nordpol : 6.57 UTC — Filmaufnahme der Stadt Prypjat an einem sonnigen Apriltag des Jahres 1986. Dunstige Haut liegt über farbigen Bildern des Films, spielende Kinder vor Häuserblocks, ein Karussell, ein Riesenrad, flanierende Bürgerinnen und Bürger, Alltag, Frieden. Manche der Menschen tragen Taschen, andere halten ihre Söhne und Töchter an der Hand, ein Dreirad, Bäume von hellem Grün, und der Himmel, wolkenlos. Aber da ist noch etwas anderes, etwas Unheimliches, da sind Punkte, Kreise, helle Erscheinungen zu erkennen, in Bruchteilen rasender Zeit tauchen sie auf und sind sofort wieder verschwunden. So rasch und so unerwartet treten sie aus der Bewegung des Filmes hervor, dass ein menschlicher Betrachter nicht sicher sein kann, ob die Erscheinung, die er gerade noch wahrzunehmen glaubte, tatsächlich zu sehen oder nicht ein Irrtum seines Gehirns gewesen war, helle Schirme, pelzig, weich. Dieses blitzende Licht zeigt Verletzungen des bildtragenden Materials an, Verheerungen, die durch strahlende Teilchen des brennenden Graphitreaktors zu Tschernobyl verursacht wurden, Teilchenspurlicht, deshalb so unheimlich, so tragisch, weil dieses Licht in den Augen des Filmbetrachters von einer späteren Wirklichkeit aus wahrgenommen werden kann, nicht aber von jenen Menschen, die sich in der Wirklichkeit der Aufnahme vor der Kamera bewegten durch einen lebensgefährlichen Tag, den sie vielleicht für einen glücklichen Tag ihres Lebens gehalten haben, weil niemand sie vor der unsichtbaren Bedrohung, die sich in der Atmosphäre befand, warnte. — stop /Koffertext
Schlagwort: teilchen
apollo
nordpol : 15.02 UTC — Es war Nacht, eine besondere Nacht, die erste Nacht, da Louis von seinem Vater zu einer Stunde geweckt wurde, als noch wirklich Nacht war und nicht schon halber Morgen. Die zwei Männer, der kleine und der große Mann, saßen vor einem Fernsehgerät auf einem weichen Teppich und schauten einen schwarzweißen Mond an und lauschten den Stimmen der Astronauten. Man sprach dort nicht Englisch auf dem Mond, man sprach Amerikanisch und immer nur einen Satz, dann piepste es, und auch Louis Vater piepste aufgeregt, als sei er wieder zu einem Kind geworden, als sei Weihnachten, als habe er gerade eben ein neues Teilchen im Atom entdeckt. In jener Nacht, beobachtete Louis seinen Vater, wie er den Bildschirm des Fernsehgerätes mehrfach fotografierte, Minuten, die meine Aufmerksamkeit für die Gegenwart moderner Lichtfangmaschinen schärften. Worauf sich das Objektiv eines Fotoapparates richtete, war von Bedeutung, ein Radiergummi, ein Schiff das den Hafen der Stadt Chicago verlässt, ein roter Schuh, in dem sich mein linker Fuß befand, der gerade drei Jahre alt geworden war. — stop
variationen
echo : 20.08 UTC — Ein Programm existiert, welches digital verzeichnete Geräusche zu analysieren vermag. Ich entdeckte mit seiner Unterstützung den Titel eines Standards von Benny Goodman. Beobachtete Konzertfilme, Variationen ein und desselben Stücks, ähnlich der anatomischen Variationen, die in menschlichen Körpern zu finden sind. Schallplatten, digitale Kopien wie gefroren. Zeitkapseln, die wie kleinste Teilchen durch den Raum reisen, Moleküle treffen, Informationen verändern. — stop
vor abend zeit
