräusche, auch Stimmen. Sie dienten als Telefone, waren geduldige Agenten in den Händen der Mörder, die nicht ahnten, dass aufgezeichnet wurde, was sie ihrer Heimat erzählten. Die Vögel notierten Nummern, die gewählt wurden, Nummern, die zu den Mördern führten, ins bürgerliche Leben. — stop
Schreibzimmer
Mittags
15 Uhr
von schildkröten : sars cov 2
ginkgo : 15.08 UTC — Das gedankenlose Spazieren in der Stadt scheint unmöglich geworden. Es ist März oder April. Das Jahr 2020. Nervöse Blicke eilen weit voraus. Ist die Straße frei, ist Platz, kann ich passieren, ohne einer Person zu nahezukommen? Das Distanzieren brennt sich in den Kopf. In den ersten Tagen der Verordnung zu Abstand waren alle noch ernst gewesen, jetzt da und dort immer wieder ein Lächeln, ein leises Dankeschön, wenn man wartet, um Raum zu spenden. In einer zweifach um Ecken gefalteten Schlange stehen Menschen, sie warten in ein Postamt eintreten zu können. Wann habe ich in meinem Leben je so verharrt, geduldig, demütig, entspannt? Rotkopfschilddkröten hocken an Stränden der verbotenen Parkseen, ihre verwitterten Körper sind vollständig aus dem Wasser gekommen, als würden sie nach Menschen jenseits der Zäune luren. Ein wunderbarer Frühling. Goldfarbene Stäube schweben durch die Luft, die so klar ist wie noch nie seit ich denken kann, auch Spinnen an ihrer Seide, und all das Unsichtbare, das ich ein und wieder ausatme. An das Unsichtbare denken, das ist neu, dass das Nichtsichtbare Gedanken beherrscht, auch die Träume. Die Litfaßsäulen meiner Straße sind weiß wie leer. Eine Fotografie auf einer Zeitung vor dem Kiosk zeigt Menschen, die von Apparaturen umgeben unbekleidet auf dem Bauch liegen. Im Spielfilm abends hocken Menschen im Kaffeehaus Seite und Seite und gegenüber, stecken ihre Köpfe zusammen und debattieren, sehr seltsam, sehr gefährlich, ich wollte etwas sagen. — stop
im warenhaus
nordpol : 5.04 UTC — Denkbar wiederum, dass irgendwann einmal Warenhäuser existieren werden für Ohren, Nasen, Augen, Läden also für Kopfes Zubehör. Auch Geschäfte für Nieren, Knochen, Sehnen, Haut und weitere Materialien eines menschlichen Körpers sind wahrscheinlich geworden. Man wird, sofern man über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, wesentliche anatomische Substanzen der eigenen Existenz in zentralen Magazinen voll ausgewachsen vorrätig halten, um in der Not ohne Verzögerung handeln zu können. Fernreisende führen dann Behälter mit sich, in welchen sich tiefgekühlte Lungen und Herzen befinden. Ein anatomischer Eisschatten könnte unsere Lebenszeit begleiten, solange man noch nicht in der Lage ist, eine komplette, eine durchblutete, willenlose Gestalt, eine Kopie der eigenen Person in nächster Nähe in Bereitschaft zu halten. Diese Person könnte über Reisepapiere verfügen, über persönliche Kleidung, über einen Schrankkoffer zum Schlafen, über einen Stuhl zum Sitzen, über etwas Personal, welches das doppelte Wesen füttern und baden und spazieren führen wird im Garten. Jedes fünfte Jahr würde das Wesen erneuert werden. In den Papieren meines Schattens könnte folgende Signatur zu entdecken sein: Louis / XD5878682-NOE06 24.11.18~24.11.2023. − stop
von hinten oder von der Seite her
echo : 8.12 UTC- Ich dachte wieder einmal daran, dass ich den Faden einer Geschichte mit Möwe, die mich auf einem Fährschiff besuchte, vermutlich so nie wieder erleben werde. Trotzdem beachtete ich in den darauf folgenden Tagen die Erscheinungen der Möwen, welche auf dem Dach des alten Hauses saßen. Etwas war anders geworden. Ich hatte bemerkt, dass es sich bei dem alten Haus um ein Hotel handelte. Ich kannte nun den Namen des Hotels, obwohl ich nie dort gewesen war, ich hatte das Gebäude in der digitalen Sphäre identifiziert. Tage vergehen. Plötzlich sitze ich in einem Zug. Es ist spät, dunkel draußen, Menschen in meiner Nähe schlafen, von Zeit zu Zeit tauchen Lichter einer