Aus der Wörtersammlung: elektrisch

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meine hände : sars cov 2

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zou­lou : 15.58 UTC — Hän­de, mei­ne Hän­de, die sich beneh­men, als wären sie Lebe­we­sen für sich, dahin tas­ten, dort­hin tas­ten, über Hand­läu­fe glei­ten, Klin­gel­knöp­fe berüh­ren, Äpfel und Bir­nen, ein Päck­chen, ein Buch, ein Tele­fon, mei­ne Schreib­ma­schi­ne, auch plötz­lich, ich bemer­ke es zu spät, über mei­ne Stirn spa­zie­ren, über Nase und Mund, weil sie sich Jahr­zehn­te lang unge­straft in die­ser Wei­se bewe­gen durf­ten. Wie nur soll ich sie kon­trol­lie­ren? Ich dach­te an Glöck­chen, die an mei­nen Fin­gern befes­tigt, mich war­nen wür­den, sobald ich mei­ne Hän­de bewe­ge, damit ich sie nie­mals ver­ges­se, oder an elek­tri­sche Kon­takt­blätt­chen, die mich per Funk­si­gnal unver­züg­lich infor­mie­ren wür­den, sobald ich mich mit mei­nen Hän­den eben Mund, Nase Wan­gen, Stirn und Augen, zu nähern droh­te. Selt­sa­me Sache. — stop
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flugstunde

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romeo : 2.03 UTC — Fol­gen­des habe ich mir vor­ge­stellt in einem Abend­zug sit­zend von einer Minu­te zur ande­ren, Vögel näm­lich, die über einen som­mer­li­chen Him­mel ras­ten, ein­an­der locken­de, Haken schla­gen­de Künst­ler, man­che flo­gen wei­te Stre­cken auf dem Rücken dicht über den Boden hin. Das war ein Vogel­him­mel wild blü­hen­der Wie­sen, Bie­nen­ge­schos­se, schwe­ben­de Brumm­krei­sel­pil­ze. Unter einem Baum kau­er­ten ein paar Kin­der, die schraub­ten an fau­chen­den Tau­ben­köp­fen her­um, eine Geschich­te feins­ter Werk­zeu­ge, jawohl, eine Geschich­te auch elek­trisch knis­tern­der Pla­ti­nen, die unter jener vor­ge­stell­ten Wie­se ver­bor­gen lagen. Ich ruh­te dann bald selbst auf dem fun­ken­den Boden und mein­te noch das Sin­gen der Kno­chen­sä­gen hin­ter mei­nen Ohren zu hören. Dann auf und davon, senk­recht in Spi­ra­len eines Unge­üb­ten gegen die Wol­ken. — Heu­te, so sehr ich auch mei­ne Ohren bemü­he, ist aus dem Radio nichts zu ver­neh­men. — stop

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robotslogfile

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oli­mam­bo : 5.58 UTC — Vor bald 10 Jah­ren schrieb mir Leroy einen Brief auf Papier. Er notier­te: Lie­ber Lou­is, seit sechs Wochen nun bin ich online. Man kann mich lesen so oft und so lan­ge man möch­te, ohne einen Cent dafür bezah­len zu müs­sen. Das ist ein ange­neh­mes Gefühl durch­aus. Ich hat­te die­ses Gefühl so nicht erwar­tet. Manch­mal sit­ze ich vor dem Bild­schirm und beob­ach­te mei­nen Text auf dem sel­ben Weg, den auch ande­re neh­men, um mich lesen zu kön­nen. Ich bin begeis­tert davon, dass ich dem Text nicht anzu­se­hen ver­mag, ob ihn gera­de in die­sem Moment ande­re Augen betrach­ten, weil es doch der­sel­be Text mit dem sel­ben Ursprung ist. Ich wer­de noch dahin­ter­kom­men, bis dahin wun­de­re ich mich wei­ter. Ges­tern war Sin­ger zu Besuch, der sich aus­kennt in digi­ta­len Din­gen. Er frag­te, ob ich ihm sagen kön­ne, wie vie­le Men­schen denn mei­ne elek­tri­schen Tex­te besuch­ten. Ich erzähl­te ihm, dass ich selbst­ver­ständ­lich Nach­richt davon erhal­ten habe. Ich genie­ße, sag­te ich, die Auf­merk­sam­keit eini­ger Leser in Island, Ame­ri­ka, Togo, Deutsch­land, der Schweiz, den Nie­der­lan­den, Chi­na, Eng­land, Frank­reich, Marok­ko, Spa­ni­en. Man­che kom­men sehr häu­fig und lesen, sie kom­men stünd­lich vor­bei, auf die Sekun­de genau, ande­re eher sel­ten, als wür­de sie mich gele­sen haben und sofort wie­der ver­ges­sen. Ich hol­te uns am Kiosk eine Limo­na­de, wäh­rend Sin­ger sich mit mei­nen Log­files beschäf­tig­te. Als ich zurück­kam, hör­te ich Sin­ger lachen, in dem Moment genau, da ich die Tür öff­ne­te, hör­te ich Sin­ger lachen. Dann hör­te er auf, und wir spra­chen über Kak­teen und ihre Win­ter­blü­te, und dass er bald wie­der für eini­ge Mona­te nach Mana­ro­la rei­sen wür­de, wo es mild sei im Win­ter. Kurz dar­auf schlief ich ein. Ich erwach­te vom Lärm vie­ler Stim­men. Auf der Stra­ße lie­fen Men­schen hin und her, es war frü­her Nach­mit­tag, ich wuss­te, dass die Nacht für mich zu Ende war. Heu­te ist also Sonn­tag. Ich grü­ße Dich. Dein Leroy. — Das Radio erzählt, die Stadt Mariu­pol sei nun für immer und ewig eine rus­si­sche Stadt. Selt­sa­me Sache. - stop
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morgenzeitung

