MENSCH IN GEFAHR : ““Nahid Taghavi ist eine iranisch-deutsche Frauenrechtlerin, die im Teheraner Evin-Gefängnis inhaftiert ist. Seit ihrer Festnahme im Oktober 2020 musste sie monatelang in Isolationshaft. Sie wurde gefoltert. In einem unfairen Gerichtsverfahren wurde sie wegen angeblicher Beteiligung an einer “illegalen Gruppe” und wegen “Propaganda gegen den Staat” zu zehn Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Ihr Gesundheitszustand ist besorgniserregend: Nahid Taghavi hat so starke Schmerzen, dass sie kaum mehr aus dem Bett aufstehen kann. Sie bekommt starke Schmerzmittel injiziert. Sie leidet an tauben Fingern und starken Schmerzen in ihrem Nacken, am Rücken und an den Händen. Im Juli 2022 wurde Nahid in den dringend benötigten medizinischen Hafturlaub entlassen. Die lange Haft und die desaströsen Haftbedingungen haben ihren Gesundheitszustand massiv verschlechtert. Am 13. November 2022 musste sie wieder ins Gefängnis, obwohl ihre medizinische Behandlung noch nicht abgeschlossen ist. Die erneute Inhaftierung von Nahid erfolgte unmittelbar auf die Ankündigung der deutschen Bundesregierung, weitere Sanktionen gegen die iranische Regierung zu verabschieden. Nahid ist eine gewaltlose politische Gefangene und muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden. — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
Aus der Wörtersammlung: deutsch
ameisengespräch
tango : 15.18 UTC — Eine deutsch sprechende, hochbetagte russische Dame erzählte am Telefon, sie habe gehört, Ameisen, Millionen vergifteter Ameisen würden die ukrainische Grenze in Richtung der russischen Föderation überquert haben im vergangenen Jahr bereits. Sie seien erschaffen worden, um ganz Russland zu zerstören, Menschen, Tiere, Pflanzen. Diese Ameisen seien ungewöhnlich groß und von blauer Farbe. Ich fragte zunächst, ob sie denn eine der Ameisen, von deren Existenz sie hörte, mit eigenen Augen gesehen habe. Nein, mein Gott, dann könnte ich Dir von dieser Gefahr doch nicht erzählen! Ob denn Fotografien oder Filmaufnahmen das Vorkommen jener gefährlichen Wesen dokumentieren würden, wollte ich wissen? Ja, aber natürlich, diese Fotografien müssen existieren, aber ja, natürlich! — Ihr helles Stimmchen. stop
im warenhaus
ginkgo : 0.02 UTC — An einem Abend im Warenhaus vor langer Zeit beobachtete ich einen kleinen Jungen. Er sprang in einer Warteschlange vor einer Kasse herum und lachte und verdrehte die Augen. Weil sich auf dem Förderband vor der Kasse Milchflaschen, Cornflakesschachteln, Reistüten sowie zwei Honigmelonen befanden, konnte der Junge den Mann, der an der Kasse seine Arbeit verrichtete, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann handelte es sich um Javuz Aylin, er war mittels eines Namensschildchens, das in der Nähe seines Herzens angebracht worden war, zu identifizieren. In diesem Moment der Geschichte erhob sich Herr Aylin ein wenig von seinem Stuhl, um neugierig über die Waren hinweg zu spähen, vermutlich deshalb, weil der Haarschopf des Jungen mehrfach in sein Blickfeld hüpfte. Da war noch ein zweiter Haarschopf an diesem Abend im Warenhaus in nächster Nähe, schwarzes, lockiges Haar, der jüngere Bruder des Jungen, der in wenigen Sekunden zu dem Kassierer sprechen würde, beide Kinder sind sich so ähnlich als seien sie Zwillinge, ein großer und ein kleiner Zwilling. Gleich hinter den Buben wartete die Mutter, sie lächelte wie sie ihre Kinder so fröhlich herumtollen sah. Die junge Frau trug ein sehr schön buntes Kopftuch, ich stellte mir vor, sie könnte in Marokko geboren worden sein, kräftig geschminkter Mund, herrliche Augen. Plötzlich waren die Waren auf dem