himalaya : 12.52 UTC – Hühnerherzen, wie klein sie doch sind, 32 Stück zu 2 € 18 in einer Box, 32 Herzwesen, haltbar (gekühlt) bis Samstag. Seltsame Sache, noch immer, seit oder nach 12 Jahren, seltsam. Ich sollte mich im Warenhaus auf einen Gartenstuhl setzen und warten, um endlich herauszufinden, wer Herzwesen zum Verzehr oder zum Herzkammerstudium mit sich nehmen wird. Heute ist Dienstag. — stop
Aus der Wörtersammlung: box
delay line
zoulou : 23.02 UTC — Ein heißer Tag vor 12 Jahren. Tatsächlich Sommer. Vater, der im Rollstuhl im Garten sitzt, bittet mich, ein Glas Milch zu holen. Ich stehe vor dem Kühlschrank. Die Tür des Kühlschranks ist offen. — In der vergangenen Nacht im Halbschlaf immer wieder der Gedanke, dass ich vergessen hatte, Vater das Glas Milch in den Garten zu tragen. Ich suchte im Traum nach dem Kühlschrank. Ich holte ein Glas Milch und trat in den Garten. Ich dachte noch: Es ist Nacht, Vater ist längst nicht mehr unter uns. Ich stellte das Glas auf einen Tisch und legte mich wieder ins Bett zurück — Im Jahr 1978 besuchte ich Vater an seinem Arbeitsplatz im Kernforschungszentrum CERN. In der Box der Wissenschaftler war es heiß und schwül. Ventilatoren rauschten. Vater war jung gewesen. Der Pullover, noch bekannt im Sommer vor 12 Jahren, vermutlich auch die Hose, die er auf einer Fotografie festgehalten war, welche ich gestern entdeckte. Vater und sein Team verlegten Leitungen, Kilometer um Kilometer über Spulen, um Signale in der Zeit zu verzögern. Elektrische Signale sind lautlose Wesen. — Sommer. Die Nächte warm. — stop
CERN
im Sommer einer
Nachtschicht
auf der flucht
olimambo : 20.28 UTC — Wie nach der Meldung eines Terroranschlages Menschen damit beginnen, ihre Umgebung abzusuchen nach Verdächtigem. M., der in Mitteleuropa lebt, erinnerte sich an L., der morgens im Zug auf dem Weg nach Hause im Koran gelesen hatte. Das war ein kleines Buch gewesen, ein Buch wie aus einer Matchbox, eine Art Minikoran oder etwas Ähnliches. L., die vor langer Zeit ihre Geburtsstadt in Sibirien verließ, befindet sich seit Wochen in einem bebenden Zustand. Sie schläft kaum noch, erzählt, dass sie sich fürchte. Ihre Mutter arbeite in einer Bibliothek der Hafenstadt Odessa. L. sagt, sie vermeide in der Öffentlichkeit laut die russische Sprache zu sprechen, auch mit der deutschen Sprache gehe sie vorsichtiger um, man höre sofort, dass sie aus dem Osten komme. Ein iranischer Freund, Z., der aus seinem Land flüchtete, um nicht in den Krieg gegen den Irak ziehen zu müssen, berichtet, er sorge sich um oder wegen der schlafenden, staubigen Männer am Flughafen, die auf ihre Flüge warteten zurück nach Bukarest oder Sofia. — Eine große Flucht hat begonnen im Osten. Aus dem Radio und von den Bildschirmen her kommen Fäden heran, die vom Krieg berichten. Menschen an den Grenzbahnhöfen erzählen: Wir haben kleine Rucksäcke auf dem Rücken damit wir rennen können. Vor Computermaschinen hocken Menschen und betrachten Live-Bilder des nächtlichen Maidan zu Kyjiw. Warum! — stop
lärm
zoulou : 18.55 UTC — Im Park haben, von Bambuswäldern aus, Bienenschwärme Angriffe auf Parkbesucher geflogen. Die Bienen sind unsichtbar, aber ihr helles dröhnendes Tausendfach gesetztes Summen, lässt Besucher zurückweichen, sie müssen sich nicht einmal zeigen, das geht sofort unter die Haut, läutet ein urtümliches Gedächtnisgeräusch Gefahr, das den spazierenden Menschen als Art vertraut zu sein schneit. Auch die Vögel, die den Park bewohnen sind dort stumm. Wale, die den nahenden Teich bewohnen, singen pünktlich einmal zum Ende der Stunden aus Lautsprecherboxen, die unsichtbar sind wie die Bienen. — stop
von der wally nocheinmal