sierra : 16.08 UTC — Ehe ich meine Wohnung verließ, telefonierte ich mit K. K. sagte, er würde zurzeit sehr viel lieber zu Hause bleiben, als auf die Straße zu treten. Du bist jung, Du kannst ruhig spazieren gehen, ich bin bald Neunzig, ich warte ab. K. erzählte, er habe einen großen Balkon, das sei jetzt seine Straße, mal laufe er dort oben, 5. Stock, langsam auf und ab, dann wieder beobachte er Menschen weit unten auf der Straße. Sie tragen fast alle Maske, das sei doch beruhigend, trotzdem wolle er lieber hier oben bleiben, noch genug Zeit, um später einmal unten bei den Passantenmenschen spazieren zu gehen. So wie ich auf und abgehe oder hin und her, sagte K., könnte man mich doch ernsthaft für eine Spindel halten, die etwas webt. In den Bäumen sitzen Vögel. Die Vögel wundern sich. Wenn Du das Haus verlässt, sagte K., solltest Du eine dieser sehr dichten Masken tragen. Du musst das üben, Louis! Du solltest erst einmal sechs Stunden eine dieser speziellen Segeltaschen vor Mund und Nase spannen, probieren, ob Du das gut aushalten kannst. Geh herum, steige ein paar Treppen, probiere, ob Du ausreichend Luft bekommst. Seit zwei Stunden also trage ich eine dieser Masken, die so dicht sein sollen, dass sie Aerosole, kleinste fliegende Teilchen einzufangen vermögen. Ich höre meinem Atem zu. Ich habe den Eindruck, als hörte ich mit meiner Nase. Auch habe ich den Eindruck, dass ich vielleicht mit meinen Ohren atme, als ob unbekannte Wege der Luftzirkulation in meinem Kopf existierten. Ich muss das beobachten. Noch vier Stunden, dann geh ich aus. — stop
teilchen
India : 0.02 UTC — Die Welt zerfällt in Tatsachen, schreibt Ludwig Wittgenstein. Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles übrige gleich bleiben. - stop
vom unsichtbaren
lima : 23.59 UTC — Ich war noch ein Kind gewesen, als ich von meinem Vater in einen unter der Erde liegenden Saal des Kernforschungszentrums CERN geführt wurde. Ich lernte dort die Unsichtbarkeit kennen. Es war inmitten einer Nacht, der Saal grell beleuchtet, Dioden blinkten, orangenfarbene Warnleuchten drehten sich langsam. Und da war das Rauschen der Luft, die kühl durch den Saal strich, ein beständiger Wind, weswegen in einer Hochsommernacht doch alle Menschen, die in dem Saal zu beobachten waren, warme Kleidung trugen. Mein Vater und ich standen auf einer Brücke, die über einen Korridor führte, der vollständig leer zu sein schien. Aber das war natürlich ein Irrtum, dort gleich unter uns schoss nämlich ein Strahl hochenergetischer Teilchen durch die Luft, der jeden Menschen sofort getötet hätte, wenn er dort unten hindurch spaziert wäre. Mein Vater deutete hinab und versuchte mir das Unsichtbare zu erklären. Nicht sichtbar, weil zu schnell, sagte mein Vater, und zu klein. Ich war so berührt von der möglichen Wirkung des Unsichtbaren, dass ich immer wieder dorthin zurückkehren wollte, um das Unsichtbare zu besuchen. Überhaupt ist das Unsichtbare, das aber doch der Fall ist, ein wundervolles Phänomen. Oder jenes gemeinsame Wesen, das nur den Liebenden sichtbar wird. — Mit dieser Minute endet Louis’ 20646 Lebenstag. — stop
vom tattermandl
ulysses : 0.12 — Ich stellte mir, aus gutem Grund, einen Feuersalamander vor, der über zwei Köpfe verfügt. Inwiefern, fragte ich mich, würde sich seine besondere anatomische Gestalt auf die Art und Weise seiner Fortbewegung auswirken? Wäre der Feuersalamander noch in der Lage, sich fortzubewegen, wie es für Feuersalamander leicht schaukelnd üblich ist, oder würde sich das kleine Tier etwa im Kreise drehen, vielleicht deshalb, weil der linke seiner Köpfe, sein Hauptkopf, etwas schwerer wiegt als sein rechter Kopf, der überhaupt nur deshalb existiert, weil ein früherer Salamanderkörper von einem Strahlenteilchen getroffen wurde, weswegen sich sein Zelltext veränderte, weswegen für einen