Förderband verschwunden, der ältere der beiden Jungs betrachtete aufmerksam das Gesicht des Kassierers Aylin, der müde zu sein schien. Er hielt dem Jungen ein Päckchen mit Sammelbildern zur Europameisterschaft entgegen, außerdem ein zweites Päckchen für den kleineren Bruder, der immer noch hüpfte, weil er gerade eben doch noch zu klein war, um über das Band selbst hinweg spähen zu können. Oh, danke, sagte der Junge zu Herrn Aylin. Er schaute kurz zur Mutter hinauf, die nickte. Ich habe schon fast alle Karten, fuhr er fort, die deutsche Mannschaft ist komplett. Er machte eine kurze Pause. Ich bin nämlich Deutscher, sagte der Junge mit kräftiger Stimme, auch mein Bruder ist Deutscher. Wieder schaute er zu Mutter hin, und wieder nickte die junge Frau und lachte. Bist Du auch Deutscher, fragt der Junge Herrn Aylin. Der schüttelte den Kopf und schnitt eine freundliche Grimasse. Der Junge setzte nach: Ach so! Warum nicht? Aber das war gewesen, ehe Herr Aylin antworten konnte, er war mit seinem kleinen Bruder und seinen Sammelbildern bereits irgendwo hinter der Kasse verschwunden, so dass sich ihre Mutter beeilen musste, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. — Das Radio erzählt, man habe, in dem man Menschen neben Strassen der Stadt Mariupol beerdigte, zur gleichen Zeit ein Fläschchen zu den Toten gelegt. Dort, im Fläschchen, wurden auf einem Zettel verzeichnet der Name des verstorbenen Menschen und der Tag sein Geburt und der Tag seines gewaltsamen Todes. — stop
robotslogfile
olimambo : 5.58 UTC — Vor bald 10 Jahren schrieb mir Leroy einen Brief auf Papier. Er notierte: Lieber Louis, seit sechs Wochen nun bin ich online. Man kann mich lesen so oft und so lange man möchte, ohne einen Cent dafür bezahlen zu müssen. Das ist ein angenehmes Gefühl durchaus. Ich hatte dieses Gefühl so nicht erwartet. Manchmal sitze ich vor dem Bildschirm und beobachte meinen Text auf dem selben Weg, den auch andere nehmen, um mich lesen zu können. Ich bin begeistert davon, dass ich dem Text nicht anzusehen vermag, ob ihn gerade in diesem Moment andere Augen betrachten, weil es doch derselbe Text mit dem selben Ursprung ist. Ich werde noch dahinterkommen, bis dahin wundere ich mich weiter. Gestern war Singer zu Besuch, der sich auskennt in digitalen Dingen. Er fragte, ob ich ihm sagen könne, wie viele Menschen denn meine elektrischen Texte besuchten. Ich erzählte ihm, dass ich selbstverständlich Nachricht davon erhalten habe. Ich genieße, sagte ich, die Aufmerksamkeit einiger Leser in Island, Amerika, Togo, Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, China, England, Frankreich, Marokko, Spanien. Manche kommen sehr häufig und lesen, sie kommen stündlich vorbei, auf die Sekunde genau, andere eher selten, als würde sie mich gelesen haben und sofort wieder vergessen. Ich holte uns am Kiosk eine Limonade, während Singer sich mit meinen Logfiles beschäftigte. Als ich zurückkam, hörte ich Singer lachen, in dem Moment genau, da ich die Tür öffnete, hörte ich Singer lachen. Dann hörte er auf, und wir sprachen über Kakteen und ihre Winterblüte, und dass er bald wieder für einige Monate nach Manarola reisen würde, wo es mild sei im Winter. Kurz darauf schlief ich ein. Ich erwachte vom Lärm vieler Stimmen. Auf der Straße liefen Menschen hin und her, es war früher Nachmittag, ich wusste, dass die Nacht für mich zu Ende war. Heute ist also Sonntag. Ich grüße Dich. Dein Leroy. — Das Radio erzählt, die Stadt Mariupol sei nun für immer und ewig eine russische Stadt. Seltsame Sache. - stop
auf der flucht
