Aus der Wörtersammlung: april

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ai : JORDANIEN

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MENSCH IN GEFAHR: „Dem syri­schen Flücht­ling Ati­ya Moham­mad Abu Salem droht unmit­tel­bar die Abschie­bung aus Jor­da­ni­en. Er lebt seit zwölf Jah­ren in Jor­da­ni­en und ist Jour­na­lis­mus­stu­dent und frei­be­ruf­li­cher Videofilmer./ Am 9. April wur­de Ati­ya Moham­mad Abu Salem in al-Rabieh in Amman von Sicher­heits­kräf­ten fest­ge­nom­men, als er eine pro­pa­läs­ti­nen­si­sche Pro­test­kund­ge­bung in der Nähe der israe­li­schen Bot­schaft fil­men woll­te. Die Sicher­heits­kräf­te infor­mier­ten ihn nicht über die Grün­de für sei­ne Fest­nah­me und ver­hör­ten ihn ohne einen Rechts­bei­stand. Nach Anga­ben sei­nes Rechts­bei­stands droh­ten die Sicher­heits­kräf­te Ati­ya Moham­mad Abu Salem mit Abschie­bung und zwan­gen ihn, sein Tele­fon zur Über­prü­fung zu ent­sper­ren. Er wur­de weder der Jus­tiz über­ge­ben noch wegen einer Straf­tat ange­klagt. Den­noch erhielt sein Rechts­bei­stand die Infor­ma­ti­on, dass ein Abschie­bungs­be­fehl für sei­nen Man­dan­ten aus­ge­stellt wor­den sei. / Eine Rechts­hil­fe­or­ga­ni­sa­ti­on hat im Namen des Flücht­lings vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt Rechts­mit­tel ein­ge­legt. In Syri­en wäre Ati­ya Moham­mad Abu Salem nicht sicher. Amnes­ty Inter­na­tio­nal und ande­re Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen haben über die Jah­re hin­weg durch­ge­hend schwe­re Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gegen Flücht­lin­ge doku­men­tiert, die rechts­wid­rig nach Syri­en abge­scho­ben wur­den. So sind die syri­schen Sicher­heits­kräf­te u. a. für will­kür­li­che Fest­nah­men, Fol­te­run­gen und Ver­schwin­den­las­sen ver­ant­wort­lich. Gemäß den Bestim­mun­gen des Völ­ker­rechts müs­sen die jor­da­ni­schen Behör­den den Abschie­bungs­be­fehl gegen Ati­ya Moham­mad Abu Salem unver­züg­lich auf­he­ben und ihn frei­las­sen, sofern er nicht umge­hend einer inter­na­tio­nal aner­kann­ten Straf­tat ange­klagt wird. Soll­te er ange­klagt wer­den, so muss dies vor einem ordent­li­chen Gericht und unter Ein­hal­tung sei­ner Ver­fah­rens­rech­te gesche­hen.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter > ai : urgent action

 

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von schildkröten : sars cov 2