späteren, unseren illuminierten Salamander bereits im Larvenstadium ein zweiter Kopf vorgeschrieben war. Ich könnte vielleicht sagen, dass der zweite Kopf des Salamanders mit dem Eintreffen des strahlenden Teilchens zu einem Zeitpunkt, da er selbst noch gar nicht existierte, unvermeidbar wurde. Vier Augen nun, von welchen zwei unmittelbar in der Lage sind, sich zu betrachten, weil sie sich gegenüberliegen, weil sie je seitwärts, eben nicht geradeaus, in die Welt hinaus schauen. Ich erinnere mich an eine Fotografie, auf der ich selbst zu sehen bin, wie ich schlafe. — stop
radioteilchen
tango : 6.06 — Das Radio erzählt heut Morgen wieder gefährliche Geschichten. Man habe nämlich gestern in der Luft und am Boden nahe Fukushima Plutoniumteilchen entdeckt. Gefährlich für Menschen, so berichtet das Radio, seien diese Particles nicht, weil sie bereits seit den 50er und 60er Jahren gleichmäßig über die Erde verteilt existieren, da man testweise Inseln mittels Wasserstoffbomben sprengte. Jetzt ist das aber so, dass zwei von fünf vorgefundenen Teilchen jüngerer Zeit entstammen, vermutlich aus einem Reaktor in nächster Nähe selbst, demzufolge einer oder mehrere der Reaktoren undicht geworden sein könnten. — stop
teilchen
sierra : 2.01 — Erinnerung scheint zeitlos zu sein, zufällig, chronologisch ungeordnet, kommt in Sekundenportionen angeflogen, eine Stimme, eine Fotografie, ein Geruch, ein Gedanke, Teilchen wie Sandstürme, vergänglich, unscharf. Ich habe bemerkt, dass es möglich zu sein scheint, ein Teilchen festzuhalten, in dem ich das Teilchen mit einem Wort verbinde, um das Teilchen von diesem Wort aus zu erweitern, schwerer zu machen, und doch ist es immer so, dass ich das Teilchen, an dem ich arbeite, früher oder später loslassen werde, weil vielleicht das Telefon klingelt oder eine Fliege vorüber kommt, die sich auf dem Rücken segelnd fortbewegt. Wie viele Ereignisse meines Lebens habe ich mehrfach vergessen, wie viel stille Zeit? — stop
hummingbird
echo : 22.01 — Spätnachmittags höre ich zwei Männer im Treppenhaus. Sie arbeiten sich sehr langsam zu mir unter das Dach hinauf, fluchen, machen immer wieder Pausen. Ich erkenne eine kräftige Hand, die sich am Treppengeländer festhält. Nach einer halben Stunde sind sie angekommen, tragen gemeinsam ein Päckchen, das nicht größer ist, als ein Behälter für Kinderschuhe. Als ich meine Hände ausstrecke, wollen sie mir das Päcken nicht übergeben, es sei zu schwer, sie treten in die Wohnung ein und stellen das Päckchen auf meinen Küchentisch. Tatsächlich ist ein knarrendes Geräusch zu vernehmen, als würde der Tisch Mitteilung machen. Das Päckchen ist so schwer, dass es sich mit dem Tisch zu verbinden scheint, es lässt sich nicht verschieben. Also, beuge ich mich über den Tisch und schnüre das Päckchen auf. Briefmarken, Vogelgemälde, sind zu erkennen, handschriftlich wurde mit großen Buchstaben mein Name aufgetragen, kein Absender, aber ein Stempel der Marshallinseln. Ich erinnere mich, dass sich in dem Päckchen eine metallene Dose befand. In den Deckel der Dose eingestanzt, folgender Schriftzug: hummingbird T778X / puzzle 100000 pieces. Sehr kleine, mit bloßem Auge kaum noch zu unterscheidende Teilchen, die wie eine Flüssigkeit wirkten, befanden sich in dem Transportbehälter. Ich holte einen Löffel und schöpfte einige Teilchen heraus, schüttete sie auf den Tisch und begann sie unter meinem Mikroskop zu drehen und zu wenden. Ich wusste in diesem Moment, ich träumte, dass ich nun sofort für immer verschwinden könnte. — stop