Aus der Wörtersammlung: deutsch

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galina

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sier­ra : 16.28 — Ges­tern Abend, im Flug­ha­fen­zug, erzähl­te Gali­na, die seit zehn Jah­ren in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land lebt, sie sei vor weni­gen Wochen mit ihrer 85 jäh­ri­gen Groß­mutter nach Ägyp­ten ans Meer geflo­gen, ein Wag­nis, ein Aben­teu­er, weil ihre Groß­mutter, eine feder­leich­te Per­son, kaum noch auf ihren eige­nen Füßen gehen kön­ne. Man habe sie in einem klei­nen, off­nen Elek­tro­au­to­mo­bil vor das Flug­zeug gefah­ren und das „uralte Mäd­chen“ mit­tels einer spe­zi­el­len Hebe­büh­ne zu einer beson­de­ren Tür am Heck des Flug­zeu­ges trans­por­tiert. Dort sei sie win­kend ver­schwun­den, um ihrer Enke­lin kurz dar­auf freu­de­strah­lend mit­tels eines Rol­la­tors im Gang des Flug­zeu­ges ent­ge­gen­zu­kom­men, als hät­ten sie sich Jah­re nicht gese­hen. Die alte Frau, deren Name Gali­na nicht erwähn­te, soll in ihrem Leben weit her­um gekom­men sein. Sie leb­te in der Ukrai­ne nahe Donezk, eini­ge Jah­re spä­ter zog sie nach Kir­gi­si­en wei­ter, auch dort, nahe der chi­ne­si­schen Gren­ze, wur­de die deut­sche Spra­che in einer Wei­se gespro­chen, dass ich sie nur mit Mühe ver­ste­hen wür­de, bemerk­te Gali­na. In Ägyp­ten habe ihre Groß­mutter stun­den­lang bis zu den Schul­tern mit Was­ser bedeckt im Meer gestan­den, sie habe sich an einem Schwimm­brett fest­ge­hal­ten und gesummt und gewar­tet, dass die Fische zu ihr kom­men. Ihr drei­ecki­ges Kopf­tuch, das sie immer­zu tra­ge, habe sie indes­sen so gebun­den, wie sie es von Grace Kel­ly lern­te. Abends saßen die jun­ge und die alte Frau in lind­grü­ne Bade­män­tel gehüllt im Hotel­zim­mer vor dem Bild­schirm eines Note­books. Sie waren via Sky­pe mit Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen in Donezk ver­bun­den, immer wie­der sei die Ver­bin­dung unter­bro­chen wor­den, ein­mal sei­en Deto­na­tio­nen zu hören gewe­sen, da habe sich ihre Groß­mutter ins Bett gelegt. Am nächs­ten Mor­gen schweb­te die alte Frau wie­der lan­ge Zeit im Meer dahin. — stop
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furcht vor pegida

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echo : 0.12 — Ihr Sohn heißt Miran, ihre Toch­ter Shirin. Sie selbst wur­de im Osten der Tür­kei gebo­ren, ihre Kin­der, 12 und 14 Jah­re alt, in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Einen Mann gibt es nicht mehr. Sie arbei­tet in einem Café, eine fröh­li­che, zier­li­che Frau, ihr Haar ist pech­schwarz, aber eigent­lich schon grau oder weiß. Seit sie im Café arbei­tet, ruhen unter Bee­ren-Muf­fins, Schwarz­wäl­der­kirsch Tor­te, Käse­ku­chen und Apfel­stru­del­schei­ben, auch kur­di­sche Plätz­chen, Kuli­ce, mit Wal­nüs­sen, Man­deln, Zimt und Zucker gefüllt. Ich weiß schon von der ein oder ande­ren wil­den Geschich­te, die sie erleb­te, kur­ze Geschich­ten sind das, eilig wäh­rend einer Tas­se Kaf­fee erzählt, eigent­lich klei­ne Roma­ne, weil ich sie nicht ver­ges­sen kann, weil sie sich fort­er­zäh­len wie von selbst. Ges­tern ist eine wei­te­re Geschich­te hin­zu­ge­kom­men. Anis­un berich­te­te, sie wer­de am kom­men­den Wochen­en­de nach einem Weih­nachts­baum suchen wie jedes Jahr um die­se Zeit, doch, doch, nach einem Weih­nachts­baum, in die­sem Jahr sei sie spät dran, ja, ja, mit allem, was man sich den­ken kann, aber elek­tri­sche Ker­zen, schon immer, seit die Kin­der in die Schu­le gehen, kom­me ein Baum ins Haus, ja, wir sind Alle­vi­ten, auch die Kin­der, aber immer haben wir Weih­nach­ten gefei­ert, man trifft sich, Freun­de, Schwes­tern, Brü­der, Onkel, Tan­ten, und kocht und freut sich, und die Kin­der bekom­men Geschen­ke, doch, doch, du brauchst dich nicht zu wun­dern, wir fei­ern gern, ja, ja, wir fürch­ten uns, eine Hand­voll Furcht, es ist ein schlim­mes Jahr gewe­sen, auch für uns Alle­vi­ten, das ist mei­ne Hei­mat hier, und wie­der fürch­te ich mich, wir spre­chen nicht viel dar­über, wir hof­fen, dass es nicht näher kommt. — stop 