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gink­go : 15.08 UTC — Das gedan­ken­lo­se Spa­zie­ren in der Stadt scheint unmög­lich gewor­den. Es ist März oder April. Das Jahr 2020. Ner­vö­se Bli­cke eilen weit vor­aus. Ist die Stra­ße frei, ist Platz, kann ich pas­sie­ren, ohne einer Per­son nahe­zu­kom­men? Das Distan­zie­ren brennt sich in den Kopf. In den ers­ten Tagen der Ver­ord­nung zu Abstand waren alle noch ernst gewe­sen, jetzt da und dort immer wie­der ein Lächeln, ein lei­ses Dan­ke­schön, wenn man war­tet, um Raum zu spen­den. In einer zwei­fach um Ecken gefal­te­ten Schlan­ge ste­hen Men­schen, sie war­ten in ein Post­amt ein­tre­ten zu kön­nen. Wann habe ich in mei­nem Leben je so ver­harrt, gedul­dig, demü­tig, ent­spannt? Rot­kopf­schild­krö­ten hocken an Strän­den der ver­bo­te­nen Park­se­en, ihre ver­wit­ter­ten Kör­per sind voll­stän­dig aus dem Was­ser gekom­men, als wür­den sie nach Men­schen jen­seits der Zäu­ne luren. Ein wun­der­ba­rer Früh­ling. Gold­far­be­ne Stäu­be schwe­ben durch die Luft, die so klar ist, wie noch nie seit ich den­ken kann, auch Spin­nen an ihrer Sei­de, und all das Unsicht­ba­re, das ich ein und wie­der aus­at­me. An das Unsicht­ba­re den­ken, das ist neu, dass das Nicht­sicht­ba­re Gedan­ken beherrscht, auch die Träu­me. Die Lit­faß­säu­len mei­ner Stra­ße sind weiß wie leer. Eine Foto­gra­fie auf einer Zei­tung vor dem Kiosk zeigt Men­schen, die von Appa­ra­tu­ren umge­ben unbe­klei­det auf dem Bauch lie­gen. Im Spiel­film abends hocken Men­schen im Kaf­fee­haus Sei­te und Sei­te und gegen­über, ste­cken ihre Köp­fe zusam­men und debat­tie­ren, selt­sam, gefähr­lich. Ich woll­te etwas sagen. — stop
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ai : RUSSISCHE FÖDERATION

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MENSCH IN GEFAHR: „Wla­di­mir Kara-Mur­sa wur­de am 11. April 2022 in der Nähe sei­ner Woh­nung in Mos­kau fest­ge­nom­men und ein­zig auf­grund sei­nes fried­li­chen poli­ti­schen Akti­vis­mus und sei­ner Kri­tik an den rus­si­schen Behör­den vor Gericht gestellt. Grund­la­ge für die Vor­wür­fe sind Vor­trä­ge, in denen er den rus­si­schen Ein­marsch in der Ukrai­ne kri­ti­siert hat­te, sowie sei­ne Ver­bin­dung zu der oppo­si­tio­nel­len Grup­pie­rung Open Rus­sia. Am 17. April wur­de Wla­di­mir Kara-Mur­sa schul­dig gespro­chen und zu 25 Jah­ren Gefäng­nis ver­ur­teilt. Das Recht auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung wird sowohl durch das Völ­ker­recht als auch die rus­si­sche Ver­fas­sung garan­tiert. Die Wahr­neh­mung die­ses Rechts darf daher nicht mit Repres­sa­li­en oder gar lan­gen Haft­stra­fen ein­her­ge­hen. Wla­di­mir Kara-Mur­sa lei­det Berich­ten zufol­ge in bei­den Füßen an Poly­neu­ro­pa­thie, was gemäß rus­si­schem Recht eigent­lich bedeu­tet, dass er nicht inhaf­tiert wer­den darf. Auf­grund sei­ner lan­gen Haft­stra­fe besteht Sor­ge um sei­nen Gesund­heits­zu­stand.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter > ai : urgent action

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ansichten

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echo : 15.07 UTC — Ein Schlacht­schiff war am 14. April des Jah­res 2022 im Schwar­zen Meer gesun­ken. Man erzähl­te, dem Schiff wur­de Gewalt zuge­fügt. Da ein iden­ti­sches Schiff nicht aus­rei­chend schnell her­ge­stellt wer­den konn­te, muss­te das Ver­schwin­den des Schif­fes nach etwas Bedenk­zeit offi­zi­ell bestä­tigt wer­den. In die­ser Zeit des Nach­den­kens wur­de ein Sturm­tief erfun­den, hef­ti­ge Win­de, die so lan­ge Zeit mit dem Schiff ver­han­delt haben sol­len, bis es ihren Anwei­sun­gen folg­te. An dem­sel­ben Tag wur­de eine ukrai­ni­sche Scharf­schüt­zin von hohem Anse­hen erschos­sen. Ein toter Kör­per lag zum Beweis in einem Gra­ben in der Land­schaft. Mil­lio­nen Augen­paa­re betrach­te­ten das unge­schütz­te Gesicht der Frau. Ein sol­cher Tag im April, ein sol­cher Tag. — stop

