kilimandscharo : 18.15 — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, aber eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — Das Radio erzählt an diesem warmen Tag im Mai von einer alten Dame, die in Mariupol auf offener Straße von einem Scharfschützen erschossen worden sein soll. — stop
Schlagwort: spannung
amplitude
sierra : 8.12 — Vergangene Nacht, eine Wiederholung, habe ich sieben Stunden Schlaf aufgezeichnet. Kaum richtig wach, lade ich die Datei in mein Tonbearbeitungsprogramm. Was ist zu hören, was hat sich ereignet? Gegen 1 Uhr kommt meine Nachbarin nach Hause, sie schlägt die Tür zu, heftige Amplitude. Gegen 2 Uhr der Abdruck einer Polizeisirene, zweifach, in einem Abstand von Minuten. Immer wieder das Rascheln der Bettdecke. Drei Male scheine ich spaziert zu sein. Gegen 5 Uhr erzähle ich eine Geschichte. Ich höre meine Stimme. Ich erzähle vom Fliegen und weiteres, unverständlich. — stop
rose No 2
india : 22.58 UTC — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete einmal ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — stop
pong
alpha : 20.02 — Kaum eine halbe Stunde ist vergangen, seit ich den Wunsch verspürte, mich zu beruhigen. Das war vor allem deshalb gewesen, weil ich meinen Puls in den Ohren schlagen hörte. So sehr hatte ich mich aufgeregt über einen kleinen Text, dem ich auf Position Twitter begegnet war, dass ich kaum noch denken konnte. Ich dachte nur das eine: Du bist wütend, Louis! Ich setzte mich also auf einen Stuhl und konzentrierte mich auf die Erfindung eines Wortes. Das half, das war schon immer so gewesen. Einige Wörter, die ich bislang nicht kannte, also entdeckte, sind Geburten seelischer Spannung. Auch diesmal war bald Ruhe eingekehrt, nachdem ich das Wort Zikadenpauke formulierte. Vermutlich waren meine Ohrgeräusche unmittelbar für das Wort verantwortlich. Aber das ist im Grunde nicht wesentlich. Das Wort ist entdeckt und kann nun von Suchmaschinen gefunden, festgehalten und weitergegeben werden. — stop
minutenminiatur : schlaflos
nordpol : 8.16 UTC — Um kurz nach sechs Uhr in der Früh berichtet Katharina in einem Laden unter dem Flughafenterminal 1 vor einer Kasse stehend, sie fliege nun seit bald zwei Jahren Langstrecke nach New York und wieder zurück. Eine anstrengende Pendelbewegung, gerade eben vor einer halben Stunde erst sei sie gelandet, sie liebe die Beobachtung des Sonnenlichts, das in großer Höhe über dem Atlantik während eines Nachtfluges zurück nach Europa im orangefarbenen Zwielicht stets sichtbar am Horizont verweile. An diesem Morgen ist Katharina sehr aufgeregt, sie habe, sagt sie, in den vergangenen zwei Jahren die Stadt New York selbst nie betreten, gestern aber, vor wenigen Stunden, mit einer Kollegin, mit Muriel, vom Flughafen John F. Kennedy aus ein Taxi genommen, um über die Williamsburg Bridge zum ersten Mal in ihrem Leben nach Manhattan zu fahren, drei Stunden Zeit. Sie seien am Times Square gewesen, vor der New York Public Library, im Grand Central Terminal und im Central Park, noch immer spüre sie Spannung, vermutlich könne sie nicht schlafen. — stop
1:16:15