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eidechsen

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echo : 1.35 — Eine Bekann­te, die in einem kur­di­schen Berg­dorf groß gewor­den ist, erzähl­te, sie habe als Kind im Som­mer mit Eidech­sen gespielt, im Win­ter hüpf­te sie vom Dach ihres Eltern­hau­ses in den Schnee. Es gab kein Tele­fon und die Schu­le lag drei Stun­den zu Fuß ent­fernt. Man konn­te die Kin­der von Wei­tem über den Weg sprin­gen sehen, wie sie nach Hau­se kamen, da hat­ten sie noch 2 Stun­den zu gehen. Eine kar­ge Land­schaft, kaum Bäu­me, aber blü­hen­de Büsche, deren Namen sich nicht so leicht in die deut­sche Spra­che über­set­zen las­sen. Ihren ers­ten Toten hat­te das Mäd­chen wahr­ge­nom­men, als sie noch nicht schrei­ben konn­te. Er lag auf dem Rücken auf einer Stra­ße unweit der Schu­le. Ein dün­ner Fluss von Blut kam unter dem Kör­per her­vor, auf dem Flie­gen klet­ter­ten. Sie habe die Augen fest zu gemacht, zu spät. Es ist jetzt eine sehr schwe­re Zeit für sie und ihre Fami­lie. Ich erzähl­te ihr von Fil­men, die ich gese­hen hat­te auf mei­nem Bild­schirm unterm Dach. Tau­sen­de Kin­der, Frau­en, Män­ner, die vor IS-Scher­gen in die Ber­ge flüch­te­ten ohne Was­ser und Nah­rung. Natür­lich kann­te sie alle die­se Bil­der. Ich sag­te, ich wäre bei­na­he sicher, dass die Art und Wei­se wie ich flüch­ten­de, lei­den­de Men­schen auf Bild­schir­men betrach­te, von der Art der Fern­rohr­be­ob­ach­tung sei. Sie ant­wor­te­te unver­züg­lich, lei­se Stim­me. — stop
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anna ludmilla