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von den vasentieren

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india : 3.15 UTC — Tage­lang hat­te ich über­legt, ob es sinn­voll wäre, über die Exis­tenz der Vasen­tie­re wei­ter nach­zu­den­ken. In die­sem Dis­kurs mit mir selbst, hat­ten mei­ne Vor­stel­lun­gen über das Wesen und die Gestalt der Vasen­tie­re, indes­sen wei­ter an Prä­zi­si­on zuge­nom­men, ohne dass ich das zunächst bemerk­te. Ein­mal war­te­te ich an einer Ampel unter einer Kas­ta­nie. Es war frü­her Abend gewe­sen und ich nutz­te die­se Situa­ti­on des Inne­hal­tens, um mir vor­zu­stel­len, wie es sein könn­te, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigent­lich nicht not­wen­dig gewe­sen war, Vasen­tie­re dür­fen atmen, Vasen­tie­re müs­sen atmen, und ver­such­te mich so wenig wie mög­lich zu bewe­gen, eine inne­re fes­te Struk­tur aus­zu­bil­den, sagen wir, eben eine Art Behäl­ter zu sein. Das ist gut gelun­gen, auch nach­dem ich von einer Kas­ta­nie auf den Kopf getrof­fen wor­den war, beweg­te ich mich nicht. In die­sem Moment wur­de statt­des­sen deut­lich, dass Vasen­tie­re nie­mals flüch­ten, weil sie nicht flüch­ten wol­len und weil sie nicht flüch­ten kön­nen, ihnen feh­len Füße und Bei­ne. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer orga­ni­schen Kon­struk­ti­on her begabt, For­men nach­zu­ah­men, die geeig­net sind, tie­fe­re Gewäs­ser in sich aus­zu­bil­den, das ist nicht ver­han­del­bar. Auch nicht, dass sie das Was­ser zur Ver­sor­gung der Pflan­zen, wel­chen sie Her­ber­ge bie­ten, aus der Luft ent­neh­men, sei sie noch so tro­cken. Mög­lich ist, dass Vasen­tie­re, die in der Lage sind, mit­tels ihrer Gedan­ken Bewe­gung zu for­mu­lie­ren, eher unglück­li­che Wesen sein wer­den, dar­an soll­te man unbe­dingt den­ken, ehe man sich an die Ver­wirk­li­chung der Vasen­tie­re machen wird. — Das Radio erzählt, hung­ri­ge Men­schen hät­ten im März wil­den Tau­ben nach­ge­stellt, auch im April sei man unter Lebens­ge­fahr auf Tau­ben­jagd gegan­gen. — stop

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zeisig

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echo : 0.28 — Neh­men wir ein­mal an, man wür­de einen Vogel von der Grö­ße eines Zei­sigs kon­stru­ie­ren, ein Wesen, wel­ches aus 1500 Ein­zel­tei­len bestehen wird, sagen wir aus Stre­ben von leich­tem Metall, einem höl­zer­nen Rumpf, Flü­gel von kost­ba­rem Tuch, Schrau­ben, Farb­schich­ten, Dioden, feins­ten Sei­len, das wäre eine sehr fei­ne Geschich­te, einen Bau­kas­ten­vo­gel ent­de­cken für Mäd­chen und Jun­gen, die nun in ihren Zim­mern sit­zen, um den Vogel­kör­per zu mon­tie­ren. Sie wer­den viel­leicht zwei oder drei Mona­te Zeit in ihren Zim­mern ver­brin­gen, kaum etwas wird noch von ihnen zu sehen sein, als das Licht, das bis spät in die Nacht ver­bo­te­ner­wei­se aus ihren Zim­mern dringt. Wie sie zuletzt ins Zen­trum ihrer Vögel, dort wo sie den Herz­ort ihrer Vögel ver­mu­ten, mit einer Pin­zet­te und zit­tern­den Hän­den eine Atom­bat­te­rie ver­pflan­zen, nicht grö­ßer als ein Reis­korn, und wie sich nun ihre Vögel mit sur­ren­den Flü­geln erhe­ben und aus den Fens­tern segeln zur gro­ßen Rei­se ein­mal um die Erd­ku­gel her­um. — Das Radio erzählt von einem jun­gen Mann, der in Mariu­pol in der Nacht zum 2. April ver­such­te, Insu­lin für sei­ne Mut­ter zu fin­den. Er kehr­te unver­sehrt in den Kel­ler zurück. Sei­ne Mut­ter war bereits gestor­ben. — stop