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tan­go : 0.38 UTC — Im Früh­ling des Jah­res 2016 über­leg­te Mut­ter, ob sie ihre gelieb­te Zei­tung, die sie ein hal­bes Leben lang jeden Mor­gen in aller Frü­he stu­dier­te, nicht viel­leicht abbe­stel­len soll­te, weil sie nicht mehr so schnell lesen wür­de wie frü­her noch, also weni­ger Zei­tung wahr­neh­men kön­ne in der sel­ben Zeit. Sie rief bei der Zei­tung an. Ein jun­ger Mann, der die Gefahr erkann­te, eine treue Lese­rin zu ver­lie­ren, mach­te ihr unver­züg­lich ein groß­zü­gi­ges Ange­bot. Er sag­te, wenn sie die Zei­tung wei­te­re 2 Jah­re abon­nie­ren wür­de, müss­te sie ein hal­bes Jahr lang für ihre Zei­tung nichts bezah­len, wes­we­gen mei­ne Mut­ter sofort von ihrem Wunsch, sich um ihr Lese­ver­gnü­gen zu brin­gen, Abstand nahm. Sie abon­nier­te also die Zei­tung für wei­te­re 2 Jah­re, obwohl sie doch mög­li­cher­wei­se lang­sa­mer und noch lang­sa­mer lesen wird von Zeit zu Zeit, also jener Teil der Zei­tung, der unge­le­sen, grö­ßer wer­den wird. Der jun­ge Mann am Tele­fon hat­te im übri­gen auch für die­ses Pro­blem unge­le­se­ner Zei­tungs­ab­tei­le eine beru­hi­gen­de Mit­tei­lung zu machen. Er sag­te, die Zei­tung wür­de auch dann gedruckt, wenn Mut­ter sie abbe­stel­len wür­de, was ver­mut­lich der Fall ist, ein Argu­ment, das wirk­te. Als ich Mut­ters Geschich­te hör­te, dach­te ich, man müss­te ein­mal elek­tri­sche Papie­re erfin­den, hauch­dün­ne Com­pu­ter­bild­schir­me, die zu einem Gefäß ver­sam­melt sind, das sich anfühlt wie eine Zei­tung. Über Funk wür­den Zei­chen gesen­det wer­den, gera­de so vie­le Zei­chen wie übli­cher­wei­se gele­sen wer­den von dem Besit­zer des Zei­tungs­ge­fäs­ses, Zei­chen über Lite­ra­tur und Loka­les und über die Poli­tik der gro­ßen, wei­ten Welt. Eine Zei­tung mit Augen, eine Zei­tung, die ver­merkt, wie vie­le ihrer Zei­chen prä­zi­se gele­sen wer­den, eine Zei­tung bei­na­he wie ein Com­pu­ter, oder, genau­er gesagt, ein Com­pu­ter, der sich wie eine Zei­tung anfüh­len wür­de, in dem man blät­tern könn­te, ein Com­pu­ter der raschelt, oder eben eine Zei­tung, die man aus­schal­ten kann. — Das Radio erzählt, in Mariu­pol irr­ten ver­wirr­te Men­schen durch ver­wüs­te­te Stras­sen. Sie mach­ten den Ein­druck, sie sei­en auf der Suche. — stop