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nor­pol : 0.33 — Wäh­rend ich aus dem Fens­ter schaue, höre ich einen Bericht, der vom Fern­se­hen gesen­det wird. Uly­a­na M., das heißt die Stim­me ihrer Über­set­ze­rin, erzählt, sie habe mit ihrem Mann nahe Mariu­pol Zuflucht vor Gra­nat­be­schuss im Kel­ler eines Nach­barn gesucht. Ein Mann, den sie von Fer­ne kann­te, habe den Kel­ler ver­las­sen, um nach sei­nem Häus­chen zu sehen. Er sei nicht zurück­ge­kom­men. Als der Beschuss auf­ge­hört habe, sei­en sie zu ihrem Haus zurück­ge­kehrt. Auf dem Weg fan­den sie den Mann, der nach sei­nem Häus­chen gese­hen hat­te. Er lag in sei­nem Gar­ten ohne Kopf, sein Häus­chen brann­te. An die­ser Stel­le des Berich­tes mach­te die Stim­me, die ich hör­te, eine kur­ze, selt­sa­me Pau­se. Ich hat­te nicht den Ein­druck, dass die Stim­me der ori­gi­na­len Erzäh­le­rin Uly­a­na M. eine Pau­se mach­te, aber die Über­set­ze­rin macht eine Pau­se, ihre eige­ne Pau­se. Fünf Sekun­den spä­ter fuhr sie fort in ihrer Arbeit. Sie sag­te, man habe nach dem Kopf des Man­nes gesucht, man habe ihn gefun­den und zurück­ge­bracht zu dem Kör­per des Man­nes, der in sei­nem Gar­ten lag. – Frü­her Abend. Kas­ta­ni­en­bäu­me tief unten ste­hen bereits in Flam­men, Bahn­stei­ge der Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le bedeckt von Sta­chel­früch­ten, die nicht zer­plat­zen. Eich­hörn­chen­schat­ten tra­gen sie nachts davon, obwohl noch Anfang Sep­tem­ber ist. Anna Lud­mil­la L.. Ich erin­ne­re mich an Anna Lud­mil­la L., die in St. Peters­burg gebo­ren wur­de. Sie lebt seit 15 Jah­ren in Deutsch­land, woll­te Modell wer­den, heita­te­te, gebar eine Toch­ter und wur­de geschie­den. Seit Jah­ren arbei­tet sie in der Post­stel­le eines Frank­fur­ter Ver­lags­hau­ses. M. erzähl­te, Anna zwin­ke­re seit eini­gen Wochen, wenn man mit ihr spre­che, mit einem Auge, eine flat­tern­de Bewe­gung. Er habe sie ein­mal gefragt, wie es ihr gehe, wie ihrer Fami­lie, ob sie Ver­wand­te in der Ukrai­ne habe. Sie habe sich über sei­ne Fra­ge viel­leicht gefreut, er sei sich aber nicht sicher. — stop

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zenobe inc.

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MELDUNG. Von 3.00 bis 4.30 Uhr aus­ge­raubt wur­den bereits in der Nacht zum Frei­tag Zen­tral­la­ger fol­gen­der Fir­men: Mor­se & Co [ Lon­don ] sowie Zen­obe inc. [ Buda­pest ]. 3870 Model­le der Dampf­lo­ko­mo­ti­ven­gat­tun­gen DR 4137 sowie DR 4105 wer­den ver­misst, auch Gelei­se sowie Signal­an­la­gen [ Deut­sche Reichs­bahn ] : 18 Kilo­me­ter HO [ 15.008 Kar­tons ]. — stop
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geschichte von einem chinareisenden

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oli­mam­bo : 0.28 — Alles fing damit an, dass M. ein beson­de­res Schul­heft, wel­ches sich sei­ne Toch­ter wünsch­te, nicht bezah­len konn­te. In die­ser Sekun­de, da er die Ent­täu­schung in den Augen des Kin­des wahr­neh­men muss­te, ent­schloss sich der Vater zu han­deln. Er ran­gier­te sein klei­nes Auto aus der Gara­ge, roll­te Ersatz­rei­fen und Fahr­rä­der in den Gar­ten, feg­te Blät­ter und Papie­re auf die Stra­ße, ent­fern­te Ölfle­cken und Spin­nen­net­ze, dann begann er zu spa­ren. Er spar­te so sehr, dass er mager wur­de. Manch­mal besuch­te er abends nach der Arbeit sei­ne Gara­ge und stell­te sich vor, mit welch wun­der­ba­ren Waren er sie bald fül­len wür­de. Als er lan­ge genug gespart hat­te, 12 Mona­te und drei Wochen, setz­te er sich in ein Flug­zeug und reis­te nach Chi­na. Es war ein Aben­teu­er, er konn­te weder Chi­ne­sisch und noch Eng­lisch, er konn­te nur die tür­ki­sche und ein wenig die deut­sche Spra­che. Am Flug­ha­fen wur­de er abge­holt von einem Lands­mann, den er seit sehr lan­ger Zeit kann­te. Sie fuh­ren aus der Stadt Peking her­aus nord­wärts nach Yanging, dort besuch­ten sie eine Fabrik, die DVD-Schei­ben pro­du­zier­te, sie war groß wie eine klei­ne Stadt. Zwei Tage blieb M. noch in Peking, er besuch­te den Platz des himm­li­schen Frie­dens, dann flog er zurück nach Euro­pa. Vier wei­te­re Mona­te spä­ter lan­de­te ein Con­tai­ner im Ham­bur­ger Hafen an. Ein­hun­dert­tau­send DVD-Schei­ben, unbe­spielt, waren im Con­tai­ner ent­hal­ten. Zu die­sem Zeit­punkt ist das Ende der Geschich­te, einer wah­ren Geschich­te, noch voll­stän­dig offen. stop. Zwei Uhr acht­und­zwan­zig in Gaza City. – stop