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ai : RUSSISCHE FÖDERATION

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MENSCH IN GEFAHR: „Am 11. April durch­such­te die Poli­zei die Woh­nung von Alek­san­dra Skoch­i­len­ko, nahm sie fest und ver­hör­te sie bis 3 Uhr des 12. April. Am 13. April ver­häng­te das Bezirks­ge­richt Vasi­le­ostrovs­ky in Sankt Peters­burg Unter­su­chungs­haft bis zum 1. Juni 2022 gegen sie. Es ist wahr­schein­lich, dass die Unter­su­chungs­haft ver­län­gert wird. / Alek­san­dra Skoch­i­len­ko lei­det an Zöli­a­kie, einer gene­ti­schen Glu­ten­in­to­le­ranz. Wenn sie glu­ten­hal­ti­ge Nah­rung zu sich nimmt, kann das den Beginn eines Organ­ver­sa­gens, Krebs oder Auto­im­mun­erkran­kun­gen ver­ur­sa­chen. Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat erfah­ren, dass Alek­san­dra Skoch­i­len­ko in der Unter­su­chungs­haft­ein­rich­tung kei­ne glu­ten­frei­en Nah­rungs­mit­tel erhält und ihrer Fami­lie nicht gestat­tet wird, ihr die­se zu schi­cken. / Alek­san­dra Skoch­i­len­ko ist eine Song­wri­te­rin und Künst­le­rin aus Sankt Peters­burg. Ihr wird vor­ge­wor­fen, Preis­schil­der in ört­li­chen Super­märk­ten durch Anti­kriegs­in­for­ma­tio­nen ersetzt zu haben, dar­un­ter Infor­ma­tio­nen über die Toten durch die Bom­bar­die­rung des Thea­ters von Mariu­pol. / Der Sankt Peters­bur­ge­rin wird die “öffent­li­che Ver­brei­tung wis­sent­lich fal­scher Infor­ma­tio­nen über den Ein­satz der Streit­kräf­te der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on und die Aus­übung der Befug­nis­se der staat­li­chen Orga­ne der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on” gemäß dem kürz­lich hin­zu­ge­füg­ten Para­gra­fen 207.3 Absatz 2 des Straf­ge­setz­buchs vor­ge­wor­fen. / Alek­san­dra Skoch­i­len­ko ist in der Kunst­sze­ne bekannt: Sie schreibt Lie­der, ver­fasst Comic-Bücher und Car­toons, orga­ni­siert Kon­zer­te und Jam­ses­si­ons. Außer­dem hat sie das bekann­te “Buch über Depres­sio­nen” geschrie­ben, das dazu bei­trägt, das Stig­ma psy­chi­scher Erkran­kun­gen zu ver­rin­gern. Das Buch ist äußerst beliebt. Es wur­de mehr­fach neu auf­ge­legt und in meh­re­re Spra­chen über­setzt und hat vie­len Men­schen inner­halb und außer­halb Russ­lands gehol­fen. Vie­le Vide­os und Aus­stel­lun­gen wur­den durch das Buch inspi­riert. / Am 20. April hieß es, dass sich Alek­san­dra Skoch­i­len­kos Gesund­heits­zu­stand durch das Feh­len glu­ten­frei­er Nah­rungs­mit­tel ver­schlech­tert habe. Am 21. April teil­te ihr Rechts­bei­stand Amnes­ty Inter­na­tio­nal mit, dass die Haft­an­stalt ihr schließ­lich erlaubt habe, ein Lebens­mit­tel­pa­ket ihrer Fami­lie zu erhal­ten, das ihrer glu­ten­frei­en Ernäh­rung entsprach./ Am 23. April wur­de sie von einer pro­vi­so­ri­schen Haft­an­stalt in ein Unter­su­chungs­ge­fäng­nis gebracht./ Nach einem Besuch bei Alek­san­dra Skoch­i­len­ko in der Unter­su­chungs­haft­an­stalt am 25. April berich­te­te einer der Rechts­bei­stän­de, dass sich ihr Gesund­heits­zu­stand ver­schlech­tert habe. Sie kann nichts essen, da sie nicht das für sie erfor­der­li­che glu­ten­freie Essen erhält und ihre Fami­lie ihr auch kein Essen schi­cken darf. Sie fühlt sich die meis­te Zeit über schwach. Sie erzähl­te auch, dass sie von den Wärter_innen der Haft­an­stalt und ihren Zellengenoss_innen unter Druck gesetzt wur­de.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen unter »> ai : urgent action

