Aus der Wörtersammlung: gehörlos

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ein brennender vogel

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echo : 0.10 UTC — Ich bin noch immer leicht ver­wirrt von dem, was vor weni­gen Minu­ten pas­sier­te. Ein Blitz ist mög­li­cher­wei­se in nächs­ter Nähe ein­ge­schla­gen. Ich erin­ne­re mich, ich hat­te mei­ne Fens­ter geöff­net, es begann hef­tig zu reg­nen, dann wur­de es plötz­lich still. Ich lehn­te noch an der Wand mei­nes Arbeit­zim­mers. Es roch ein wenig nach Metall, mei­ne Zun­ge schmeck­te nach einem Löf­fel von Zinn, wie frü­her, sobald ich ein Früh­stücks­ei öff­ne­te. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit mei­nem lin­ken Ohr ein lei­ses Sum­men ver­neh­men, das even­tu­ell nicht außen, son­dern innen in mei­nem Kopf sich ereig­net. Rechts ist wirk­li­che Stil­le. Aber ich kann sehen, mit bei­den Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf mei­nem Sofa, er scheint zu bren­nen, wes­we­gen ich mich sofort auf den Weg machen wer­de, ein Glas Was­ser zu holen. Es ist selt­sam, tat­säch­lich ist die Erfah­rung der Gehör­lo­sig­keit in die­ser Nacht, die Erfah­rung voll­stän­di­ger Abwe­sen­heit eines Tei­les mei­nes Kop­fes. – Ein jun­ger Mann erzähl­te im Radio, er habe in der Stadt Mariu­pol eine Woh­nung besucht. Er sagt: Auf dem Boden lag eine tote Kat­ze in der Nähe zwei alter Men­schen, die auf einem Sofa hock­ten tot wie die Kat­ze. — stop

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apfel

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echo : 0.10 UTC — Ich hat­te an einem Abend der ver­gan­ge­nen Woche mein Fern­seh­ge­rät aus­ge­schal­tet, war in die Küche getre­ten, um Schne­cke Esme­ral­da zu beob­ach­ten, wie sie einen Apfel zunächst umrun­de­te, sich dann auf­rich­te­te samt ihres Gehäu­ses und auf den Apfel klet­ter­te. Eine Bewe­gung, die gera­de­zu wag­hal­sig anmu­te­te. Es reg­ne­te. Ich wur­de schläf­rig. Um kurz vor Mit­ter­nacht klin­gel­te das Tele­fon. Jemand war in der Lei­tung, sprach aber nicht, atme­te nur. Ich hör­te eine Wei­le zu, und ich dach­te, dass Atem eine schö­ne Spra­che ist, aber auch etwas unheim­lich. Also kehr­te ich zu Esme­ral­da zurück, die nun auf dem Apfel hock­te als wäre der Apfel ein Stuhl oder ein Sofa. Wie so häu­fig nachts, las ich Esme­ral­da einen ver­schlüs­sel­ten Nach­rich­ten­text vor. Ich habe näm­lich bemerkt, dass Esme­ral­da sehr auf­merk­sam wird, sobald ich ihr kryp­ti­sche Tex­te vor­tra­ge, erstaun­lich, da Schne­cken doch gehör­los sein sol­len. In die­sem Fall, es war nicht leicht gewe­sen, las ich T.C.Boyle: Nfjof muvoh jtu tfis fout­di­j­fe­fo- bcfs xbt oýu{u ft@ Jdi cjo gýs Gsbvfosfdiuf/ Jdi cjo gýs Vnxfmutdivu{/ Jdi cjo gýs Nvmujlvmuvsbmjtnvt/ Jdi cjo gýs Cjmevoh/ Ejf wjfmfo Nfot­di­fo bvt efs Bsc­f­jufslmbttf- ejf jdi lfoof- tjoe qpmjujt­di sbe­jlbm boefsfs Botj­diu bmt jdi/ Ejf VTB tjoe fjo hft­qb­muf­oft Mboe/ Jdi lpnnf tfmc­tu bvt efs Bsc­f­jufslmbttf- voe jdi mfcf fjo­fo hspà­fo Ufjm nfjofs [fju jo efo lbm­jgpsojt­di­fo Cfsh­fo- xp wjfmf tph­fo­boouf Sfeofdlt mfcfo/ Jdi mjf­cf ejftf Nfot­di­fo- wjfmf wpo jio­fo tjoe joufmm­jh­fou voe fjogýimtbn/ Bcfs jo qpmjujt­di­fo Gsbh­fo ibc­fo tjf tjdi usbvs­jhfsx­fjtf hbo{ voe hbs nbo­j­qvm­jfs­fo mbttfo/ Ebc­fj xfse­fo hfs­bef tjf ejf Pqgfs wpo Usvn­qt Qpmju­jl tfjo voe bn nfjtu­fo voufs jis {v mfje­fo ibcfo/ Xfoo qsj­wjmfh­jf­suf Bnf­sjlb­ofs xjf jdi ovs hfnåà jis­fo xjsut­dibgumj­di­fo Joufsftt­fo hfxåi­mu iåu­ufo- eboo iåu­ufo xjs Usvnq hfxåi­mu- xfjm fs ejf Tufvf­so tfol­fo xjmm voe ebgýs tps­hu- ebtt xjs votfs Hfme cfibmufo/ Bcfs jdi xåimf efo Lboe­je­bu­fo- eftt­fo Ibmu­voh jdi gýs sjdi­ujh ibmuf- voe ojdiu efo- efs njs Qspgju csjohu/ Jdi cjo Qbusjpu/ — stop

