lima : 18.12 UTC — Die folgende Geschichte ist natürlich eine erfundene Geschichte. Ich habe sie vor Jahren bereits schon einmal erfunden. Und wieder werde ich so tun, als wäre sie nicht erfunden. Am besten beginne ich in dieser eingeübten Weise: Seit zwei Wochen halte ich mich stundenlang unter freiem Himmel auf. Das ist deshalb so gekommen, weil ich eine Aufgabe übernommen habe, die mir nach wie vor sehr interessant zu sein scheint. Ich beobachte Bienen wie sie sich über eine Wiese fortbewegen. Deshalb liege oder knie ich oder laufe gebückt dahin, den Kopf dicht über dem Boden, was nicht immer ganz leicht ist, weil Bienen doch sehr schnelle Flieger sind. Jene Bienentiere, die ich beobachte, wohnen in nächster Nähe am Saum eines Waldes, dessen präzise Position ich nicht verraten darf. Sie tragen Nummern von 1 – 100 auf ihren Rücken, was für meine Arbeit sehr bedeutend ist, da ich Bienen, die ohne eine Nummer sind, niemals beachte. So lautet meine Instruktion, Bienen ohne Nummer ist nicht zu folgen, vielmehr ist solange Zeit am Rande der Wiese zu warten, bis eine Biene mit Kennzeichnung auf der Wiese erscheint. Ich trage eine Schirmmütze gegen die Blendwirkung der Sonne und eine Monokellupe, die vor meinem rechten Auge sitzt und mir einen präzisen Blick in die kleine Welt der Bienen in der Nähe des Bodens ermöglicht. Genaugenommen ist es meine vornehme Aufgabe, eine Biene, die ich einmal in den Blick genommen habe, solange wie möglich zu begleiten auf ihrem Flug von Blüte zu Blüte. Ich bin indessen nicht einmal stumm. Ich sage zum Beispiel: Hier spricht Louis. Es ist 15 Uhr und 12 Minuten. Ich folge Biene No. 58. Wir nähern uns einer Butterblumenblüte. Ja, das genau sage ich laut und deutlich. Ich spreche in ein Funkgerät, von dem ich weiß, dass mir in der Ferne im Seebad Brighton an der englischen Küste irgendjemand an einem anderen Funkgerät zuhört. Ich sage: Hier spricht Louis. Biene No 58: Landung Butterblume. OVER! Dann betrachte ich die Biene wie sie in der Blüte arbeitet und warte. Bald fliegt die Biene weiter und ich sage kurz darauf: Biene No 58: Landung Feuernelke. OVER! Ja, so mache ich das. Ich werde immer besser darin. Ich glaube, die Bienen mögen mich. Ich bin ihnen vertraut geworden. In einigen Tagen werde ich vielleicht etwas genauer erzählen, warum ich Bienen beobachte. — Das Radio erzählt von Menschen, die die russische Höllenmaschine der Stadt Mariupol überlebten. Manche würden nun in der Fremde lebend, Schlüssel ihrer verlassenen oder zerstörten Wohnungen in Taschen von Hosen und Mänteln und Kleidern mit sich führen. — stop
Schlagwort: englisch
gallipoli : melissano : ugento : kyiv
delta : 2.14 UTC — Linosa erzählte mir eine Geschichte, von der ich nicht sagen kann, ob sie sich tatsächlich so ereignete wie behauptet, oder ob die Geschichte rein erfunden sein könnte. Seit einigen Monaten erhalte er nämlich täglich einen Luftpostbrief aus Italien. In dem Brief sei jeweils ein beidseitig bedrucktes Blatt Papier enthalten, Text in englischer Sprache, nummeriert, feine, präzise formulierte Sätze. Er habe, so berichtete Linosa, einige dieser Sätze in die Maske einer Suchmaschine eingegeben, weshalb ihm nun bekannt sei, dass es sich wohl um ein zerlegtes Buch handeln könnte, das man ihm schicken würde, um Herman Melvilles Erzählung Bartleby. Das sei für sich genommen schon eine seltsame Angelegenheit, noch merkwürdiger komme ihm aber vor, dass dem Schreiben bisher keine Erklärung, Begründung oder auch nur ein Gruß beigefügt worden sei. Manchmal könne er mit Hilfe des postalischen Stempels entziffern, in welcher Stadt der Brief Tage zuvor aufgegeben wurde. Städte mit wundervollen Namen, Gallipoli, Melissano, Ugento, Lecce, Brindisi, seien darunter. Während er sich in den ersten Tagen noch gewundert, ja sogar ein wenig gefürchtet habe, würde er sich inzwischen darüber freuen, nachmittags aus dem 12. Stock seines Mietshauses zum Briefkasten hin abzusteigen, um den Brief entnehmen, öffnen und wieder im Aufstieg befindlich lesen zu können. 