Aus der Wörtersammlung: irritiert

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kleine anatomische geschichte

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echo : 5.01 — Ges­tern ist mir wie­der ein­mal etwa Selt­sa­mes mit mir selbst pas­siert. Ich beob­ach­te­te im Spie­gel ein Augen­lid, das flat­ter­te. Ich war noch nicht lan­ge wach gewe­sen. Als sich das Augen­lid beru­higt hat­te, bemerk­te ich, dass auch ein klei­ner Mus­kel an mei­ner lin­ken Wan­ge beb­te und ich über­leg­te, wel­cher Mus­kel das genau sein könn­te. In die­sem Moment erin­ner­te ich mich an eine klei­ne Geschich­te, die ich vor weni­gen Jah­ren in einem Café erleb­te. Eine Freun­din saß mir gegen­über. Wir spra­chen über dies und das. Plötz­lich beschwer­te sie sich, ich wür­de sie so selt­sam anse­hen. Tat­säch­lich hat­te ich Bewe­gun­gen ihres Gesich­tes beob­ach­tet in den Momen­ten genau, da sie sprach oder lach­te. Es war ein unwill­kür­li­cher Blick unter die Haut gewe­sen, ein sozu­sa­gen ana­to­mi­scher Blick, der sie irri­tier­te, ohne zu wis­sen wes­halb genau. Sie mein­te, ich wür­de ihr nicht zuhö­ren, son­dern träu­men. In die­sem Moment wur­de deut­lich: Sobald ich einen Men­schen in ana­to­mi­scher Wei­se betrach­te, wird mein Blick in den Augen des Betrach­te­ten kein schar­fer Blick sein, wie man viel­leicht erwar­ten wür­de, son­dern ein unschar­fer Blick, eine Gren­ze über­schrei­tend, phan­ta­sie­rend. — stop
ping

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regensprache

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tan­go : 6.35 — Wäh­rend einer Trau­er­fei­er für Nel­son Man­de­la, hef­ti­ger Regen, soll ein Mann, den ich mit eige­nen Augen ohne Zeit­ver­zö­ge­rung beob­ach­te­te, in einer merk­wür­di­gen Zei­chen­spra­che Reden über­setzt oder beglei­tet haben, die für gehör­lo­se Men­schen nicht ver­ständ­lich gewe­sen war. Bereits nach den ers­ten Minu­ten sei­nes Auf­tritts hat­ten sich Men­schen irri­tiert und wütend an Fern­seh­sen­der mit der Fra­ge gewen­det, um wen es sich dort auf dem Bild­schirm eigent­lich han­del­te. Eine doch selt­sa­me Geschich­te. Man über­leg­te, ob der Mann viel­leicht gefähr­lich gewe­sen sein könn­te. Aber der Mann mach­te nur Luft­zei­chen mit sei­nen Hän­den, nichts wei­ter. Ich habe mich in den ver­gan­ge­nen Tagen gefragt, was der Mann erzählt haben könn­te oder durch sei­nen Auf­tritt andeu­ten woll­te. Der Mann war von sehr ordent­li­cher Gestal­tung gewe­sen, wirk­te klar und kon­zen­triert. Er mach­te nicht den Ein­druck, als woll­te er aus rein per­sön­li­chen, aus Eitel­keits­grün­den dort oben auf der Büh­ne neben berühm­ten Per­sön­lich­kei­ten ste­hen, um auf sich auf­merk­sam zu machen. Er war ganz ein­fach da und ges­ti­ku­lier­te. Ich dach­te, es könn­te sich in die­ser welt­weit sicht­ba­ren Spra­che um eine erfun­de­ne, um eine zufäl­li­ge, also gar kei­ne Spra­che gehan­delt haben, weil man sie nie­mals ein­deu­tig wie­der­ho­len könn­te. Viel­leicht war es Musik, die der Mann mit sei­nen Zei­chen in aller Stil­le zur Auf­füh­rung brach­te. Viel­leicht über­setz­te er die Geräu­sche des Regens. — stop