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radiotauben

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sier­ra : 22.08 UTC — Ein­mal, am spä­ten Abend, folg­te ich einem Hyper­link, der von mei­ner Par­tic­les­ma­schi­ne auto­ma­tisch erzeugt wor­den war nach Regeln, die ich nicht prä­zi­se beschrei­ben könn­te. In die­ser Wei­se arbei­tend, begeg­ne­te ich einem Text, der von einem Radio erzähl­te. Es ist selt­sam, ich konn­te mich zunächst nicht erin­nern, die­sen Text selbst geschrie­ben zu haben. Ich las ihn und dach­te: Die­sen Text musst Du erfun­den haben, rein erfun­de­ne Tex­te las­sen sich nicht so leicht erin­nern, wie Tex­te, die von einer erleb­ten Geschich­te berich­ten. Nun also, in dem ich mei­nen Text, den ich im April des ver­gan­ge­nen Jah­res notier­te, lese, schrei­be ich ihn zum zwei­ten Male, er wird mir ver­mut­lich ein wei­te­res Jahr spä­ter, noch in Erin­ne­rung sein, wie der Abend, an dem ich ihn wie­der­hol­te, also erleb­te, weil ich ihn in mein Leben ver­setz­te: Ich stel­lte mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sit­ze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und eben­so breit und eben­so hoch, ein Wür­fel dem­zu­fol­ge. Der Wür­fel ver­fügt über zwei Knöp­fe, die ich ver­tie­fen einer­seits und an wel­chen ich dre­hen kann ande­rer­seits. Dort, wo ich Schrau­ben erken­ne, die in das höl­zer­ne Gehäu­se ein­ge­las­sen sind, scheint sich die hin­te­re Sei­te des klei­nen Radi­os zu befin­den. Ich kann das Radio öff­nen. Als ich es öff­ne, ent­de­cke ich wei­te­re win­zi­ge Schrau­ben, eine Pla­ti­ne, Dioden, Wider­stän­de, Beschrif­tun­gen in einer Spra­che, die ich nicht zu lesen ver­mag, außer­dem einen Zylin­der. Ich ent­de­cke also vie­le Din­ge, aber nichts, was mir behilf­lich sein konn­te, das Radio zum Schwei­gen zu brin­gen, das Radio spielt näm­lich in einem Abstand von einer Stun­de eine Pas­sa­ge aus der 2. Sym­pho­nie Rach­ma­ni­nows, die weder lei­ser noch lau­ter ein­zu­stel­len ist, sie ist eben, wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fens­ter stel­len zu müs­sen. Ein­mal sit­zen zwei Tau­ben links und rechts des Radi­os. Als das Radio sei­ne Musik spielt, erschre­cken sie und flie­gen davon. Ein ande­res Mal kom­men sie wie­der und bau­en auf dem Radio ein Nest. — Heu­te Abend erzählt das Radio, ukrai­ni­sche Kin­der sei­en von rus­si­schen Behör­den aus der Stadt Mariu­pol ent­führt wor­den. Man, ich mei­ne, eine Spre­che­rin der rus­si­schen Behör­de, sag­te im Radio, die Kin­der, die frei­wil­lig in Bus­se ein­ge­stie­gen sei­en, soll­ten sich nur erho­len. Die jun­ge Frau sag­te wei­ter­hin, die Kin­der wür­den sehr schreck­li­che Din­ge erlebt haben, weil ukrai­ni­sche Trup­pen ihre Hei­mat­stadt ver­wüs­tet haben sol­len. Das sag­te die Frau. — stop