34 Briefe habe er bislang erhalten, 16 weitere Briefe sollten noch folgen, sofern der unbekannte Absender in logischer Weise fortsetzen würde. Der letzte Brief, der gestern aus Fasano kommend, bei Mr. Linosa eingetroffen war, soll eine besondere Briefmarke auf seiner Anschriftenseite getragen haben, acht Rentiere, die in einen verschneiten Himmel fliegen. Diese Briefmarke leuchte nachts in der Küche im Dunkeln, wo sie nun auf dem Stapel zuvor eingetroffener Briefe solange sichtbar ruhen werden, bis wieder Nachmittag geworden sein wird. — Das Radio erzählt von Menschen, deren Wohnungen von Raketen getroffen worden sein sollen. Sie berichten fassungslos, dass sie, wenn sie nicht im Flur, sondern in ihrem Wohnzimmer geschlafen hätten, nun tot sein würden. - stop
vom warten
lima : 22.07 UTC — Über eine Million Augenpaare werden in der digitalen Sphäre verzeichnet, die in den vergangenen 24 Stunden das Livebíld des Maidanplatzes beobachtet haben sollen. Einmal frage ich in englischer Sprache im begleitenden Chat, was präzise man erwartet zu sehen, weshalb diese Aufmerksamkeit. Es geschieht ja nichts. Nur der Platz ist zu sehen, kaum ein Mensch, aber ein paar Tauben, die über die Straßen tucken. Ein Antwort etwas später gleichwohl in englischer, dann von demselben Avatar in russischer Sprache: Alle hier warten auf Panzer! — stop
apollo
nordpol : 15.02 UTC — Es war Nacht, eine besondere Nacht, die erste Nacht, da Louis von seinem Vater zu einer Stunde geweckt wurde, als noch wirklich Nacht war und nicht schon halber Morgen. Die zwei Männer, der kleine und der große Mann, saßen vor einem Fernsehgerät auf einem weichen Teppich und schauten einen schwarzweißen Mond an und lauschten den Stimmen der Astronauten. Man sprach dort nicht Englisch auf dem Mond, man sprach Amerikanisch und immer nur einen Satz, dann piepste es, und auch Louis Vater piepste aufgeregt, als sei er wieder zu einem Kind geworden, als sei Weihnachten, als habe er gerade eben ein neues Teilchen im Atom entdeckt. In jener Nacht, beobachtete Louis seinen Vater, wie er den Bildschirm des Fernsehgerätes mehrfach fotografierte, Minuten, die meine Aufmerksamkeit für die Gegenwart moderner Lichtfangmaschinen schärften. Worauf sich das Objektiv eines Fotoapparates richtete, war von Bedeutung, ein Radiergummi, ein Schiff das den Hafen der Stadt Chicago verlässt, ein roter Schuh, in dem sich mein linker Fuß befand, der gerade drei Jahre alt geworden war. — stop
amsterdam
cimitero s. michele
victor : 22.24 UTC — Auf der Insel Giudecca existiert an eine Brücke gelehnt ein Aufzug für Menschen, die nicht in der Lage sind, Treppen zu steigen. Der Aufzug soll nun seit beinahe 3 Jahren außer Dienst genommen sein. Ich hätte davon keine Kenntnis erhalten, wenn ich nicht zufällig hörte, wie ein alter Mann sich wegen dieses kranken Aufzuges empörte. Er saß in einem Rollstuhl auf einem Balkon nur wenige Meter entfernt von der Brücke und warf Brot in die Luft, welches von Möwen im Flug aufgefangen wurde. Der Mann schimpfte in englischer, bald in französischer Sprache, als ob er ganz sicher gehen wollte, dass jene Menschen, die die Brücke überquerten, seine Nachricht verstehen würden. An diesem Abend, da der wütende Mann die Administration der Stadt Venedig verdammte, wäre ich sehr gerne sofort in das Wasser zu meinen Füßen gesprungen, um den Reiz der Mückenstiche, die ich während eines Besuches des Friedhofes San Michele hinnehmen musste, durch Kühle zu lindern. Es war am Nachmittag gewesen, ich plante das Grab Joseph Brodskys zu besuchen, musste aber bald vor dutzenden Raubtieren flüchten, die sich auf zartschillernden Flügeln kaum hörbar näherten in einer Weise, die mir koordiniert zu sein schien. Polizisten suchten auf dem Friedhof nach zwei Frauen. Ich hatte kurz zuvor beobachtet, wie sie den Friedhof betraten. Sie trugen schwarze Kleider und schwarze Stiefel und schwarze Handschuhe, auch ihr Haar war schwarz gefärbt und ihre Augen wie von Kohle umrandet, sie waren vollständig in Schwarz dargestellt, aber ihre Haut war weiß gepudert. — Vor dem Fenster pfeifen leise Vögel wie Sprechen. — stop