polaroidlesende2

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jean paul

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char­lie : 3.08 — Wäh­rend eines Gesprä­ches im Gehen erzähl­te ich Mut­ter, dass ich vor Jah­ren ein­mal fürch­te­te, ihr Leben könn­te vor dem Leben mei­nes Vaters enden. In Bruch­tei­len einer Sekun­de ant­wor­te­te sie, dass Vater ihr in die­sem Fal­le sehr bald nach­ge­stor­ben wäre. Ich war sofort ste­hen­ge­blie­ben, das Wort nach­ster­ben irri­tier­te. Ich mein­te die­ses Wort noch nie zuvor gehört zu haben, und über­leg­te, ob Mut­ter das Wort viel­leicht erfun­den haben könn­te, ein Wort also für eine Situa­ti­on, die sie sich selbst vor­ge­stellt haben moch­te. Eini­ge Stun­den spä­ter such­te ich nach dem Wort in der digi­ta­len Sphä­re. Tat­säch­lich exis­tiert die­ses Wort bereits seit lan­ger Zeit. Ich war nun ein altes Kind gewe­sen, das Wör­ter lernt, in dem es Geräu­sche von den Lip­pen sei­ner Mut­ter liest. Habe auf der Suche nach den Spu­ren jenes Wor­tes eine fei­ne Beob­ach­tung Jean Pauls ent­deckt: Außer­halb des Traums kom­men uns Emp­find­bil­der öfter von Tönen als von Reden und Schäl­len vor; nach einer Musik­nacht kann die beweg­te See­le sich will­kür­lich die Melo­dien, aber nicht die Gesprä­che wie­der­klin­gen las­sen; denn wie sehr der Musik­ton, die Poe­sie des Klan­ges, so tief mehr in uns als um uns zu spie­len und unter allen Emp­fin­dun­gen von uns mehr geschaf­fen als emp­fan­gen zu wer­den scheint, bewei­set die schon ange­führ­te Erfah­rung, daß wir an einem Sin­gen und Flö­ten, das in immer wei­te­re Fer­ne ver­fließt, gera­de mit dem gespann­tes­ten Ohre die letz­ten aus­ster­ben­den Töne von Außen nicht von den nach­ster­ben­den von Innen son­dern kön­nen. — stop. Drei Uhr. stop. Heu­te Nacht pfeift ein Vogel irgend­wo im Dun­keln, obwohl es noch lan­ge Zeit nicht hell wer­den wird. Das ist selt­sam. Er scheint mich im Auge zu behal­ten. Ich ste­he am Fens­ter und bewe­ge einen Arm und eine Hand als wür­de ich win­ken. Die­se Ges­te lässt den Vogel ver­stum­men, war­um? — stop
ping

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PRÄPARIERSAAL : ismene

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sier­ra : 18.02 — Abend. Die Fens­ter geöff­net, es reg­net, für einen Moment ist Herbst gewor­den. Höre ein Inter­view, das ich mit Isme­ne, einer Medi­zin­stu­den­tin, in Mün­chen führ­te. Sie erzählt mit ruhi­ger Stim­me fol­gen­de Geschich­te: > Wie wir ange­fan­gen haben? Ich erin­ne­re mich gut. Ich hat­te kaum geschla­fen. End­lich soll­te es los­ge­hen. Als ich dann im Prä­pa­rier­saal vor dem Tisch stand, war ich erst ein­mal irri­tiert vom Anblick des Leich­nams. Ich glau­be, alle mei­ne Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen waren irri­tiert gewe­sen, min­des­tens waren sie beein­druckt. Wenn man unsi­cher ist, schaut man nach, was die ande­ren tun. Und wenn die Bli­cke ein­an­der begeg­nen, lächelt man. Ich habe die­se ers­te Situa­ti­on vor dem Tisch als sehr authen­tisch emp­fun­den, als ehr­lich und unmit­tel­bar. Wir hat­ten nur unse­re Augen, unse­re Hän­de, also unse­ren Tast­sinn, ein Skal­pell und eine Pin­zet­te, um den Kör­per, der uns zur Ver­fü­gung gestellt war, zu unter­su­chen. Natür­lich arbei­te­ten wir auch mit unse­rem Gehör­sinn. Wir waren acht Leu­te an jedem der 52 Tische, und wir dis­ku­tier­ten, was wir gese­hen haben. An die­sem ers­ten Tag aber waren wir eher still gewe­sen. Ich glau­be, jeder von uns muss­te zunächst ein­mal mit sich selbst zurecht­kom­men. Das waren ja sehr kräf­ti­ge Ein­drü­cke. Ich habe mir, um mich vor dem schar­fen Geruch zu schüt­zen, ein Tuch in die Brust­ta­sche gesteckt, das ich in Euka­lyp­tus­öl getaucht hat­te. Und da war nun die­se alte Frau gewe­sen. Sie lag völ­lig unbe­klei­det auf dem Tisch vor uns. Ich habe gewusst, dass die­ser Moment kom­men wür­de, aber man kann sich auf den Augen­blick einer ers­ten Begeg­nung die­ser Art nicht wirk­lich vor­be­rei­ten. Viel­leicht hat­ten wir des­halb mit hoher, zupa­cken­der Geschwin­dig­keit die rote Decke und das wei­ße Tuch, die den Leich­nam vor Aus­trock­nung schüt­zen, ange­ho­ben, weil wir unse­rer Unsi­cher­heit Akti­vi­tät ent­ge­gen­set­zen woll­ten. Ich war sehr bewegt und ich war unru­hig und ich schäm­te mich für mei­nen sach­li­chen Blick, der das Gewicht der alten Dame schätz­te und ihre Grö­ße. Sie lag rück­lings auf dem Tisch. Ihre Bei­ne und Arme waren aus­ge­streckt. Wenn sie noch am Leben gewe­sen wäre, wür­de sie ver­mut­lich ver­sucht haben, sich zu schüt­zen. Sie hät­te ihre klei­nen, fla­chen Brüs­te mit Hän­den bedeckt und ihre Scham, und sie hät­te viel­leicht irgend­ei­ne abweh­ren­de Ges­te unter­nom­men. Ich sehe ihr Gesicht, ihre geschlos­se­nen Augen noch sehr genau vor mir. Ein fei­nes Gesicht. Das For­ma­lin hat­te ihr kaum zuge­setzt, an ihrem Kör­per war kei­ne wei­te­re Nar­be zu fin­den als ein Schnitt an der Innen­sei­te des lin­ken Ober­schen­kels, der von einer Kanü­le der Prä­pa­ra­to­ren ver­ur­sacht wor­den war. Und wenn ich jetzt sage, dass sie sehr echt aus­sah, sehr wirk­lich, ver­letz­lich, dann kom­me ich der Ursa­che mei­ner Irri­ta­ti­on viel­leicht näher. Ver­ste­hen Sie, die alte Dame war mir ähn­lich. Ich bemerk­te eine Frau, eine Frau, die nur durch ein wenig Zeit von mir getrennt war. Ich sah eine Per­son und ich fürch­te­te, sie in ihrer Ruhe zu stö­ren, und des­halb sprach ich lei­se. Auch mei­ne jun­gen Freun­de am Tisch spra­chen sehr lei­se, zurück­hal­tend, behut­sam. Ich sah, dass ihre Hän­de in den Latex­hand­schu­hen schwitz­ten und auch, dass sie ein wenig zit­ter­ten, wäh­rend sie arbei­te­ten. Die Hän­de der alten Dame wirk­ten, als hät­te sie zu lan­ge geba­det. Das waren sehr fei­ne Hän­de. Sie hat­te zuletzt noch ihre Fin­ger­nä­gel bemalt in einem hel­len Rot. Sie hat­te sich noch geschmückt. Sie woll­te schön sein! Immer­zu muss­te ich ihre Hän­de betrach­ten. — stop