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tian’anmen

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nord­pol : 2.21 — Ich erin­ne­re mich an ein Gespräch vor fünf Jah­ren mit Din. Ihre lei­se sin­gen­de Stim­me. Sie sei, als die Pan­zer kamen, in eine Sei­ten­stras­se geflüch­tet. Wie sie ihre Augen schloss, wie sie sag­te, sie habe kei­ne Men­schen mehr gese­hen nach kur­zer Zeit, eini­ge Freun­de nur, die sich an Häu­ser­wän­de drück­ten. Die Hand ihrer gro­ßen Schwes­ter. Die Druck­luft, die auf ihrem klei­nen Kör­per beb­te. Aber Men­schen­stil­le. Wie sie nach Wör­tern such­te, nach Wör­tern in deut­scher Spra­che, die geeig­net gewe­sen wären, zu beschrei­ben, was sie in dem Moment, da ich auf die Fort­set­zung ihrer Erzäh­lung war­te­te, hör­te in ihrem Kopf. Das fei­ne, selt­sa­me Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie am Aus­druck mei­ner Augen bemerkt, dass ich wahr­ge­nom­men haben könn­te, dass die Bil­der, die ich wuss­te, tat­säch­lich gesche­hen waren, das Mas­sa­ker auf dem gro­ßen Platz, stol­pern­de Men­schen, Men­schen auf Bah­ren, zer­malm­te Fahr­rä­der, der Mann mit Ein­kaufs­tü­ten in sei­nen Hän­den auf der Para­de­stra­ße vor einem Pan­zer ste­hend. Dann die Flucht ins häus­li­che Leben zurück wie in ein Ver­steck, das stum­me Ver­schwin­den jun­ger Leben für immer. -Du soll­test mit Stäb­chen essen, sag­te Din, das machst Du so, schau! — stop

