olimambo : 15.12 UTC — Einmal entdeckte ich das Wort Spinnfaden. Ja, dachte ich, derart fein sollten Erzählungen ausgedacht sein, dass sie sich wie an einem Spinnfaden entlang bewegen, der jederzeit reißen könnte. Nicht telefonieren. Nicht spazieren. Nicht Radio hören. Nicht atmen. Einer, der schweigt, sollte gut geschlafen haben. — stop
Schlagwort: erzählung
schwarmerzählung
nordpol : 15.08 UTC — In den Monaten Dezember und Januar lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Akutagawa . Ammerseestraße . Aquarianergeschichte . Birders . Blütenbestäuber . Drohnenleuchten . Drohnenwabe . Erzählräume . Favicon.ico . Heron . Karpenzungenpastete . Holzstegfeder . Kolonialwarenladen . Lichtenbergfalter . Lichtfangmaschine . Lochplattenspieldose . Makitage . Mundnasemaske. Mundschutzalgorithmus . Nashornkäfer . Pistazienhühnchen . Rückenpropellerdrohne . Pigafetta . Propellerkäfer . Perlschiff . Picon . Schneekugelgestalten . somnolent . Schwarmerzählung. — stop
ja bitte?
echo : 15.02 UTC — In den Archiven meiner flachen Glasschreibmaschine sind letzte Gespräche geborgen, die ich vor zwei Jahren im Sommer mit meiner Mutter führte. Sie war im Haus der alten Menschen plötzlich wieder wach geworden, so wach, dass sie in ihrem Bett sitzen und erzählen wollte. Sie trug, ich erinnere mich noch gut, eine rosafarbene Bluse, und während sie erzählte, fasste sie immer wieder nach meiner Schreibmaschine, wollte sie in Händen halten, sah die Bewegung ihrer Stimme auf dem Bildschirm, Amplituden. Plötzlich schlief sie ein. Und ich ließ das Tonbandprogramm laufen, legte meine Schreibmaschine neben Mutter ins Bett und ging ein wenig über die Flure spazieren. Als ich zurückkehrte, war meine Mutter wach geworden. Ich hörte, noch war ich auf dem Flur, wie sie sprach, wie sie der Maschine erzählte, die sie gleich neben sich liegen sah. Sie lachte als sie mich entdeckte und erzählte weiter, ohne eine Pause zu machen. Ich habe diese Gespräche mit meiner Mutter, ihre Erzählungen, seither nicht wieder gehört, habe sie jedoch sorgfältig gesichert. Es fällt nicht leicht ihre Stimme zu erinnern so einfach so. Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde sie anrufen, dann geht es: Sie sagt: Ja bitte? — stop
ein heller windiger märztag
olimambo : 15.55 UTC — Fangen wir noch einmal von vorne an: Ein junger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unterhielt, erzählte, er lade sich im Zug reisend sehr gerne Romane und Erzählungen auf sein Kindlelesegerät. Er habe bereits eine Sammlung mehrerer tausend Bücher, deren Lektüre im Grunde jederzeit möglich wäre, weil sie in digitaler Form existieren. Er lese je so weit, wie es die Leseprobe ermögliche. In dieser Weise habe er schon sehr viel Literatur zu sich genommen, auch einführende Vorworte, die meistens vollständig ausgeliefert werden. Oder Kurzgeschichten, eine oder zwei Kurzgeschichten seien beinahe immer vollständig in den Proben enthalten. Das ist schon irgendwie eine Sucht, sagte er. Er habe, seit er lesen lernte, stundenlang in Büchern geblättert, da und dort einen Satz oder eine vollständige Buchseite gelesen, ein komplettes Buch habe er niemals studiert. — Heute nun, es ist Mittwoch am Nachmittag, habe ich selbst in einer digitalen Probe folgende Textpassage gelesen, die mich berührte. Christoph Ransmayr hat sie notiert: “Mir war die Tatsache oft unheimlich, daß sich der Anfang, auch das Ende jeder Geschichte, die man nur lange genug verfolgt, irgendwann in der Weitläufigkeit der Zeit verliert – aber weil nie alles gesagt werden kann, was zu sagen ist, und weil ein Jahrhundert genügen muß, um ein Schicksal zu erklären, beginne ich am Meer und sage: Es war ein heller, windiger Märztag des Jahres 1872 an der adriatischen Küste. Vielleicht standen auch damals die Möwen wie filigrane Papierdrachen im Wind über den Kais, und durch das Blau des Himmels glitten die weißen Fetzen einer in den Turbulenzen der Jahreszeit zerrissenen Wolkenfront – ich weiß es nicht.” aus : Die Schrecken des Eises und der Finsternis: Roman von Christoph Ransmayr — stop
zuggeschichte