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prypjat

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nord­pol : 6.57 UTC — Film­auf­nah­me der Stadt Pryp­jat an einem son­ni­gen April­tag des Jah­res 1986. Duns­ti­ge Haut liegt über far­bi­gen Bil­dern des Films, spie­len­de Kin­der vor Häu­ser­blocks, ein Karus­sell, ein Rie­sen­rad, fla­nie­ren­de Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, All­tag, Frie­den. Man­che der Men­schen tra­gen Taschen, ande­re hal­ten ihre Söh­ne und Töch­ter an der Hand, ein Drei­rad, Bäu­me von hel­lem Grün, und der Him­mel, wol­ken­los. Aber da ist noch etwas ande­res, etwas Unheim­li­ches, da sind Punk­te, Krei­se, hel­le Erschei­nun­gen zu erken­nen, in Bruch­tei­len rasen­der Zeit tau­chen sie auf und sind sofort wie­der ver­schwun­den. So rasch und so uner­war­tet tre­ten sie aus der Bewe­gung des Films her­vor, dass ein mensch­li­cher Betrach­ter nicht sicher sein kann, ob die Erschei­nung, die er gera­de noch wahr­zu­neh­men glaub­te, tat­säch­lich zu sehen oder nicht ein Irr­tum sei­nes Gehirns gewe­sen war, hel­le Schir­me, pel­zig, weich. Die­ses blit­zen­de Licht zeigt Ver­let­zun­gen des Bild­tra­gen­den Mate­ri­als an, Ver­hee­run­gen, die durch strah­len­de Teil­chen des bren­nen­den Gra­fit­re­ak­tors zu Tscher­no­byl ver­ur­sacht wur­den, Teil­chen­spur­licht, des­halb so unheim­lich, so tra­gisch, weil die­ses Licht in den Augen des Film­be­trach­ters von einer spä­te­ren Wirk­lich­keit aus wahr­ge­nom­men wer­den kann, nicht aber von jenen Men­schen, die sich in der Wirk­lich­keit der Auf­nah­me vor der Kame­ra beweg­ten durch einen lebens­ge­fähr­li­chen Tag, den sie viel­leicht für einen glück­li­chen Tag ihres Lebens gehal­ten haben, weil nie­mand sie vor der unsicht­ba­ren Bedro­hung, die sich in der Atmo­sphä­re befand, warn­te. — stop /Kof­fer­text