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tucholsky : dos passos

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echo : 5.32 — Um kurz nach vier Uhr ent­de­cke ich das Patent eines Büro­stuhls, der sich mit Strom ver­sor­gen lässt, um Schla­fen­de durch leich­te oder mit­tel­schwe­re elek­tri­sche Schlä­ge zu wecken. Kurz dar­auf, schon hell, ein Text Kurt Tuchol­skys aus dem Jahr 1928. Ich zitie­re: John Dos Pas­sos, ›Man­hat­tan Trans­fer‹ Da ist ›Man­hat­tan Trans­fer‹ von John Dos Pas­sos (bei S. Fischer in Ber­lin). Die­ser hal­be Ame­ri­ka­ner, des­sen ›Drei Sol­da­ten‹ (im Malik-Ver­lag) gar nicht genug zu emp­feh­len sind, hat da etwas Gutes gemacht. Ich den­ke, dass die Mode der ame­ri­ka­ni­schen Roma­ne, die uns die Ver­le­ger und die Snobs durch Über­maß sacht zu ver­ekeln begin­nen, nach­ge­las­sen hat – und das ist auch gut so. Nicht etwa, weil ner­vö­se und wenig erfolg­rei­che Reak­tio­nä­re der Lite­ra­tur, zum Bei­spiel in den ›Münch­ner Neu­es­ten Nach­rich­ten‹, gegen die Über­set­zun­gen aus dem Fremd­län­di­schen pol­tern –, son­dern weil es zwi­schen der Hys­te­rie der Anbe­tung und der Neur­asthe­nie der Ver­dam­mung ein ver­nünf­ti­ges Mit­tel­maß gibt. Man soll frem­de Län­der ken­nen ler­nen – man soll sie nicht sofort seg­nen und nicht gleich ver­flu­chen. ›Man­hat­tan Trans­fer‹ ist ein gutes Buch – die Ame­ri­ka­ner haben sich da einen neu­en Natu­ra­lis­mus zurecht­ge­macht, der zu jung ist, um an den alten fran­zö­si­schen her­an­zu­rei­chen, aber doch fes­selnd genug. Es sind Foto­gra­fien, nein, eigent­lich gute klei­ne Radie­run­gen, die uns da gezeigt wer­den; ob sie echt sind, kann ich nicht beur­tei­len, die Leu­te, die lan­ge genug drü­ben gelebt haben, sagen Ja. Es ist die Lyrik der Groß­stadt dar­in, eine durch­aus männ­li­che Lyrik. Der Ein­sa­me auf der Bank: »Fein hast du dein Leben ver­saut, Josef Har­ley. Fünf­und­vier­zig und kei­ne Freu­de und kei­nen Cent, um dir güt­lich zu tun.« Das hat ein­mal so gehie­ßen: »Qu’as tu fait de ta jeu­nesse?«, und das ist von Ver­lai­ne und ist schon lan­ge her, aber doch neu wie am ers­ten Tag. Das Mäd­chen da liegt auf ihrem Zim­mer in der gro­ßen Stadt, schwimmt in der Zeit und ist so allein. Sehr schön, wie ein Mann auf der Bett­kan­te sitzt, und da ist eine Frau, sei­ne Frau, und ein Kind, sein Kind – und plötz­lich sieht er, dass er »hage­re röt­li­che Füße hat, von Trep­pen und Trot­toirs ver­krümmt. Auf bei­den klei­nen Zehen saß ein Hüh­ner­au­ge.« Und da hat er Mit­leid mit sich und weint. Das Buch ist auch for­mal gut – Dos Pas­sos ist nicht nur ein Dich­ter, son­dern auch ein begab­ter Schrift­stel­ler. Sehr hübsch ist die­se Denk­fi­gur, der man öfter bei ihm begeg­net: »Auf dem Trep­pen­ab­satz befand sich ein Spie­gel. Kapi­tän James Meri­va­le blieb ste­hen, um Kapi­tän James Meri­va­le zu betrach­ten.« Und die­se, die gra­de­zu pro­gram­ma­tisch ist und viel tie­fer als sie, leicht­ge­fügt, wie sie ist, zu sein scheint: »Nichts hat so viel Erfolg wie der Erfolg.« Eine ähn­li­che Dreh­tür des Stils steht bei Sin­clair Lewis, im ›Elmer Gan­try‹, einem Buch von dem hier noch aus­führ­lich die Rede sein soll … Ein ein­zi­ger Klub, heißt es da, wird Herrn Gan­try, den Pre­di­ger, viel­leicht auf­neh­men. »Des Anse­hens wegen. Um zu bewei­sen, dass sie unmög­lich den Gin in ihren Schrän­ken haben kön­nen, den sie in ihren Schrän­ken haben.« Die Über­set­zung von ›Man­hat­tan Trans­fer‹ durch Paul Bau­disch ist sau­ber und anstän­dig. Klei­ne Anmer­kung: Man sagt im Deut­schen kaum: »Das macht mich zipf­lig« –, son­dern wohl immer: »Das macht mich kribb­lig«. Und was ist dies hier? »Dü Mau­re­ta­nia läuft öben eun; vür­und­zwan­zig Stun­den Ver­spö­tung« – Spricht eine alte gezier­te Dame so? ein Ober­hof­pre­di­ger? Nein, das ist die Über­set­zung irgend­ei­nes ›slang‹, und die Män­ner, die sich mit Über­tra­gun­gen aus dem Eng­li­schen befas­sen, soll­ten sich das abma­chen. — Der Mor­gen kommt. Tau­ben sit­zen auf dem Fens­ter­brett. Sie haben gut geschla­fen. — stop
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radare