olimambo : 20.28 UTC — Wie nach der Meldung eines Terroranschlages Menschen damit beginnen, ihre Umgebung abzusuchen nach Verdächtigem. M., der in Mitteleuropa lebt, erinnerte sich an L., der morgens im Zug auf dem Weg nach Hause im Koran gelesen hatte. Das war ein sehr kleines Buch gewesen, ein Buch wie aus einer Matchbox, eine Art Minikoran oder etwas Ähnliches. L., die vor langer Zeit ihre Geburtsstadt in Sibirien verliess, befindet sich seit Wochen in einem bebenden Zustand. Sie schläft kaum noch, erzählt, dass sie sich fürchte. Ihre Mutter arbeite in einer Bibliothek der Hafenstadt Odessa. L. sagt, sie vermeide in der Öffentlichkeit laut die russische Sprache zu sprechen, auch mit der deutschen Sprache gehe sie vorsichtiger um, man höre sofort, dass sie aus dem Osten komme. Ein iranischer Freund, Z., der aus seinem Land flüchtete, um nicht in den Krieg gegen den Irak ziehen zu müssen, berichtet, er sorge sich um oder wegen der schlafenden, staubigen Männer am Flughafen, die auf ihre Flüge warteten zurück nach Bukarest oder Sofia. — Eine große Flucht hat begonnen im Osten. Aus dem Radio und von den Bildschirmen her kommen Fäden heran, die vom Krieg berichten. Menschen an den Grenzbahnhöfen erzählen: Wir haben kleine Rucksäcke auf dem Rücken damit wir rennen können. Vor irgendwelchen Computermaschinen hocken Menschen und betrachten Live-Bilder des nächtlichen Maidan zu Kyjiw. Warum! — stop
lebenszeichen
india : 11.28 UTC — Da sind Thermometerwerkzeuge, 5 + 1, zur Messung der Temperaturen eines Zimmers. Und flackerndes Regenlicht, das von den Fenstern her kommt. Ein Computerbildschirm, in dem sich der Computer selbst befindet, zuletzt vor fünf Jahren angeschaltet. Auf dem Schreibtisch ruhen anatomische Bücher, gedruckt in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bitterer Duft steigt auf, sobald sie geöffnet sind. Das Handbuch eines Opel-Rekord und eine Blechdose, drin sind Liebesbriefe: Meine Liebste, wie ich mich nach Dir sehne! Eine Zigarrenschachtel weiterhin voller Briefmarken des deutschen Reiches, die der Junge noch sammelte. Ein Kinderbuch: Zwei Pinguine winken. Ein Gerät, das den Strom zu vermessen vermag, haardünner Zeiger. Eine Karte der Stadt Lissabon und Fahrkarten einer Straßenbahn, die in Lissabon noch immer anzutreffen ist. Zwei Menschen waren dort, die Lissabon liebten. Dem Jungen, der Lissabon später einmal lieben sollte, gehörten zwei Schulbücher, er wird später ein Doktor der Physik und ein Verehrer Andrei Sacharows. Sein Vater war Arzt gewesen, deshalb auch Skalpelle auf rotem Samt und eine Schachtel, in welcher sich Objektträger befinden. Dort Spuren, die gelblich schimmern. Und Dioden und Widerstände und Rechenkerne auf Platinen geschraubt. Auch Luftpostbriefe, die ein junger Student an sich selbst oder seine Geliebte notierte, da waren sie noch nicht nach Lissabon gereist, prächtige Marken und Stempel und Sonderwertzeichen der Ballonpost zu einer Zeit, als Expressbriefe noch durch Eilboten zugestellt worden waren. Eine Filmdose und noch eine Filmdose, die man nicht wagt im Regenlicht zu öffnen. Auf einem Dia ist sehr klein eine junge Frau zu erkennen, die vor dem World Trade Center in New York steht. Sie ist dem Auge ihres Sohnes sofort bekannt. In einer Kladde verschnürt, Blätter eines Herbariums: Schlüsselblume von Bleistiftbeschriftung umgeben, das war alles notiert am 24. VIII 1904. Auch zwei Funkantennen wie Fühler eines Insektes ohne Strom. Eine Postkarte ist da noch und immer noch Regen draußen vor den Fenstern. Auf der Postkarte steht in großen Buchstaben rot umrandet vermerkt: Lebenszeichen von L.K. aus der Braubachstraße / 8. II. 44: Meine Lieben! Wir sind gesund und unbeschädigt. Marie & Familie. — stop
Игрок