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ABOUT ESMERLADA / ENDE

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regensprache

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tan­go : 6.35 — Wäh­rend einer Trau­er­fei­er für Nel­son Man­de­la, hef­ti­ger Regen, soll ein Mann, den ich mit eige­nen Augen ohne Zeit­ver­zö­ge­rung beob­ach­te­te, in einer merk­wür­di­gen Zei­chen­spra­che Reden über­setzt oder beglei­tet haben, die für gehör­lo­se Men­schen nicht ver­ständ­lich gewe­sen war. Bereits nach den ers­ten Minu­ten sei­nes Auf­tritts hat­ten sich Men­schen irri­tiert und wütend an Fern­seh­sen­der mit der Fra­ge gewen­det, um wen es sich dort auf dem Bild­schirm eigent­lich han­del­te. Eine doch selt­sa­me Geschich­te. Man über­leg­te, ob der Mann viel­leicht gefähr­lich gewe­sen sein könn­te. Aber der Mann mach­te nur Luft­zei­chen mit sei­nen Hän­den, nichts wei­ter. Ich habe mich in den ver­gan­ge­nen Tagen gefragt, was der Mann erzählt haben könn­te oder durch sei­nen Auf­tritt andeu­ten woll­te. Der Mann war von sehr ordent­li­cher Gestal­tung gewe­sen, wirk­te klar und kon­zen­triert. Er mach­te nicht den Ein­druck, als woll­te er aus rein per­sön­li­chen, aus Eitel­keits­grün­den dort oben auf der Büh­ne neben berühm­ten Per­sön­lich­kei­ten ste­hen, um auf sich auf­merk­sam zu machen. Er war ganz ein­fach da und ges­ti­ku­lier­te. Ich dach­te, es könn­te sich in die­ser welt­weit sicht­ba­ren Spra­che um eine erfun­de­ne, um eine zufäl­li­ge, also gar kei­ne Spra­che gehan­delt haben, weil man sie nie­mals ein­deu­tig wie­der­ho­len könn­te. Viel­leicht war es Musik, die der Mann mit sei­nen Zei­chen in aller Stil­le zur Auf­füh­rung brach­te. Viel­leicht über­setz­te er die Geräu­sche des Regens. — stop

polaroidlesende2

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brennender vogel

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echo : 0.10 — Ich bin noch immer leicht ver­wirrt von dem, was vor weni­gen Minu­ten pas­sier­te. Ein Blitz ist mög­li­cher­wei­se in nächs­ter Nähe ein­ge­schla­gen. Ich erin­ne­re mich, ich hat­te mei­ne Fens­ter geöff­net, es begann hef­tig zu reg­nen, dann wur­de es plötz­lich still. Ich lehn­te noch an der Wand mei­nes Arbeit­zim­mers. Es roch ein wenig nach Metall, mei­ne Zun­ge schmeck­te nach einem Löf­fel von Zinn, wie frü­her, sobald ich ein Früh­stücks­ei öff­ne­te. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit mei­nem lin­ken Ohr ein lei­ses Sum­men ver­neh­men, das even­tu­ell nicht außen, son­dern innen in mei­nem Kopf sich ereig­net. Rechts ist wirk­li­che Stil­le. Aber ich kann sehen, mit bei­den Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf mei­nem Sofa, er scheint zu bren­nen, wes­we­gen ich mich sofort auf den Weg machen wer­de, ein Glas Was­ser zu holen. Es ist selt­sam, tat­säch­lich ist die Erfah­rung der Gehör­lo­sig­keit in die­ser Nacht, die Erfah­rung voll­stän­di­ger Abwe­sen­heit eines Tei­les mei­nes Kop­fes. – stop

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flügel

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tan­go : 6.15 — Im Zug sass ein Mann, der sich mit einer Frau in der Hand­zei­chen­spra­che der gehör­lo­sen Men­schen unter­hielt. Obwohl ich die Hän­de der zwei Spre­chen­den ein­ge­hend betrach­te­te, lie­ßen sie sich nicht stö­ren, ver­mut­lich weil sie ahn­ten oder wuss­ten, dass ich ihre Spra­che nicht ver­ste­hen konn­te. Der Ein­druck, dass die bei­den wei­te­re Kör­per­zei­chen ver­wen­de­ten, um die Spra­che ihrer Hän­de zu ergän­zen. Als wären sie Flü­gel eines Vogels, der sich Was­ser aus dem Gefie­der schüt­telt, flat­ter­ten ihre Augen­li­der auf und nie­der. Kaum den Zug ver­las­sen, ver­such­te ich ver­geb­lich die­se erstaun­li­che Bewe­gung ihrer Augen nach­zu­ah­men. Und auch heu­te Mor­gen, nach einer ruhi­gen Nacht, bin ich nicht in der Lage, mei­ne Lider in der beschrie­be­nen Wei­se erzit­tern zu las­sen. So uner­reich­bar sind sie wie mei­ne Ohren, die nie gehor­chen wol­len, wenn ich mir mit ihrer Hil­fe Luft zufä­cheln möch­te. Viel­leicht werd ichs am Abend noch ein­mal pro­bie­ren. Neh­me an, sie haben Töne erzeugt, sin­gen­de Töne mit ihren Augen im Zug.

ping