nordpol : 22.58 UTC — Vor Jahren, zur Sommerzeit, an der Seite einer schwermütigen Frau durch tropfenden Wald nahe eines Krankenhauses spaziert. Es hatte geregnet, eine Sintflut, das Kleid der Frau, von dem sie erzählte, dass es sich um ein brennendes Kleid handele, klebte an ihrem Körper fest. Schmal war sie geworden, zerbrechlich, fast durchsichtig die Haut ihrer Hände, ihrer Wangen, ihres Halses. Ich erinnere mich, dass ich ihr Libellen zeigte, sie jagten dicht über den dampfenden Boden hin, Walderdbeeren, einen Frosch. Ich fragte nach ihren Gedanken, aber ich konnte sie nicht erreichen, auch mit meinen Blicken nicht, weil sie mich nicht ansehen wollte, sondern vor sich hin starrte, indem sie vorsichtig ihre Schritte setzte, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich existieren. Ihr feines Gesicht, ich erinnere mich, ihre hellen Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer langen Zeit des Schweigens sagte, niemand könne verstehen, wie sie sich fühle, kein Mensch, das sei schrecklich, und das Atmen, die Angst, die Leere, der Eindruck zu fallen, und dass sie nicht wisse, wann das alles wiederkommen würde, wenn es doch einmal aufgehört haben sollte. In einer ihrer Hände barg sie eine Spieldose. Manchmal hielt sie die kleine Maschine vor ihr Gesicht und drehte an einer Kurbel. Sie neigte dann den Kopf zur Seite, und für einen Moment schien der Schmerz nachzulassen, eine Ahnung im Sommerregen, eine Erfahrung größter Ferne und Hilflosigkeit inmitten zirpenden, pfeifenden, rauschenden Lebens. — Ich habe von dieser Begegnung im Wald bereits einmal erzählt. Weil ich heute über wasserfeste Walzenspieldosen notierte, erinnerte ich mich. — stop
Schlagwort: erfahrung
vom gehen
lima : 15.08 UTC — Träumte Schaufensterpuppen, die sich durch ein Warenhaus bewegten. Manche gingen unbeholfen rückwärts, kein Wunder, hatten sie doch in der Fortbewegung keine Erfahrung, standen Jahr um Jahr an ein und demselben Ort, als wären sie verwurzelt, verneigten sich, zeichneten unsichtbare Figuren in die Luft, winkten Passanten zu oder Passanten heran, lächelten oder zwinkerten. Irgend ein Zeichen, vielleicht von einem Menschen von der Straße her gesendet, muss sie in Bewegung gesetzt haben. Im Übrigen waren sie stumm, nichts war zu hören als ein leises Surren, irgendetwas quietschte. — stop
kandinskyraupe
nordpol : 18.54 — Es existiert ein besonderer Grund, weswegen ich meinen Text von der Kandinskyraupe, den ich vor acht Jahren notierte, an dieser Stelle und an diesem Tag wiederhole. Ich habe, als ich ihn vor wenigen Minuten bemerkte, entdeckt, dass ich mich nicht erinnern konnte, ihn persönlich geschrieben zu haben. Der Text war mir fremd gewesen. Eine seltsame Erfahrung. Nun habe ich mir vorgenommen, in acht Jahren an diese Stelle zurückkehren und zu prüfen, wie es sich mit meinem Erinnerungsvermögen verhalten wird im Jahr 2027. Hier ist Dein Text, lieber Louis: Nach heftigem Gewitterregen habe ich einen Kandinsky entdeckt im Park, eine nasse Raupe von so wunderbarer Zeichnung, dass ich sie in eine Streichholzschachtel setzte und mit nach Hause genommen habe. Sie lungert jetzt auf meinem Schreibtisch herum. Der Eindruck, dass sie nicht sehr begeistert ist, sobald ich mich mit einem Finger oder meinen Augen nähere, vielleicht wegen meines Anblicks oder weil es eigentlich dunkel sein müsste um diese Zeit, da doch Nacht geworden ist. Drohende Haltung, das heißt, gesenkter Kopf, Fühler derart zu mir hin ausgerichtet, als wären sie Hörner eines Stieres. Ihrem Rücken entkommen vier Quasten von gelber Farbe senkrecht einer ledernen Haut, die dunkel ist und zart liniert, wie die Handflächen eines Berggorillas. Zarteste Federn, sie blühen feuerfarben an den Flanken des Tieres, aber grüne, sehr kurze Beine, acht links, acht rechts. Manchmal fällt die Kandinskyraupe um. Sie liegt dann recht flach auf der Seite zur Schneckenzeichnung geworden. Ob ich sie mit etwas Banane an mich gewöhnen könnte? Oder mit Cole Porter vielleicht? Zwei Stunden Cole Porter, das sollte genügen. – stop
ein regenschirm