Stadt oder eines Dorfes aus der Lichtlosigkeit. Ich beobachte einen Film auf dem Bildschirm meiner Schreibmaschine. Es geht schön laut zu in dem Film, ich trage Kopfhörer, und ich denke, wenn ich nun in ein Attentat geraten würde, ich würde möglicherweise das Attentat nicht bemerken, solange nicht bemerken, bis mir jemand von hinten oder von der Seite her in den Kopf schießt, auch das würde ich eventuell nicht bemerken. — Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol würde man im März des Jahres 2022 Scharfschützen entdeckt haben, die auf Hausdächern lagen und auf Möwen und Menschen schossen. — stop
ein brennender vogel
echo : 0.10 UTC — Ich bin noch immer leicht verwirrt von dem, was vor wenigen Minuten passierte. Ein Blitz ist möglicherweise in nächster Nähe eingeschlagen. Ich erinnere mich, ich hatte meine Fenster geöffnet, es begann heftig zu regnen, dann wurde es plötzlich still. Ich lehnte noch an der Wand meines Arbeitzimmers. Es roch ein wenig nach Metall, meine Zunge schmeckte nach einem Löffel von Zinn, wie früher, sobald ich ein Frühstücksei öffnete. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit meinem linken Ohr ein leises Summen vernehmen, das eventuell nicht außen, sondern innen in meinem Kopf sich ereignet. Rechts ist wirkliche Stille. Aber ich kann sehen, mit beiden Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf meinem Sofa, er scheint zu brennen, weswegen ich mich sofort auf den Weg machen werde, ein Glas Wasser zu holen. Es ist seltsam, tatsächlich ist die Erfahrung der Gehörlosigkeit in dieser Nacht, die Erfahrung vollständiger Abwesenheit eines Teiles meines Kopfes. – Ein junger Mann erzählte im Radio, er habe in der Stadt Mariupol eine Wohnung besucht. Er sagt: Auf dem Boden lag eine tote Katze in der Nähe zwei alter Menschen, die auf einem Sofa hockten tot wie die Katze. — stop
von den eisvögeln
india : 8.12 UTC — Im Juli des Jahres 2012 hatte ich Eisvogelwörter entdeckt. Ich wiederhole. Nicht erwartete Vielfalt: Herkules-Eisvogel (Alcedo hercules), Kobalt-Eisvogel (Alcedo semitorquata), Schillereisvogel (Alcedo quadribrachys), Meninting-Eisvogel (Alcedo meninting) Azurfischer (Alcedo azurea), Brustband-Eisvogel (Alcedo euryzona), Blaubrustfischer (Alcedo cyanopecta), Silberfischer (Alcedo argentata), Madagaskarzwergfischer oder Schwarzschnabel-Zwergfischer (Alcedo vintsioides), Hauben-Zwergfischer oder Malachit-Eisvogel (Alcedo cristata), Sao-Tomé-Zwergfischer (Alcedo thomensis), Principe-Zwergfischer (Alcedo nais), Weißbauch-Zwergfischer (Alcedo leucogaster), Türkisfischer (Alcedo coerulescens), Papuafischer (Alcedo pusilla) — Auch seltsame Wörter in folgender Nahaufnahme: Der Eisvogel ernährt sich von Fischen, Wasserinsekten und deren Larven, Kleinkrebsen und Kaulquappen. Er kann Fische bis neun Zentimeter Länge mit einer maximalen Rückenhöhe von zwei Zentimetern verschlingen. Bei langgestreckten, dünnen Arten verschiebt sich die Höchstgrenze auf zwölf Zentimeter Körperlänge. Die Jagdmethode des Eisvogels ist das Stoßtauchen. Von einer passenden Sitzwarte im oder nahe am Wasser wird der Stoß angesetzt. Wenn er eine mögliche Beute entdeckt, stürzt er sich schräg nach unten kopfüber ins Wasser und beschleunigt dabei meist mit kurzen Flügelschlägen. Die Augen bleiben beim Eintauchen offen und werden durch das Vorziehen der Nickhaut geschützt. Ist die Wasseroberfläche erreicht, wird der Körper gestreckt und die Flügel eng angelegt oder nach oben ausgestreckt. Bereits kurz vor dem Ergreifen der Beute wird mit ausgebreiteten Flügeln und Beinen gebremst. Zur Wasseroberfläche steigt er zuerst mit dem Nacken, wobei er den Kopf an die Brust gepresst hält. Schließlich wird der Schnabel mit einem Ruck aus dem Wasser gerissen und der Vogel startet entweder sofort oder nach einer kurzen Ruhepause zum Rückflug auf die Sitzwarte. Im Allgemeinen dauert ein Versuch nicht mehr