india : 22.07 UTC — Vor wenigen Tagen ist im hohen Alter ein Doktor gestorben, der mein Doktor gewesen war, als ich noch in kurzen Hosen im Sommer herumspazierte. Mein Knie, eine Wunde, war längt versorgt, da hatte ich noch den Duft des Jods in der Nase. Der Doktor kam manchmal zu mir nach Hause, wenn ich Fieber hatte. Er führte eine Ledertasche mit sich, in der seine Instrumente klimperten. Ich erinnere mich an die Kühle eines Schallbechers, wenn er nach Geräuschen in mir suchte. Sein Kopf war in diesen Momenten des Lauschens nah, kaum noch Haar, sehr fein und grau. Seine sanfte Stimme. Leise. Einmal war er als Privatmann zu Besuch gekommen. Anstatt eines Blumenstraußes für Mutter, führte er eine Glühsparlampe mit sich, die er in der Art und Weise überreichte, als wäre sie tatsächlich eine frische Blume, ein blühender Zierlauch, sagen wir, oder eine Kugeldistel. — stop
Schlagwort: ente
taubenstrasse 8 / 508
alpha : 14.15 UTC — Mein Nachbar wohnt im 508. Stock in der Taubenstrasse 6. Indessen ich selbst ein Apartment der Taubenstrasse 8 im 508 Stock bewohne. Es ist Dezember, Weihnachten. Der Strom ist ausgefallen. Wenn ich nun ans Fenster trete sehe ich Joshua, wie er seinerseits mich betrachtet, der wiederum ihn betrachtet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir entfernt. Die Fenster lassen sich in dieser Höhe nicht öffnen. Und ich sehe, eine Wolke zieht vorüber, dass auch Joshua allein ist, weswegen ich auf einen Zettel in großen Buchstaben schreibe: Joshua, komm zu mir herüber, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt seinen Daumen. Er verschwindet im hinteren Teil seines Zimmers, der im Schatten liegt, kommt dann bald wieder zurück mit einer Flasche Hollunderbeerensaft in Händen. Er trägt bereits einen Mantel und einen Rucksack und eine Mütze und Handschuhe. Er schreibt auf einen Zettel: Ich komme! Warte auf mich! — Das Licht in Joshuas Wohnung geht aus. Und so sitze ich und warte. Ich kenne Joshua schon lange Zeit. Einmal haben wir uns auf der Strasse getroffen. Und jetzt ist Weihnachten. Schnee fällt. Und es ist ganz wunderbar still. — stop
giuseppi logan
marimba : 2.28 UTC — Ich lese in Dorothy Bakers Roman Young Man With A Horn. Plötzlich denke ich an Giuseppi Logan ( Hört ihm zu! ) dem ich im Jahr 2010 im Thompkins Square Park persönlich begegnet sein könnte. Viele Tage sind vergangen, seit ich eine Geschichte gelesen habe, von der ich mich sagen hörte, sie sei eine Geschichte, die ich nie wieder vergessen werde, die Geschichte selbst und auch nicht, dass sie existiert, dass sie sich tatsächlich ereignete, eine Geschichte, an die ich mich erinnern sollte selbst dann noch, wenn ich meinen Computer und seine Dateien, meine Notizbücher, meine Wohnung, meine Karteikarten während eines Erdbebens verlieren würde, alle Verzeichnisse, die ich studieren könnte, um auf jene Geschichte zu stoßen, wenn sie einmal nicht gegenwärtig sein würde. Diese Geschichte, ich erzähle eine kurze Fassung, handelt von Giuseppi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazzmusiker, ein Mann von dunkler Haut. Logan, so wird berichtet, atme Musik mit jeder Zelle seines Körpers in jeder Sekunde seines Lebens. In den 60er Jahren spielte er mit legendären Künstlern, nahm einige bedeutende Freejazzplatten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Drogen und war plötzlich verschwunden, manche seiner Freunde vermuteten, er sei gestorben, andere spekulierten, er könnte in einer psychiatrischen Anstalt vergessen worden sein. Ein Mann wie ein Blackout. Über 30 Jahre war Giuseppi Logan verschollen, als man ihn vor wenigen Jahren in einem New Yorker Park lebend entdeckte. Er existierte damals noch ohne Obdach, man erkannte ihn an seinem wilden Spiel auf einem zerbeulten Saxophon, einzigartige Geräusche. Freunde besorgten ihm eine Wohnung, eine Platte wurde aufgenommen, und so kann man ihn nun wieder spielen hören, live, weil man weiß, wo er sich befindet von Zeit zu Zeit, im Tompkins Square Park nämlich zu Manhattan. Es ist ein kleines Wunder, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wortboje Giuseppi Logan in ein Verzeichnis schreiben, das ich auswendig lernen werde, um alle die Geschichten wiederfinden zu können, die ich nicht vergessen will. — Heute las ich, dass der alte Mann im April 2020 im Lawrence Nursing Care Center in Far Rockaway, Queens während der COVID-19-Pandemie in New York City an den Folgen einer SARS-CoV-2-Infektion gestorben ist. — stop
Fotographie Jon Rawlinson
„Niemand klang in einem Ensemble so wie
Giuseppi [Logan]. Bei seinem Spiel hielt er seinen Kopf weit zurück;
dazu erklärte er: „Auf diese Art ist meine Kehle weit offen“,
so konnte er mehr Luft einziehen. Er spielte in einem
Umfang von vier Oktaven auf dem Altsaxophon. Was
ihn als Improvisator von anderen unterschied,
war die Art, wie er seine Noten platzierte
und damit einen bestimmten Klang schuf,
dem die anderen der Gruppe dann folgten.