amsterdam
taliban light
romeo : 7.55 UTC — Im Traum wurde ich von einer Taliban-Gruppe gefangen. Ich verfügte weder über Gepäck, noch Papier, hatte keine Stifte. Ich fragte nach einer Schreibmaschine. Wir wanderten durch sandiges Gebiet. Einmal hielten wir an, ich wurde befragt, ich antwortete nicht korrekt, wurde mit leichten Hieben auf meine Fußsohlen bestraft. Das sei erst der Anfang, hörte ich, zuletzt würde ich ohne meine Füße weitergehen. In einem kleinen Laden in einer Höhle entdeckte ich ein Regal mit Büchern in deutscher, französischer, englischer und russischer Sprache. Man erklärte, wenn ich eines der Bücher kaufen würde, würde man mir das Buch sogleich wieder abnehmen und zurückstellen ins Regal. Da waren im Traum noch Skorpione mit blauen Augen, die vorzüglich schmeckten. — stop
max
charlie : 20.45 UTC — Ich habe meinen Freund Max besucht, der in München wohnt in der Briennerstraße unter dem Dach in einem Loft, das derart weiträumig ist, dass man darin Hallenfußball spielen könnte. Seine Vögel, zwei Kakadus, fliegen dort gern frei herum, sie sollen, so Max, niemals bislang irgendeinen Schaden an seinen Möbeln angerichtet haben. Das liegt vielleicht auch daran, dass Max’ Vögel möglicherweise nicht ganz echt sind, ich meine, dass sie kühle Tiere von äußerst leichtem Metall sein könnten unter dichtem Federkleid verborgen, dass sie also nur vorgeben, Vögel zu sein, während sie vielmehr Drohnen sind, die sich von Max’ Computer gesteuert durch die Wohnung bewegen, als wären sie natürliche Wesen. Ich habe beide Tiere immer nur im Flug beobachtet, nie aus nächster Nähe, denn wenn sie einmal nicht fliegen, sitzen sie in einem Käfig, der dicht unter der Decke des Raumes unerreichbar weit entfernt montiert wurde. Wunderbare Algorithmen steuern den Flug der Kakadus, auch ihre Gespräche, die sie beständig führen. Es ist spät geworden, eigentlich wollte ich eine ganz andere Geschichte erzählen, von Max’ Computer, der über eine Taste für Cappuccino verfügen soll. Diese Geschichte werde ich im nächsten Jahr erzählen. — stop
eine lampe
nordpol : 10.28 UTC — Gestern, ehe ich das Haus der alten Menschen besuchte, dachte ich noch, das Altwerden, das Alt- oder Uraltsein habe mit Unruhe zu tun, mit Schlaf, dessen Zeiträume kürzer und kürzer werden. Heute nun würde ich sagen, das Alt- oder Uraltsein hat etwas mit Schlaf über lange Zeiträume hin zu tun, auf einem rollenden Stuhl sitzen und schlafen oder dämmern. Da war wieder eine Frau im Licht einer gelben Lampe, die im Wohnsaal vor einem Tisch saß und einen Telefonhörer in der Hand hielt. Der Telefonhörer war mit einem Telefon mit Wählscheibe verbunden, ein derart altes Telefon, dass man, um eine Nummer zu wählen, eine kreisende Bewegung ausführen muss. Dieses Telefon nun war nicht mit der Wand in Verbindung, vielmehr ragte aus dem Gehäuse des Telefons ein kurzes Stück Kabel, das anzeigte, dass das Telefon einmal tatsächlich mit der elektrischen Welt verbunden gewesen war. Als ich an der alten telefonierenden Dame vorbeikam, dachte ich für einen Moment, vielleicht liest ihr gerade jemand vor, vielleicht Hrabal, der aus seinem Roman Ich habe den englischen König bedient zitiert. Es wird Herbst, in jeder Hinsicht. 288P, ein Doppelasteroid wurde entdeckt. Hurrikane Maria verwüstet die Karibik. Mr. Un droht mit Wasserstoffbombentest. — stop