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kili­man­dscha­ro : 4.18 — Wie nach der Mel­dung eines Ter­ror­an­schla­ges Men­schen damit begin­nen, ihre Umge­bung abzu­su­chen nach Ver­däch­ti­gem. M., der in Mit­tel­eu­ro­pa lebt, erin­ner­te sich an L., der mor­gens im Zug auf dem Weg nach Hau­se im Koran gele­sen hat­te. Das war ein sehr klei­nes Buch gewe­sen, ein Buch wie aus einer Match­box, eine Art Miniko­ran oder etwas Ähn­li­ches. L., die vor lan­ger Zeit ihre Geburts­stadt in Sibi­ri­en ver­liess, befin­det sich seit Wochen in einem beben­den Zustand. Sie schläft kaum noch, erzählt, dass sie sich fürch­te. Ihre Mut­ter arbei­te in einer Biblio­thek der Hafen­stadt Odes­sa. L. sagt, sie ver­mei­de in der Öffent­lich­keit laut die rus­si­sche Spra­che zu spre­chen, auch mit der deut­schen Spra­che gehe sie vor­sich­ti­ger um, man höre sofort, dass sie aus dem Osten kom­me. Ein ira­ni­scher Freund, Z., der aus sei­nem Land flüch­te­te, um nicht in den Krieg gegen den Irak zie­hen zu müs­sen, berich­tet, er sor­ge sich um oder wegen der schla­fen­den, stau­bi­gen Män­ner am Flug­ha­fen, die auf ihre Flü­ge war­te­ten zurück nach Buka­rest oder Sofia. — stop

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tarasa shevchenko boulevard

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alpha : 3.12 — Auf Nacht­bän­ken schla­fen Men­schen, ärm­lich geklei­de­te Per­so­nen. Sie lie­gen mit ihrem Kopf auf Taschen, in wel­chen sich Aus­wei­se und Geld befin­den. Sobald Men­schen schla­fen erschei­nen sie in mei­nen Augen wie Kin­der, sie wir­ken zer­brech­lich, auch wenn sie bären­star­ke Män­ner sind, die vor Wochen noch in Rumä­ni­en oder Bul­ga­ri­en leb­ten. Stau­big sind sie gewor­den, ein stren­ger Geruch geht von ihren Kör­pern aus. Wenn sie wach wer­den am Mor­gen, wenn sie im gol­de­nen Licht der Flug­ha­fen­trans­fer­räu­me sit­zen, die Luft duf­tet nach fri­schem Gebäck und Kaf­fee, schau­en sie mit tod­mü­den, gerö­te­ten Augen in den Strom der Pas­sa­gie­re, fei­ne, edle Gestal­ten dort, vie­le schei­nen fröh­lich zu sein, sie füh­ren fla­che Com­pu­ter mit sich und Bord­zei­tun­gen, sind in graue oder blaue Anzü­ge gehüllt, in Beglei­tung schwe­ben­der oder rol­len­der Kof­fer. Es ist kurz nach sechs Uhr. Lang­stre­cken­flug­zeu­ge sind gelan­det, New York, Los Ange­les, Peking, Mum­bai, Bue­nos Aires, Otta­wa. Vor einer Roll­trep­pe war­ten zwei Frau­en. Die eine der Frau­en erzählt eine Geschich­te in deut­scher Spra­che mit rus­si­schem Akzent. Ich blei­be ste­hen, ich höre zu. Es ist eine Geschich­te, die von der Stadt Kyjiw han­delt. Sie sei, sagt die Frau, im Juli des Jah­res 1986 nach Kyjiw gekom­men, um dort zu sin­gen, das heißt, ein Kon­zert zu geben. Sie erin­ne­re sich an blei­graue Roh­re, die aller­or­ten ent­lang der Häu­ser­wän­de in den Stra­ßen ver­legt wor­den sei­en. Was­ser ström­te aus die­sen Roh­ren über Geh­stei­ge, es war dar­um so gewe­sen, um radio­ak­ti­ven Staub, der von der Luft her­an­ge­tra­gen wur­de, fort zu waschen. Für einen Moment der Ein­druck, die Frau habe bemerkt, dass ich ihrer Geschich­te fol­ge und dass sie nichts dage­gen ein­zu­wen­den hat. Sie ent­nimmt ihrer Hand­ta­sche sie­ben Aus­wei­se in wein­ro­ter Far­be, Rei­se­päs­se, ungül­tig gewor­de­ne Doku­men­te, in einem die­ser Aus­wei­se befin­det sich ein Stem­pel, jener Stem­pel, der die Rei­se nach Kyjiw doku­men­tiert. Es ist eine Fra­ge von Sekun­den, bis die Frau mit ihrem rech­ten Zei­ge­fin­ger das Papier, auf dem der Stem­pel seit Jah­ren fest­ge­hal­ten ist, berüh­ren wird. — stop

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