marimba : 22.03 UTC – Vor einer Woche erzählte mir Jose, er trage schwer an dem gläsernen Auge, das er rechts neben seiner Nase in seine Augenhöhle eingesetzt bekommen habe. Es sei nicht das Gewicht selbst, sondern vielmehr die Erfahrung eines Unfalls, eines Stolperns, die ihm sein Auge gekostet habe. Auf der Treppe sei er einerseits gestürzt, anderseits unglücklichst kollidiert mit seinem Regenschirm in der Hand. Er habe in den Minuten nach jenem entscheidenden Ereignis kaum einen Schmerz verspürt. Er glaube, der Schmerz sei so groß gewesen, dass sein Geist ihn aus sofort dem Bewusstsein gesperrt haben muss. Er höre noch immer den Schrei seiner Frau, als sie ihn sah. Nun ist das so, erzählte Jose, da springst Du ein Leben lang in der Welt herum und denkst nicht eine Sekunde daran, dass Du ein Auge verlieren könntest. Und jetzt wiege das Gewicht seines gläsernen Auges deshalb so schwer, weil er sich vor einem zweiten gläsernen Auge fürchte, er würde in diesem Falle über kein weiteres Auge verfügen, es wäre dann dunkel, und er wisse doch aus eigener Erfahrung präzise, dieser verdammte Regenschirm, erzählte Jose. — stop
monsun
sierra : 12.01 UTC — Bald einmal ist dringend eine Sammlung von Beobachtungen anzulegen, von Ereignissen, die ich mit meinem persönlichen Leben nicht unmittelbar in Verbindung setzen kann, die jedoch zentrale Erfahrungen ungezählter Menschen sind, die vor meinen Augen auf Fernsehbildschirmen erscheinen, auf Titelseiten papierener oder elektrischer Zeitungen. Kann ich mir Hunger vorstellen? Ich meine, nicht vorsätzlichen Hunger der Fastenzeit, vielmehr tatsächlichen Hunger, Hunger, der einen menschlichen Körper beschädigt oder zerstört. Wie fühlt es sich an, in Brooklyn ohne Ausweispapiere zu existieren? Oder die Furcht einer Frau, in einem Außenbezirk der Stadt Delhi nach einer Spätschicht einen Bus zu besteigen. L., der ich leibhaftig begegnete, erzählte folgendes: Ich bin in Mumbai geboren, ich liebe mein Land. Ich liebe mein Land zu jeder Jahreszeit. In Indien bedeutet das Wort Regenzeit Monsun oder Barsaat. In Kalkutta wirst Du Monsunregen erleben, der vom Himmel kommt, auch außerdem eine Art Monsun, der aus dem Boden steigt. — stop
am fenster
charlie : 22.01 UTC — Es ist Samstagabend geworden. Ich habe an diesem Tag lange Zeit Eichhörnchen beobachtet, wie sie blattlose Bäume vor meinen Fenstern untersuchten, als wären diese Bäume gerade erst gewachsen, unbekannte Orte also, die zunächst inspiziert werden mussten. Ich winkte von Zeit zu Zeit, die Eichhörnchen blieben dann für einen Augenblick still sitzen, ich glaube, sie haben mich beäugt, haben möglicherweise darüber nachgedacht, ob sie sich an mich erinnern, und wenn ja, welche Erfahrung sie mit mir saammelten. Vermutlich werden sie gedacht haben, diesen Vogel dort drüben am Fenster kennen wir, er ist nicht gefährlich, er flattert nur mit seinen Flügeln, er kann nicht fliegen. — stop
sekundenseide
sierra : 3.15 — Geschichten, die in Sekundenschnelle als Möglichkeit erscheinen, ihr Ursprung, ihre Entdeckung, in dem Moment, da ich meine Augen schließe, so plötzlich, dass ich ihre Anreise nicht bemerke, die Geschichte von den Papieren und ihren Geräuschen in einem U‑Bahnwagon besipielsweise, eine Summe von Wahrnehmung, von Erfahrung, von neuronalen, unbewussten Aufnahmen, das murmelnde Gespräch der Menschen unterm Schepperschirm einer Blechkiste, die von Coney Island aus nordwärts fährt, der Eindruck, dass Menschen mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Ein oder zwei Minuten von Ruhe, dann, plötzlich, blättert jemand eine Seite um, und schon knistert der Wagon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, so dass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde, sobald man sie berührte. Eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung, eine Sekunde, die nicht vergisst. — stop
paris : 5 minuten