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loop

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romeo : 0.58 UTC — Noch eh ich das Fern­seh­ge­rät in Gang set­ze, weiss ich was gespielt wird. Viel­leicht wird’s mich im Herbst wie­der fröh­li­cher stim­men? Seit heu­te ver­fü­ge ich über einen fei­nen Pin­sel, mit dem ich Kaf­fee­pu­der aus den Maga­zi­nen mei­ner Kaf­fee­müh­le fächern wer­de. Als ich Kind war, lern­te ich, dass ich mit einem Pin­sel die­ser Art nicht in Farb­töp­fe fah­ren darf. Wie es wohl kommt, dass Geschich­ten plötz­lich wie aus dem Nichts ent­ste­hen? Die Geschich­te von den Apfel­bäu­men zum Bei­spiel. Im Radio mor­gens noch war von Haar­pin­seln und Bie­nen die Rede gewe­sen. — stop
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mutter giraffe

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ulys­ses : 6.28 UTC — Ich träum­te, mei­ne Mut­ter wür­de von einer Stra­ßen­bahn über­rollt wor­den sein. Sie hat­te den schwe­ren Unfall im Traum über­lebt, aber ihr Hals war nun lang wie der Hals einer Giraf­fe. Weil ihr dort, wo Giraf­fen am Hals über erheb­li­che Mus­kel­pa­ke­te ver­fü­gen, jede Stüt­zung fehlt, wur­de ein Gerüst von fei­nem Kirsch­baum­holz gezim­mert, eine Röh­re, durch die zur Säu­be­rung Was­ser ein­ge­lei­tet wer­den könn­te. Getra­gen wird die Kon­struk­ti­on von einem fahr­ba­ren elek­tri­schen Stuhl, den mei­ne Mut­ter nun bewohnt, in wel­chem sie sit­zen, aber auch zum Spa­zie­ren fah­ren kann. In einem wei­te­ren Traum­seg­ment hat­te sich der Kopf mei­ner Mut­ter tat­säch­lich in den Kopf einer Giraf­fe ver­wan­delt. Sie leb­te an einem Ort wei­te­rer Giraf­fen­men­schen. Ich sah die­se wun­der­ba­ren Wesen majes­tä­tisch durch die Parks der Umge­bung strei­fen. Da und dort führ­ten Lei­tern in die Kro­nen der Kas­ta­ni­en­bäu­me. — stop
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von händen

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india : 22.28 — Hän­de, mei­ne Hän­de, die sich beneh­men, als wären sie Lebe­we­sen für sich, dahin tas­ten, dort­hin tas­ten, über Hand­läu­fe glei­ten, Klin­gel­knöp­fe berüh­ren, Äpfel und Bir­nen, ein Päck­chen, ein Buch, ein Tele­fon, mei­ne Schreib­ma­schi­ne, auch plötz­lich, ich bemerks zu spät, über mei­ne Stirn spa­zie­ren, über Nase und Mund, weil sie sich Jahr­zehn­te lang unge­straft in die­ser Wei­se bewe­gen durf­ten. Ich dach­te an Glöck­chen, die an mei­nen Fin­gern befes­tigt, mich war­nen wür­den, sobald ich mei­ne Hän­de bewe­ge, damit ich sie nie­mals ver­ges­se, an elek­tri­sche Kon­takt­blätt­chen, die mich per Funk­si­gnal unver­züg­lich infor­mie­ren wer­den, sobald ich mich mit mei­nen Hän­den eben Mund, Nase, Wan­gen, Stirn und Augen zu nähern dro­he. — stop

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sammlung

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echo : 0.22 UTC — Ent­deck­te an die­sem Tag eine Samm­lung der Roma­ne, Erzäh­lun­gen und Jour­na­le Paul Nizons in einem Band. Das elek­tri­sche Waren­haus, wel­ches die­ses Buch ver­brei­tet, — nur noch sie­ben Exem­pla­re sol­len vor­rä­tig sein -, wirbt für den Kauf mit einer Preis­er­spar­nis von 82 Pro­zent, ein schwe­res Pro­dukt, in dem sich Buch­we­sen auf­lö­sen und die Zeit, in der sie zur Welt gekom­men sind. — Ein­mal, vor zehn Jah­ren, war ich Paul Nizon wie­der ­be­geg­net. Ich beob­ach­te­te, wie er in Paris eine sei­ner Arbeits­woh­nun­gen spa­zier­te. Natür­lich waren zwi­schen ihm und mir eine Kame­ra­lin­se, ein Bild­schirm und dort etwas ver­gan­ge­ne Zeit auf­ge­spannt. Trotz­dem konn­te ich ihn gut erken­nen. Er trugt einen klei­nen run­den Bauch vor sich her und sein Haar war grau gewor­den, und doch war er ganz der alte, ver­ehr­te Schrift­stel­ler geblie­ben. Vor allem sei­ne schö­ne Stim­me, das sorg­fäl­ti­ge Spre­chen, die war­me Melo­die der Spra­che, das Schwei­ze­ri­sche, hier waren sie wie­der, und auch das Ton­band­ge­rät, das auf einem Tisch ruhend die Luft­wel­len der notier­ten Sät­ze eines Tages erwar­te­te. Kurz dar­auf erin­ne­rte ich, dass ich Paul Nizon ein­mal per­sön­lich begeg­nete in der Stra­ße, in der ich noch immer woh­ne, und dar­an, dass ich damals dach­te: Er ist klei­ner, als ich erwar­tet habe. Er trug einen grau­en Man­tel, weiß der Teu­fel, wes­halb ich die Far­be sei­nes Man­tels gespei­chert habe, und einen Hut, neh­me ich an. Da war noch etwas Wei­te­res gewe­sen, mein Herz näm­lich schlug in einer Wei­se, dass ich’s in mei­nem Kopf hören konn­te. — Ein Früh­lings­abend. Und ich sag­te zu mir: Lou­is, reg dich nicht auf! Du bist an einem fla­nie­ren­den Geist vor­über­ ge­kom­men. — stop