Seine Stücke waren aus diesem Grund sehr
attraktiv; Giuseppi hatte seine ganz eigenen
Ansichten über Musik …“ – Bill Dixon
kolibri m5
india : 0.14 UTC — Es ist tatsächlich 0 Uhr und 14 Minuten, kurz nach Mitternacht. Ich habe lange Zeit gewartet, nämlich von 22 Uhr des vergangenen Tages an bis zu dieser Minute, um folgenden Text zu wiederholen, das heisst, ich werde Zeichen für Zeichen notieren, was ich vor Jahren bereits zur selben Stunde aufgeschrieben habe. Hört Ihr das Geräusch der Tastatur? Es ist kurz nach Mitternacht. Eine Drohne in der Gestalt eines Kolibris stationiert seit wenigen Minuten in einem Abstand von 1.5 Metern vor mir in der Luft. Sie scheint zu beobachten, wie ich gerade über sie notiere. Kurz zuvor war das kleine Wesen in meinem Zimmer herumgeflogen, hatte meinen Kakteentisch untersucht, meine Bücher, das Laternensignallicht, welches ich vom Großvater erbte, auch meine Papiere, Fotografien, Schreibwerkzeuge. Ruckartig verlagerte das Lufttier seine Position von Gegenstand zu Gegenstand. Ich glaube, in den Momenten des Stillstandes wurden Aufnahmen gefertigt, genau in der Art und Weise wie in diesem Moment eine Aufnahme von mir selbst, indem ich auf dem Arbeitssofa sitze und so tue als ginge mich das alles gar nichts an. Von der Drohne, die ich versucht bin, tatsächlich für einen Kolibrivogel zu halten, war zunächst nichts zu hören gewesen, keinerlei Geräusch, aber nun, seit ein oder zwei Minuten, meine ich einen leise pfeifenden Luftzug zu vernehmen, der von den nicht sichtbaren Flügeln des Luftwesens auszugehen scheint. Diese Flügel bewegen sich so schnell, dass sie nur als eine Unschärfe der Luft wahrzunehmen sind. Ein weiteres, ein helles feines Geräusch ist zu hören, ein Wispern. Dieses Wispern scheint von dem Schnabel des Kolibris her zu kommen. Ich habe diesen Schnabel zunächst für eine Attrappe gehalten, jetzt aber halte ich für möglich, dass der Drohnenvogel doch mit diesem Schnabel spricht, also vielleicht mit mir, der ich auf dem Sofa sitze und so tue, als ginge mich das alles gar nichts an. Ich kann natürlich nicht sagen, was er mitteilen möchte. Es ist denkbar, dass vielleicht eine entfernte Stimme aus dem Schnabel zu mir spricht, ja, das ist denkbar. Nun warten wir einmal ab, ob der kleine sprechende Vogel sich mir nähern und vielleicht in eines meiner Ohren sprechen wird. — stop
teelicht
echo : 20.18 UTC — Einmal, vor zwei Jahren, war ich im Traum an einem späten Sommerabend auf einem Friedhof gewesen. Dämmerung, Lichter schwebten in der Luft. Sie kamen vom Westen her, verteilten sich über den Kronen der Bäume, um kurz darauf langsam abzusteigen. Ich sass am Grab meiner Eltern, beobachtete aus nächster Nähe wie sich eine Drohne näherte. Über einem Plateau von Handtellergröße hielt sie inne. Die Drohne summte sehr schön. Bald öffnete sich ihr transparenter Leib, und sie setze behutsam mittels einer Greifhand von blitzendem Metall ein Teelicht ab. Kurz darauf schloss sich ihr Bauch und sie flog sehr schnell davon. — stop
ai : BELARUS
MENSCH IN GEFAHR : “Viachaslau Rahashchuks Gesundheitszustand ist so schlecht, dass er umgehend in ein Krankenhaus eingewiesen werden müsste. Doch stattdessen befindet er sich in der Untersuchungshaftanstalt Nr. 6. Seine Verletzungen sind auf Folter und andere Misshandlungen zurückzuführen, denen er in der Haft ausgesetzt war. / Der Taxifahrer wurde am Abend des 10. August in Pinsk von mindestens fünf Polizeibeamt_innen gewaltsam und willkürlich festgenommen, als er mit seiner Schwester und ihrem zwölfjährigen Sohn spazieren ging. Am Vortag waren die Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahl offiziell bekanntgegeben worden und nach massiven Betrugsvorwürfen hielten die Proteste in der Stadt noch an. Viachaslau Rahashchuk hat keine Straftat begangen und seine Festnahme und nachfolgende Inhaftierung sind willkürlich. In der Zwischenzeit wurde er nach Paragraf 293 Teil 1 des belarussischen Strafgesetzbuches angeklagt, der im Zusammenhang mit dem Vorwurf von “Massenunruhen” steht. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft. / Am 11. August nahm einer der damaligen Mithäftlinge von Viachaslau Rahashchuk Kontakt zu dessen Mutter auf und teilte ihr mit, dass ihr Sohn von Gefängniswärtern schwer misshandelt worden sei. Er habe ein Hämatom hinter dem Ohr, drei Schnittwunden am Kopf und Prellungen an der gesamten Wirbelsäule. Außerdem seien die Gefängniskorridore voller Blutlachen von all denjenigen, die geschlagen wurden. / Seitdem hat Viachaslau Rahashchuk ein permanentes Klingeln in seinem Kopf. Seine Angehörigen baten einen Gefängnismediziner darum, ihm eine Überweisung zur Computer-Tomografie auszustellen. Dieser meinte jedoch nur, dass es Viachaslau Rahashchuk gut gehe und dass die Familie weiterhin Medikamente zur Linderung der Symptome schicken solle. Glaubwürdigen und aktuellen Berichten zufolge hat Viachaslau Rahashchuk wiederholt für bis zu 20 Minuten das Bewusstsein verloren. Außerdem hat er auf der linken Seite des Brustkorbs einen Tumor entwickelt. Die wiederholten Bitten seiner Familie, ihn einer unabhängigen ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, wurden allesamt abgelehnt. Viachaslau Rahashchuk wird die dringend benötigte medizinische Behandlung verweigert.”- Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 8.2.2021 unter > ai : urgent action
aerosole
echo : 8.01 UTC — Stunden der Abwesenheit im Schlaf, die wie Sekunden erscheinen. Nicht deshalb schlafen, um nicht wach zu sein, sondern deshalb schlafen, weil das Schlafen ein angenehmes Gefühl im Erwachen hinterlässt, in den Momenten des Halbschlafes, die in ihrer zeitlichen Ausdehnung nicht bestimmbar sind. — Noch ist früher Morgen. Zwirbelte frischen Koriander mit den Fingerspitzen, Duft, der den Raum bis zur Decke hin füllt. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 28, Luftfahrt — 1, Automobile — 38 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 22, 19. Jahrhundert – 17, 20. Jahrhundert – 521, 21. Jahrhundert — 12211 ], Trolleykoffer [ blau : 8, rot : 32, gelb : 55, schwarz : 1002 ], Seenotrettungswesten [ 22309 ], physical memories [ bespielt — 211, gelöscht : 877 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 3558 ], 7 hölzerne Damenhandtaschen [ Baujahr 1968 ], Brummkreisel : 58, Öle [ 1.56 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 18, Kniegelenke – 17, Hüftkugeln – 453, Brillen – 1588 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 112, Größen 38 — 45 : 12 ], Plastiksandalen [ 345 ], Reisedokumente [ 128 ], Kühlschränke [ 7 ], Telefone [ 134 ], Stethoskope [ 116 ], Puppenköpfe [ 28 ] Masken [ 358 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 2, mit Taucher – 18 ], Engelszungen [ 33568 ] | stop |
poetik der drohnen
marimba : 3.28 UTC – Wieder einmal die Frage drängend, ob vielleicht eine Poetik gutmütiger Drohnen denkbar ist? Das sind, stelle ich mir vor, freundliche Wesen, unbewaffnet, leise, flink, von der Größe der Taubenschwänzchen. Sie verfügen, wenn möglich, über Atomherzen, begleiten Menschen rund um die Uhr, immer nur eine Person, verzeichnen das Leben dieser Person, ihre Routen, Gewohnheiten, Abenteuer, filmen und schreiben in menschlicher Sprache. 5.12 UTC : Louis träumt. Going to sleep. — stop
von brillen
tango : 0.25 UTC — In einer agentenbasierten Simulation des Infektionsverlaufes einer Sars-Cov‑2 Pandemie scheint zwischen einem Agenten ohne und einem Agenten mit Brille, ein grundsätzlicher Unterschied zu bestehen. Brillen auf Nasen schützen Augen vor Händen, die infektiös sein können. Von nun an werde im Dschungel der Stadt eine Brille tragen. — stop