echo : 0.08 — Auf dem Kapitol zu Washington berichtet ein pakistanischer Bürger, Überlebender eines Drohnenangriffs, im Beisein seiner Kinder Abgeordneten des amerikanischen Kongresses: Ich mag keine blauen Himmel mehr. Graue Himmel sind mir lieber. Bei grauem Himmel fliegen die Drohnen nicht. Für kurze Zeit lassen die Angst und die Anspannung nach. Klart der Himmel auf, kehren die Drohnen zurück und mit ihnen die Angst. Wenige Minuten später sind in dem norwegischen Dokumentarfilm Drone Kinder zu sehen, die mit Steinschleudern gegen den Himmel schiessen. Auf Flachdächern eines Dorfes werden überlebensgroße Porträts von Opfern des Luftkrieges ausgelegt. Der Versuch eines Gespräches, wie mir scheint, mit in der Ferne operierenden Piloten der Drohnenmaschinen am Himmel, Klage, Bitte, Mahnung. Ist das eine Nachricht? — stop
rose
sierra : 18.15 — In einem schattigen Laden nahe der Roosevelt Island Tramway Basisstation West wartete ein alter Mann hinter einem Tresen. Er war vermutlich amerikanischer Staatsbürger, aber eher chinesischen Ursprungs. Als ich von dem kleinen Park her, dessen Lindenbäume Kühle spendeten, in den Laden trat, verbeugte sich der Mann, grüsste, er kannte mich bereits, wusste, dass ich mich für Schnecken interessiere, für Wasserschnecken präzise, auch für wandernde Seeanemonenbäume, und für Pralinen, die unter der Wasseroberfläche, also im Wasser, hübsch anzusehen sind, schwebende Versuchungen, ohne sich je von selbst aufzulösen. An diesem heißen Sommerabend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzählte dem alten Mann, ich würde nach einem besonderen Geschenk suchen für ein Kiemenmädchen namens Rose. Sie sei zehn Jahre alt und nicht sehr glücklich, da sie schon lange Zeit den Wunsch verspürte, wie andere Kinder ihres Alters zur Schule zu gehen, leibhaftig am Unterricht teilzunehmen, nicht über einen Bildschirm mit einem fernen Klassenraum verbunden. Ich glaube, ich war genau zu dem richtigen Zeitpunkt in den Laden gekommen, denn der alte, chinesisch wirkende Mann, freute sich. Er machte einen hellen, pfeifenden Ton, verschwand in seinen Magazinen, um kurz darauf eine Reihe von Spieldosen auf den Tresen abzustellen. Das waren Walzen- und Lochplattenspieldosen mit Kurbelwerken, die der Ladung einer Federspannung dienten. Vor einer Stunde geliefert, sagte der alte Mann, sie machen schauerlich schöne Geräusche im Wasser! Man könne, setzte er hinzu, sofern man sich in dem selben Wasser der Spieldosen befände, die feinen Stöße ihrer mechanischen Werke überall auf dem Körper spüren. Bald legte er eine der Dosen in ein Aquarium ab, in welchem Zwergseerosen siedelten. Kurz darauf fuhr ich mit der Tram nach Roosevelt Island rüber. Das Musikwerk, Benny Goodman, das ich für Rose erstanden hatte, war in das Gehäuse einer Jakobsmuschel versenkt. Die Schnecke lebte, weswegen ich tropfte, weil der Beutel, in dem ich Roses Geschenk transportierte, über eine undichte Stelle verfügte. Gegen Mitternacht, ich war gerade eingeschlafen, öffnete tief in meinem rechten Ohr knisternd eine Zwergseerose ihre Blüte. — stop
karawane
~ : malcolm
to : louis
subject : KARAWANE
date : nov 6 12 0.30 a.m.