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ein millionstel gramm wort

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echo : 16.25 UTC — Ich ver­fü­ge über eine wei­te­re, über eine 5. Schreib­ma­schi­ne. Das ist so, weil ich sie mir gekauft habe. Leicht ist sie und flach. Wenn mei­ne neue Schreib­ma­schi­ne in der Hit­ze der Tag- oder Abend­luft atmet, um sich zu küh­len, ist von ihren Atem­ge­räu­schen selbst dann, wenn ich ein Ohr an ihr Gehäu­se lege, nichts zu hören. Ich könn­te sie unter mei­nem Hemd ver­ber­gen, weil sie so flach ist, nie­mand wür­de sie bemer­ken. Ein­mal notier­te ich: Wenn das so wei­ter geht mit dem Leich­ter­wer­den der Schreib­ma­schi­nen, wer­de ich bald Schreib­wer­ke zur Ver­fü­gung haben, die von gerin­ge­rer Schwe­re sind als die Papie­re, die ich mit ihren Zei­chen fül­le. — Wie viel genau wiegt eigent­lich die­ses elek­tri­sche Wort, das gera­de vor mir auf dem Bild­schirm erscheint? S i e r r a. Wie vie­le Male wird das Wort S i e r r a heu­te oder mor­gen auf wei­te­ren Bild­schir­men auf­ge­ru­fen wer­den, wie lan­ge Zeit jeweils sicht­bar sein? Es ist denk­bar, dass das Wort S i e r r a , das in Euro­pa vor weni­gen Minu­ten ver­zeich­net wur­de, schwe­rer wiegt, sobald es in Aus­tra­li­en auf einem Bild­schirm erscheint, als das sel­be Wort, wenn wir es in Euro­pa lesen, 1 Mil­li­ons­tel Gramm schwe­rer, sagen wir, um 1 Mil­li­ons­tel Gramm Koh­le schwe­rer und um den Bruch­teil einer Sekun­de. Sams­tag. — stop. 12° Cel­si­us bei wol­ken­lo­sem Him­mel. stop. Wer könn­te nun bewei­sen, dass die­ser Text nicht bereits von einer Maschi­ne geschrie­ben wur­de, die über künst­li­che Intel­li­genz ver­fügt? — stop /  tags: machi­ne lear­ning . ten­sor­flow . text mining . natu­ral lan­guage pro­ces­sing . code­path . turing test. 

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japan

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romeo : 18.22 UTC — Boh­u­mil Hra­bal notiert in sei­nen Arbeits­hef­ten, er sei mit allem, was sich vor sei­nen Augen abspie­le, unver­züg­lich durch einen fes­ten Schlauch ver­bun­den, wie das Kind durch die Nabel­schnur mit dem Leib sei­ner Mut­ter. — Auch mei­ne Schreib­ma­schi­ne scheint, wäh­rend ich notie­re, der elek­tri­schen Welt mit­tels hun­der­ter Ping — Fäden ver­bun­den zu sein. Ihre heim­li­chen Bli­cke. Oder heim­li­che Bli­cke zu ihr hin. Um 18 Uhr 15 MEZ mel­det mein Netz­werk­mo­ni­tor 1180 akti­ve Ver­bin­dun­gen in alle Welt: Nach Chi­na, in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka, nach Aus­tra­li­en, Schwe­den, Däne­mark, Argen­ti­ni­en, Kana­da, Irland, Ita­li­en, Rumä­ni­en, Ruß­land, Japan. stop —  Beun­ru­hi­gen­de Geschich­te. — stop
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