echo : 20.12 UTC — Meine Lieblingstante zum Beispiel, ein wunderbares Geschöpf, das an Sonntagen immer oder an Montagen von München aus zu Besuch gekommen war. Wir nannten sie Wally. Sie hatte sehr weiche, rosige Haut und immerzu kühle Hände und war von einem Ballon Lavendelluft umhüllt. Da war Moos, ein moosgrünes Kleid, und da war ein spinnseidiges Haarnetz (Warum?), und eine rußige Stirn zur Winterzeit, und das Rascheln der Papiertüten, und Lauchgemüse, das dort herausragte, und kleine Geschenke, die sie uns Kindern mitbrachte, — Matchboxautos, Füllfederhalter, Malbücher -, und ihre Schenkel, auf denen ich turnte, der nasse, bittere Kuss, der niemals abgewendet werden konnte. Eine Brille, nicht wahr, saß locker auf ihrer Nase, ein Gestell von Holz, darin runde Gläser, die ich gern mit meinen Fingern berührte. Irgendwann einmal erzählte mir jemand, die Wally sei 1919, als Räte ihre Heimatstadt verteidigten, im Kugelhagel über die Münchener Gollierstraße gerobbt. Deshalb die Pistole in ihrer Tasche, deshalb das Feuer in ihren Augen. Seit einigen Stunden versuche ich zu erinnern, ob die alte Tante Wally mir je von der spanischen Grippe erzählte, die sie zweifellos in München erlebt haben muss. — stop
nuris drache
echo : 18.02 UTC — Nuri erzählt, er habe unlängst einen Drachen gebaut, so wie ihn bereits sein Vater baute, Knochenstreben vom Holz der Blauglockenbäume, Flughäute aus Transparentpapieren in dunkelblauer und dunkelroter Farbe. Ein sehr langer Schweif war da außerdem noch, an dessen Ende wiederum eine Box befestigt worden war, leicht, ein Tonabspielgerät von der Größe einer Walnuss. Dort drin spielt eine Computermaschine Benny Goodman nicht sehr laut, aber doch weithin hörbar. So geht man dann in den Park, wenn man einen Drachen baute, wie Nuri ihn erzählte. Und wie der Drache singend an Höhe gewinnt, nun, die Vögel. — stop
radionuklid
alpha : 10.08 UTC — In der Vergangenheit, heute wieder, habe ich mir oft gewünscht, mein Leben würde aus der Sicht eines Vogels aufgezeichnet, aus der Sicht eines Vogelwesens, das mich begleitet, Gespräche beispielsweise, die ich täglich mit Menschen führe oder heimliche Gespräche mit mir selbst. Auch würde aufgenommen, was ich gesehen habe, während ich reiste, einen Kentauren auf einer der Uschkanji-Inseln, Regentropfen am Strand von Coney Island, eine Ameise auf Georges Perec’s Schulter während einer Fahrt in der Pariser Metro, meinen schlafenden Körper. Manchmal ist es angenehm, sich zu wünschen, was nicht möglich zu sein scheint, eine große Freiheit der Spekulation. In den vergangenen Jahren wurde mir immer wieder einmal bewusst, dass die Verwirklichung eines mich begleitenden Vogelwesens nicht länger utopisch ist. Ich vermag mir eine fliegende Maschine, ohne weitere Anstrengung vorzustellen, ein künstliches Luftwesen, vier Propeller, angetrieben von einer leichten Radionuklidbatterie, die sich tatsächlich für Jahrzehnte an meiner Seite in der Luft aufhalten könnte, ein beinahe lautloses Wesen in der Gestalt eines Kolibris, eines Taubenschwänzchen oder einer Biene. Kaum wird das Flugobjekt aus seiner Transportbox gehoben und aktiviert, wird es für immer meiner Person verbunden sein, meinem persönlichen Luftraum, den ich mit mir führe, wohin ich auch gehe. Seltsam ist vielleicht, dass es gleichwohl unmöglich sein wird, dieses Wesen je wieder einzufangen, weil es sehr schnell ist in seinen Reaktionen, schneller als meine Hand, schneller als eine Gewehrkugel, ein Wesen, das über die Flugfluchtfähigkeiten einer Stubenfliege verfügt. — stop
nachts