ping

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fifth avenue – lemur

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tan­go : 20.
56 — Papp­kar­ton­hüt­ten auf Trep­pen, die zu Kir­chen­räu­men füh­ren, zer­lump­te, sich bewe­gen­de Gebil­de. Seit Stun­den geht mir ein Satz nicht aus dem Kopf, der in New Yor­ker Sub­way – Zügen immer wie­der ein­mal zu lesen ist: Give the home­l­ess the kind of chan­ge they can real­ly use. Irgend­et­was irri­tiert in die­ser Zei­le. — Abend. Warm und schwül der Atem der Stra­ßen. Vor der St Patricks Cathe­dral, Fifth Ave­nue, liegt eine Frau ohne Bewusst­sein um einen Hydran­ten gewi­ckelt auf dem Boden. Eine Rat­te zerrt an ihrem Gepäck­wa­gen. Das ner­vö­se Tier hebt den Kopf, scheint mich zu betrach­ten, die­sen Mann in fei­nen Hosen, mit tadel­lo­sen Wan­der­schu­hen, der bei geöff­ne­tem Mund vor­sich­tig atmet. Bei­ßen­der Gestank ruht in der Luft. Ich ste­he, ich den­ke, sie wird bald ster­ben, die­se Frau wird bald ster­ben. Sie könn­te eine Mut­ter sein. Ihre eit­ri­gen Hän­de. Ihr schmutz­grau­es Gesicht. Ihr stau­bi­ges Haar. Ihre tief in den Kopf ein­ge­sun­ke­nen Augen. Was ist, was nur um Got­tes­wil­len ist gesche­hen, dass sie so endet?

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zeppeline

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alpha : 8.06 — Seit Tagen den­ke ich dar­über nach, wes­halb mich die Ansicht japa­ni­scher Fes­sel­bom­ben­bal­lo­ne irri­tiert. Ich komm nicht dahin­ter. Viel­leicht ein­mal eine Geschich­te erzäh­len, die von oder mit Bom­ben­bal­lo­nen han­delt, eine Art fabu­lie­ren­de Denk­be­we­gung, die die Sub­stanz die­ser selt­sa­men Idee in mei­nem Leben wirk­li­cher, greif­ba­rer wer­den lässt. Nicht also erfin­den, son­dern etwas Gefun­de­nes buch­sta­bie­ren, um es genau­er den­ken oder über­haupt als etwas Eige­nes spü­ren zu kön­nen. Ges­tern Abend noch erzähl­te ich in einem Gespräch von Zep­pel­in­kä­fern, wie sie durch mei­ne Woh­nung schwe­ben. Ich erzähl­te in einer Wei­se, dass ich eher sagen müss­te, dass ich von der Erschei­nung der Zep­pel­in­kä­fer in mei­nem Zim­mer berich­te­te, weil sie, im Febru­ar zunächst wort­wei­se auf Notiz­pa­pier gesetzt, für mein Gehirn zur einer wirk­li­chen Erschei­nung gewor­den sind. — Eine beru­hi­gen­de Beobachtung.
luftschiffbombe