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giuseppi logan

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marim­ba : 2.28 UTC — Ich lese in Doro­thy Bak­ers Roman Young Man With A Horn. Plötz­lich den­ke ich an Giu­sep­pi Logan (Hört ihm zu!) dem ich im Jahr 2010 im Thomp­kins Squa­re Park per­sön­lich begeg­net sein könn­te. Vie­le Tage sind ver­gan­gen, seit ich eine Geschich­te gele­sen habe, von der ich mich sagen hör­te, sie sei eine Geschich­te, die ich nie wie­der ver­ges­sen wer­de, die Geschich­te selbst und auch nicht, dass sie exis­tiert, dass sie sich tat­säch­lich ereig­ne­te, eine Geschich­te, an die ich mich erin­nern soll­te selbst dann noch, wenn ich mei­nen Com­pu­ter und sei­ne Datei­en, mei­ne Notiz­bü­cher, mei­ne Woh­nung, mei­ne Kar­tei­kar­ten wäh­rend eines Erd­be­bens ver­lie­ren wür­de, alle Ver­zeich­nis­se, die ich stu­die­ren könn­te, um auf jene Geschich­te zu sto­ßen, wenn sie ein­mal nicht gegen­wär­tig sein wür­de. Die­se Geschich­te, ich erzäh­le eine kur­ze Fas­sung, han­delt von Giu­sep­pi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazz­mu­si­ker, ein Mann von dunk­ler Haut. Logan, so wird berich­tet, atme Musik mit jeder Zel­le sei­nes Kör­pers in jeder Sekun­de sei­nes Lebens. In den 60er-Jah­ren spiel­te er mit legen­dä­ren Künst­lern, nahm eini­ge bedeu­ten­de Free­jazz­plat­ten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Dro­gen und war plötz­lich ver­schwun­den, man­che sei­ner Freun­de ver­mu­te­ten, er sei gestor­ben, ande­re spe­ku­lier­ten, er könn­te in einer psych­ia­tri­schen Anstalt ver­ges­sen wor­den sein. Ein Mann wie ein Black­out. Über 30 Jah­re war Giu­sep­pi Logan ver­schol­len, als man ihn vor weni­gen Jah­ren in einem New Yor­ker Park lebend ent­deck­te. Er exis­tier­te damals noch ohne Obdach, man erkann­te ihn an sei­nem wil­den Spiel auf einem zer­beul­ten Saxo­fon, ein­zig­ar­ti­ge Geräu­sche. Freun­de besorg­ten ihm eine Woh­nung, eine Plat­te wur­de auf­ge­nom­men, und so kann man ihn nun wie­der spie­len hören, live, weil man weiß, wo er sich befin­det von Zeit zu Zeit, im Tomp­kins Squa­re Park näm­lich zu Man­hat­tan. Es ist ein klei­nes Wun­der, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wort­bo­je Giu­sep­pi Logan in ein Ver­zeich­nis schrei­ben, das ich aus­wen­dig ler­nen wer­de, um alle die Geschich­ten wie­der­fin­den zu kön­nen, die ich nicht ver­ges­sen will. — Heu­te las ich, dass der alte Mann im April 2020 im Law­rence Nur­sing Care Cen­ter in Far Rocka­way, Queens wäh­rend der COVID-19-Pan­de­mie in New York City an den Fol­gen einer SARS-CoV-2-Infek­ti­on gestor­ben ist. — stop

 

Foto­gra­phie Jon Rawlinson

„Nie­mand klang in einem Ensem­ble so wie
Giu­sep­pi [Logan]. Bei sei­nem Spiel hielt er sei­nen Kopf weit zurück;
dazu erklär­te er: „Auf die­se Art ist mei­ne Keh­le weit offen“,
so konn­te er mehr Luft ein­zie­hen. Er spiel­te in einem
Umfang von vier Okta­ven auf dem Alt­sa­xo­phon. Was
ihn als Impro­vi­sa­tor von ande­ren unterschied,
war die Art, wie er sei­ne Noten platzierte
und damit einen bestimm­ten Klang schuf,
dem die ande­ren der Grup­pe dann folgten.
Sei­ne Stü­cke waren aus die­sem Grund sehr
attrak­tiv; Giu­sep­pi hat­te sei­ne ganz eigenen
Ansich­ten über Musik …“ – Bill Dixon



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