romeo : 5.22 — Es war Nacht und ich hockte in meiner Küche und schälte sehr langsam einen Apfel. Kurz darauf hörte ich ein raschelndes Geräusch, dessen Ursache sich in meinem Kühlschrank aufzuhalten schien. Ich wartete einige Minuten. Zunächst wieder Stille, dann erneut ein raschelndes Geräusch. Unverzüglich öffnete ich die Tür zum kühlen Raum, der hell beleuchtet war. Wie ich so auf einem Stuhl im Licht meines Kühlschrankes saß und wartete, dass sich dort etwas Unbekanntes zeigen möge, das Geräusche verursacht, begann ich damit, das sichtbare Gut im Schrank zu befragen, die Marmelade zum Beispiel, ein Gläschen voll Aprikosengelee, ob es denn möglich wäre? Oder der Senf, die Feigen in ihrer Feigenbox, Butterwaren. Aber auch das italienische Brot rührte sich nicht. Ich erinnerte mich in diesem Augenblick der Kühlschrankbeobachtung an ein Kind, das immer wieder einmal die Tür eines längst verschwundenen Eisschranks aufriss, um nach der Dunkelheit zu sehen, die angeblich verlässlich eintreten sollte, sobald die Tür des Kühlschrankes geschlossen wurde. Ich legte mich dann wieder ins Bett. — stop
leere seite
sierra : 10.22 UTC — Einmal beobachte ich einen Mann, der anhand der Gestalt von Schriftzeichen, die auf Briefumschlägen zu finden sind, Diagnosen erstellt. Er mache das seit vielen Jahren. Zur Betrachtung wird also ein Brief, der zu untersuchen ist, aus einer Box gehoben, um ihn unter das Licht einer starken Lampe zu legen. Der Mann sagt: Die Person, die diesen Brief nach London sendete, war im Moment, da sie ihren Brief adressierte, betrunken. Er nimmt einen weiteren Brief aus der Box: Dieser Brief nach Zürich wurde von einer Frau notiert, die glaubte, ihre Zeit sei abgelaufen. Das hier ist ein ganz seltsames Exemplar, nicht wahr, warum überhaupt jedes Schriftzeichen auf dem Briefumschlag vergessen wurde, können wir erst dann mit Sicherheit sagen, wenn wir den Brief geöffnet haben Erden, schöne Briefmarke. Hier haben wir einen Brief, dessen Adresse nur scheinbar von Hand gesetzt worden ist, bei genauer Ansicht ist Folgendes deutlich zu erkennen: Die Anschrift „To Lady Charlotte Ridlinger, NY, 210 Lexington Avenue“ wurde von einer Maschine gestempelt. — stop
minutenzeitung
himalaya : 5.16 — Gestern erzählte Mutter, nein, nein, sie lese keineswegs langsamer durch ihre morgendliche Zeitung als früher noch, vielmehr seien die Zeitungen selbst schwerer, das heißt, umfangreicher oder dicker geworden. Das könne niemand mehr lesen, jeden Tag eine neue dicke Zeitung. Ich dachte, man müsste einmal die Zeit anhalten, sagen wir für zwei oder drei Monate. Alles würde zitternd stillstehen auf unserer Erdkugel, allein Journalistinnen und Journalisten wären noch beweglich. Sie reisen nun herum, betrachteten fünf Minuten Zeit weltweit, die sich überall so lange wiederholt, bis sie von Sprache und Fotografie erfasst sein wird. In einem Flüchtlingslager hält eine Großmutter ein gerade geborenes Kind aus einem Zelt heraus, der Vater kippt etwas Regenwasser über den kleinen rosafarbenen Leib, und schon sind fünf Minuten Zeit vergangen und das Kind wieder in den Leib der Mutter zurückgekehrt. Als das Kind unverzüglich erneut geboren wird, sind drei weitere Fotografen vor das Zelt getreten, um das Kind zu fotografieren, wie es von seinem Vater gewaschen wird. In Oslo stoßen zwei Straßenbahnen so lange gegeneinander, bis endlich über sie berichtet wird. Auf Neuseeland, nahe Parapara, fällt ein Kind von einem Baum, Minutenweise klettert es wieder hinauf und fällt wieder zu Boden, ehe ein Reporter vorüber kommen wird, um vielleicht gerade noch rechtzeitig das Kind aufzufangen. Auch die alte Martha will bemerkt werden, sie hat wieder einmal ein paar Matchboxautos verschluckt in London im Kaufhaus bei Harrods. Eine umfangreiche Zeitung könnte entstehen, eine Weltzeitung von 5 Minuten Zeit, die von zehntausenden Journalisten notiert wurde, die wie Wanderameisen Blätter, Wörter, Gedanken, Fotografien sammelten, um zu erzählen, was der Fall ist. – Fünf Uhr sechzehn in Idomeni, Griechenland. – stop