sierra : 22.58 UTC — Vor einigen Tagen hab ich mir ein Buch gewünscht in russischer Sprache, nämlich Игрок von Fjodor Dostojewski. Nun werden Sie vermutlich fragen, ob Louis, der hier schreibt, die russische Sprache zu lesen vermag. Nein, ich kann die russische Sprache nicht lesen, aber ich höre sie gern, und es wird mir eine Ehre sein, ein berühmtes Buch in russischer Sprache auf meinen Schreibtisch zu legen. Da wird es dann liegen neben einer Übersetzung in die Deutsche Sprache von Swetlana Geier. Ich könnte vielleicht sagen, dass das eine Buch, das ich zu lesen vermag, vor jedem Satz, den ich in Augenschein nehmen werde, das andere Buch, das ich nicht zu lesen vermag, befragen wird. Das ist eine gute Vorstellung. Noch heute Abend setz ich mich auf mein Fahrrad. Gewitterlicht. — stop
in der straßenbahn
nordpol : 15.02 UTC — Folgendes. Wenn ich mich schreibend mit deutschen Menschen auseinandersetze, die der Ansicht sind, afrikanische Menschen, die sich auf die Flucht nordwärts nach Europa begeben, seien selbst schuld, wenn sie im Meer ertrinken, man sollte Ihnen nicht helfen oder nur im Notfall, wenn jemand da ist, also wenn Hilfe unvermeidbar ist, wenn sie demzufolge nicht unsichtbar und ungehört zu ertrinken drohen, stelle ich mir immer wieder einmal vor, was diese Menschen an diesem schönen Sonntag wohl gefrühstückt haben? Ich frage mich, ob sie gut geschlafen haben und wie sie wohnen, ob sie glückliche Menschen oder eher unglückliche Menschen sind? Haben diese Menschen Kinder? Würde ich sie in einer Straßenbahn sitzend erkennen? Also sitze ich etwas später in einer Straßenbahn. Und plötzlich spüre ich einen Blick auf mir lasten, der nicht freundlich ist. — stop
eine seerose perdu
romeo : 8.55 UTC — Gestern, gegen Mitternacht, wurde eine Person, die sich als deutsche Seerose definierte, von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Twittermaschine dauerhaft ausgesperrt, weil sie in regelmäßiger Weise Menschen nichtdeutscher Herkunft an deutschen Bäumen erhängen wollte. Ein Vorgang, der ein siebenjähriges Twitterleben abrupt beendete. Über zwölftausend Kurznachrichten sind sehr plötzlich nicht wiederzufinden, Geschichten aus einem Albtraumleben. Man (Seerose. deutsch) fängt vermutlich, ohne das Erhängen, wieder von vorne an. — stop
eine kurze pause
lima : 0.08 UTC — Vorgestern, am späten Abend, führte ich ein interessantes Twittergespräch. Eine Person, ein Herr oder eine Dame, erkundigte sich auf direktem Kanal, ob es denn möglich sei, meinen eigentlichen Namen zu erfahren, weil er oder sie mich sehr gerne irgendwann in naher Zukunft wegen Hochverrats an dem deutschen Volke anklagen wolle. Ich hatte mich kurz zuvor erkundigt, ob er oder sie vielleicht einen der versifften Neger, die Europa angeblich bedrohten, persönlich kennen würde. Ich bat um etwas Geduld, ich würde mir Zeit nehmen, um ihre Anfrage zu entscheiden, müsste zunächst darüber nachdenken. Zeig Dich, Du Hund, schrieben der Mann oder die Frau. Ich antwortete, ich, der Hund, befürchte bei Offenlegung meines wirklichen Namens möglicherweise heute noch auf der Straße vor meinem Haus wegen Hochverrats eliminiert zu werden. Ein kurze Pause entstand im Gespräch, es dauerte fünf Minuten und 32 Sekunden, dann antwortete der Mann oder die Frau in großzügiger Weise, ich solle mich nicht aufregen, ich könne sicher sein, dass mir nichts geschehen würde. Wir kämpfen für die Freiheit der Meinung, gegen ein Diktatur, die Deutschland vernichten wolle. Er oder sie fragte sodann: Sind Dir Hans und Sophie Scholl bekannt? Es sei jetzt an der Zeit Widerstand zu leisten, damit Deutschland nicht untergehe, mutig und aufrecht. — stop