als zwei bis drei Sekunden. Der Eisvogel kann aber auch aus einem kurzen Rüttelflug tauchen, wenn ein geeigneter Ansitz fehlt. Nicht jeder Tauchgang ist erfolgreich, er stößt oft daneben. Der Eisvogel benötigt zur Bearbeitung der Beute in der Regel einen dicken Ast oder eine andere, möglichst wenig schwingende Unterlage. Kleinere Beute wird mit kräftigem Schnabeldrücken oft sofort verschluckt. Größere Fische werden auf den Ast zurückgebracht, dort tot geschüttelt oder auf den Ast geschlagen, im Schnabel „gewendet“ und mit dem Kopf voran verschluckt; anderenfalls könnten sich im Schlund die Schuppen des Fisches sträuben. Der Eisvogel schluckt seine Beute in einem Stück. Unverdauliches wie Fischknochen oder Insektenreste werden etwa ein bis zwei Stunden nach der Mahlzeit als Gewölle herausgewürgt. / quelle: wikipedia Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol sollen tausende Singvögel in eiskalten, fluchtartig verlassenen Wohnungen verdurstet sein. — stop
im warenhaus
ginkgo : 0.02 UTC — An einem Abend im Warenhaus vor langer Zeit beobachtete ich einen kleinen Jungen. Er sprang in einer Warteschlange vor einer Kasse herum und lachte und verdrehte die Augen. Weil sich auf dem Förderband vor der Kasse Milchflaschen, Cornflakesschachteln, Reistüten sowie zwei Honigmelonen befanden, konnte der Junge den Mann, der an der Kasse seine Arbeit verrichtete, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann handelte es sich um Javuz Aylin, er war mittels eines Namensschildchens, das in der Nähe seines Herzens angebracht worden war, zu identifizieren. In diesem Moment der Geschichte erhob sich Herr Aylin ein wenig von seinem Stuhl, um neugierig über die Waren hinweg zu spähen, vermutlich deshalb, weil der Haarschopf des Jungen mehrfach in sein Blickfeld hüpfte. Da war noch ein zweiter Haarschopf an diesem Abend im Warenhaus in nächster Nähe, schwarzes, lockiges Haar, der jüngere Bruder des Jungen, der in wenigen Sekunden zu dem Kassierer sprechen würde, beide Kinder sind sich so ähnlich als seien sie Zwillinge, ein großer und ein kleiner Zwilling. Gleich hinter den Buben wartete die Mutter, sie lächelte wie sie ihre Kinder so fröhlich herumtollen sah. Die junge Frau trug ein sehr schön buntes Kopftuch, ich stellte mir vor, sie könnte in Marokko geboren worden sein, kräftig geschminkter Mund, herrliche Augen. Plötzlich waren die Waren auf dem Förderband verschwunden, der ältere der beiden Jungs betrachtete aufmerksam das Gesicht des Kassierers Aylin, der müde zu sein schien. Er hielt dem Jungen ein Päckchen mit Sammelbildern zur Europameisterschaft entgegen, außerdem ein zweites Päckchen für den kleineren Bruder, der immer noch hüpfte, weil er gerade eben doch noch zu klein war, um über das Band selbst hinweg spähen zu können. Oh, danke, sagte der Junge zu Herrn Aylin. Er schaute kurz zur Mutter hinauf, die nickte. Ich habe schon fast alle Karten, fuhr er fort, die deutsche Mannschaft ist komplett. Er machte eine kurze Pause. Ich bin nämlich Deutscher, sagte der Junge mit kräftiger Stimme, auch mein Bruder ist Deutscher. Wieder schaute er zu Mutter hin, und wieder nickte die junge Frau und lachte. Bist Du auch Deutscher, fragt der Junge Herrn Aylin. Der schüttelte den Kopf und schnitt eine freundliche Grimasse. Der Junge setzte nach: Ach so! Warum nicht? Aber das war gewesen, ehe Herr Aylin antworten konnte, er war mit seinem kleinen Bruder und seinen Sammelbildern bereits irgendwo hinter der Kasse verschwunden, so dass sich ihre Mutter beeilen musste, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. — Das Radio erzählt, man habe, in dem man Menschen neben Strassen der Stadt Mariupol beerdigte, zur gleichen Zeit ein Fläschchen zu den Toten gelegt. Dort, im Fläschchen, wurden auf einem Zettel verzeichnet der Name des verstorbenen Menschen und der Tag sein Geburt und der Tag seines gewaltsamen Todes. — stop