sierra : 3.15 – Der junge Mann will wissen, ob ich vielleicht gerade Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Sein Gesichtsausdruck, indem er auf mein Mobiltelefon deutet, ist ernst. Ich wohne in Paris, sagt er, ich bin dort aufgewachsen, ich studiere in Deutschland, ich habe versucht meinen Großvater zu erreichen, aber er meldet sich nicht, ich komme nicht durch, ich bin so aufgeregt, auch meine Freundin ist verschwunden. Wir stehen am Bahnhof, warten auf einen Zug, der in Richtung des Flughafens fährt. Es ist kurz nach Mitternacht. Auf dem Mobiltelefon des jungen Mannes wird von achtzehn Todesopfern berichtet, auf meinem sind bereits über vierzig Menschen gestorben. Der junge Mann läuft immer wieder einmal einige Meter den Bahnsteig entlang, schaut auf sein Telefon, hält es an sein Ohr, kommt wieder zu mir zurück, fragt, ob ich etwas Neues in Erfahrung bringen konnte. Ich sage: Ich glaube, für Frankreich wurde gerade der Ausnahmezustand erklärt. Oh Gott, antwortet der junge Mann, was ist nur geschehen! Er steht ganz still vor mir, schaut mich an. Wir kennen uns eigentlich nicht sehr gut. Fünf oder sechs Minuten Zeit sind vergangen, seit der junge Mann fragte, ob ich Nachrichten lese, die von der Stadt Paris erzählen. Plötzlich klingelt sein Telefon. – stop
kurz vor mitternacht
sierra : 23.55 — In U‑Bahnen reisend immer wieder der Eindruck, Menschen würden mittels ihrer raschelnden Zeitungen zueinander sprechen. Eine Weile ist Ruhe, aber dann blättert irgendjemand eine Seite um, und schon knistert der Wagon von Reihe zu Reihe weiter. Man möchte in diesen Momenten meinen, die Papiere selbst wären am Leben und würden die Lesenden bewegen. Einmal habe ich mir Zeitungspapiere von stoffartiger Substanz vorgestellt, Papiere von Seide zum Beispiel, so dass keinerlei Geräusch von ihnen ausgehen würde sobald man sie berührte. Eine eigentümliche Stille, Geräuschlosigkeit, Leere, ein Sog, eine Wahrnehmung gegen jede Erfahrung. — Kurz vor Mitternacht. Ich habe diese kleine Geschichte gerade eben Schnecke Esmeralda vorgelesen, um sie zu wecken. Sie war in der Abenddämmerung über meinen Küchentisch gekrochen, hatte sich auf eine Banane gesetzt und war dann vermutlich eingeschlafen, während ich eine Debatte des griechischen Parlaments via Livestream beobachtete. Dort auf dem Bildschirm aufgeregte Menschen, die in einer wohlklingenden Sprache formulierten, die ich nicht verstehe, aber sofort erkenne, sobald ich sie vernehme. Einmal meinte ich, den Namen Willy Brandts gehört zu haben. — stop. Wolkenloser Himmel. stop. Nichts weiter. — stop
von der sekundenzeit
delta : 0.02 — Wie jetzt der Sommer näherkommt, ändert sich alles. Im Winter erfrieren Menschen, im Sommer fallen sie versehentlich aus Fenstern, die sie zum Vergnügen geöffnet haben. Bernhardt L., der mich besuchte, erzählte von seinen Erfahrungen, die er mit Todesursachen betrunkener Menschen sammelte. Es war ein angenehmer Abend. Eigentlich wollten wir nicht von traurigen Geschichten sprechen, aber dann wurde es doch irgendwie wieder einmal ernst. Wir saßen auf Gartenstühlen vor dem Fenster zu den Bäumen, die in den Himmel staubten, und beobachteten meine Schnecke Esmeralda, die sich der frischen Abendluft näherte. Sie kroch zielstrebig über den Boden hin, dann die Wand hinauf und ließ sich auf dem Fensterbrett draußen nieder. Wenn sich Schnecken setzen, bewegen sie sich kaum noch, ihr feuchter Körper scheint indessen etwas breiter zu werden. Mein Bekannter Bernhardt L. war sehr interessiert an der Existenz Esmeraldas in meiner Wohnung, er hatte sie noch nie zuvor gesehen und auch noch nicht von ihr gehört. Er wollte wissen, woher sie gekommen war, wie alt sie wohl sei, und warum sie diesen sehr schönen Namen Esmeralda von mir erhalten habe. Ich erinnere mich, wie er mit einem Finger zärtlich über Esmeraldas Häuschen strich, während er von einem unglücklichen Mann erzählte, der ein Zeitwirtschaftler von Beruf gewesen sein soll. Dieser Mann habe Minuten gezählt, Sekunden, in der Beobachtung arbeitender Menschen in einer Fabrik. Seine Aufgabe sei gewesen, Zeiträume aufzuspüren, die durch Veränderungen in den Bewegungen der beobachteten Menschen eingespart werden könnten. In einem Brief, der sehr ausführlich sein Unglück notiert, habe er berichtet, dass es ihm zuletzt nicht möglich gewesen sei, eine Tasse Kaffee von der Küche in sein Wohnzimmer zu tragen, ohne darüber nachzudenken, ob es wirtschaftlich sei, mit nur einer Tasse Kaffee in der Hand die Räume zu wechseln, wenn es doch möglich wäre, zwei Tassen Kaffee zur gleichen Zeit zu transportieren. — stop