Wir sollten vielleicht eines der Rattenungetüme fangen, die den Central Park seit der großen Flut bevölkern. In Herden lungern sie unter Bäumen im Feuerlaub, unzählige riesige Tiere, pfeifende Sprache, weithin zu hören, sehr helle Töne. Eine ihrer Karawanen bewegte sich vor wenigen Stunden noch Höhe 61. Straße über ein Baseballfeld, langsam, ein unheimlicher Anblick. Vermutlich deshalb verharrt Frankie in den Kronen der Bäume, aber auch dort haben wir einzelne Rattentiere gesichtet. Es ist denkbar, dass sie sich nicht wieder zurück wagen werden in den Untergrund. In einem Haus an der Lexington Avenue sollen Ratten in Appartements des 32. Stockwerkes eingedrungen sein. Man stelle sich das einmal vor, man wird diesen Anblick nie wieder vergessen, wo eine Ratte gewesen ist, wird sie fortan immer sein, wenn nicht persönlich, dann als Möglichkeit, als eine Unruhe der Gedanken, der Träume. Sie steigen in den Fallrohren aufwärts. — Es ist schon lange dunkel geworden, der 6. November angebrochen. Leichter Regen, obwohl der Himmel wolkenlos scheint. Seltsame Spannung liegt in der Luft. – Ihr Malcolm / codewort : syracus
empfangen am
06.11.2012
1785 zeichen
stanislav lem : ein langsamer brief
ulysses : 5.05 — In der Nacht zum 17. April 2010 im Schlaf eine interessante Erfahrung der Zeit. Ich hatte mir vorgenommen, eine Zugfahrt nach Montauk zu träumen. Stattdessen träumte ich, Stanislav Lem habe mir einen Brief geschrieben. Ein geheimnisvolles Büro übermittelte mir den ersten, und zu diesem Zeitpunkt gleichwohl einzigen Buchstaben einer Nachricht des Schriftstellers an mich mit dem Hinweis, ich müsse von diesem Zeitpunkt an geduldig warten, da die Zeit der jenseits Lebenden sehr viel langsamer vergehen würde, als die Zeit der diesseits existierenden Menschen. Mit einem weiteren Zeichen, einem zweiten Zeichen des Briefes, sei im Juni, und zwar doch im Juni des laufenden Jahres zu rechnen. Ich wachte damals auf und war fröhlich und machte mich unverzüglich an die Beobachtung eines Nachrichtenschattens, den fliegende vulkanische Mikrogebirge über Europa erzeugten. Der übertragene Buchtstabe, den mir Stanislav Lem damals übermittelt hatte, war ein l gewesen. Als im Juni der zweite Buchstabe des Briefes übertragen wurde, es handelte sich um ein i, wurde deutlich, weshalb Geduld von mir erwartet wurde, da sich ein Wort deutlich bestimmte, das mich im Jahre 2011, und zwar im November vollständig erreicht haben würde. Ein gewisser Moment von Spannung war zunächst wieder im Januar des Jahres 2012 zu spüren gewesen, da ein vollständig neues Wort mit einem ersten Zeichen aufgenommen war. Ein großgeschriebenes l, das zweite bereits, traf ein, ihm folgte im April ein o, sowie im Juli der Buchstabe u. Zu diesem Zeitpunkt also ist noch keinerlei Anlass zur Aufregung gegeben. Ich werde bei Gelegenheit Weiteres berichten. – stop
westbengalen luftpostbrief
ginkgo : 2.25 — Gestern habe ich einen seltsamen Brief von einem Freund erhalten, der sich gerade in Indien befindet. Der Brief war von seiner äußeren Gestalt her ein Standardluftpostbrief, fühlte sich allerdings weich an, als würde ein dünnes Tuch in ihm enthalten sein. Er war zudem etwas schwerer als üblich. Als ich ihn öffnete fand ich ein handschriftliches Schreiben vor, eine Fotografie und einen weiteren Brief von kleinerem Format, mit einer Art Ventil in seiner Mitte. Mein Freund notierte am 25. Juni mit einem Bleistift: Lieber Louis, seit zwei Wochen befinde ich mich in Westbengalen nahe Sonada in einem kleinen Haus, das vollständig von Holz gemacht ist. Ich gehe hauptsächlich spazieren und wenn ich einmal nicht spazieren gehe, fahre ich mit dem Zug zwischen Jalpaiguri und Darjeeling hin und her. Eine wunderbare Zeit. Ich kenne inzwischen alle Zugführer persönlich und so darf ich bei Dampfbespannung vorne auf der Lokomotive reisen. Du siehst mich anbei auf der Fotografie vor dem Kessel stehen, ja, ich bin unter den drei kleinen Männern mit den Rußgesichtern der in der Mitte. Ich habe Dir, lieber Louis, etwas indische Eisenbahnluft eingefangen. Sie ruht in den Umschlag gefüllt, der vermutlich vor Dir auf dem Tisch liegt. Es wäre vielleicht am besten, wenn Du einen Strohhalm verwenden würdest, den Du mit dem Ventil verbindest, um dann einen tiefen Atemzug durch ein Nasenloch zu nehmen. Allerbeste Grüße Dein L. — Es ist jetzt 2 Uhr und 30 Minuten mitteleuropäischer Sommerszeit. John Coltrane LIVE: The Green Dolphin Street. — stop