nordpol : 15.55 UTC — Ein junger Mann, mit dem ich mich kurz im Zug unterhielt, erzählte, er lade sich im Zug reisend sehr gerne Romane und Erzählungen auf sein Kindlelesegerät. Er habe bereits eine Sammlung mehrerer tausend Bücher, deren Lektüre im Grunde jederzeit möglich wäre, weil sie in digitaler Form existieren. Er lese je so weit, wie es die Leseprobe ermögliche. In dieser Weise habe er schon sehr viel Literatur zu sich genommen, auch einführende Vorworte, die meistens vollständig ausgeliefert werden. Oder Kurzgeschichten, eine oder zwei Kurzgeschichten seien beinahe immer vollständig in den Proben enthalten. Das ist schon irgendwie eine Sucht, sagte er. Er habe, seit er lesen lernte, stundenlang in Bücher geblättert, da und dort einen Satz oder eine vollständige Buchseite gelesen, ein komplettes Buch habe er niemals studiert. — stop
lupenvögel
tango : 20.58 — Es ist Sonntag, Oktober, und warm inmitten der Stadt. Louis darf seine Fenster öffnen, Vögel werden keine heran ins Zimmer kommen, weil Vögel nicht zu hören sind, auch nicht am Morgen, weil Vögel keine da draußen in den Bäumen wohnen, außer einem Rotkehlchen, zwei Tauben und einer Elster, die sind verbürgt, die sind Louis unlängst vor die eigenen Augen gekommen. So ist also Sonntag fast ohne Vögel, die Fenster sind geöffnet, mal schaut Louis zum Fenster hinaus, mal steht er vor seiner schneeweißen Tafel, die in der Nähe des Fensters an einer Wand befestigt ist. Magnete, kleine silbern blitzende Zylinder halten Papiere fest. Auf den Papieren sind Schatten zu erkennen, Wolken von sehr kleinen Zeichen. Je näher man der Tafel kommt, desto deutlicher sind Zeichenblöcke zu erkennen, eine Ordnung in Wolken von Zeichenvögeln, jeder der Vögel eine Geschichte, hunderte Textvögel, die nicht zu entziffern sind mit bloßem Auge. Sobald Louis in seinen Werken liest, nähert er sich seiner Vogelsammlung mittels eines Mikroskops, welches sich an einem filigranen Arm befestigt, millimeterweise über den schneeweißen Metallhimmel hin und her fahren lässt. So steht er und liest und sucht in seinen Gedanken, Erfindungen, Erzählungen. Alles ist dort sichtbar oder unsichtbar zunächst für menschliche Augen oder menschliche Erinnerung, alles liegt vor, Erkenntnisse, Ergebnisse, Irrtümer, das Glück und Unglück der Worte, der Sätze, alles. — stop
#HongKongProtests
ulysses : 22.46 MESZ — Seit einigen Jahren, ich muss das schnell erzählen, kaufe ich immer wieder einmal ein digitales Buch, obwohl ich mir vorgenommen hatte, papierenen Büchern, die ich in die Hand zu nehmen vermag, treu zu bleiben, ihren Geräuschen und ihrem Duft. Nun ist das zunächst so gewesen, dass ich Romananfänge in der digitalen Sphäre zu sammeln begann. In meiner kleinen handlichen Schreibmaschine waren bald über eintausend Leseproben versammelt. Melvilles Erzählung Bartleby war der erste digitale Text gewesen, den ich zu mir holte. Etwas später folgten Dostojewskij, Auster, DeLillo, Humboldt, John Dos Passos. Plötzlich bemerkte ich, dass mir John Dos Passos’ Buchtext Manhattan Transfer fehlen würde, ich meine, dieser wundervolle Roman als wirkliches Buch, das in meinem Bücherregal stehen würde, sichtbar sein Rücken, dieses Buch habe ich gelesen. Auch Humboldt Ansichten der Natur würde fehlen und Austers Roman 4321. Ich ertappte mich bei der Überlegung, ein Stück Holz in mein Regal zu stellen in der ungefähren Größe des originalen papierenen Buches. Ich dachte, ich könnte das Stück Holz mit einem Buchrücken versehen, einer Kopie, ich könnte demzufolge, eine Instanz des digitalen Buches kreieren, die mir anzeigt, dass ich das Buch besitze, dass ich es gelesen habe oder bald einmal lesen könnte. Oder die Instanz eines Buches, das überhaupt noch als ein papierenes Buch zu schreiben wäre: #HongKongProtests — stop
sammlung
echo : 0.22 UTC — Entdeckte an diesem Tag eine Sammlung der Romane, Erzählungen und Journale Paul Nizons in einem Band. Das elektrische Warenhaus, welches dieses Buch verbreitet, — nur noch sieben Exemplare sollen vorrätig sein -, wirbt für den Kauf mit einer Preisersparnis von 82 Prozent, ein schweres Produkt, in dem sich Buchwesen auflösen und die Zeit, in der sie zur Welt gekommen sind. — Einmal, vor zehn Jahren, war ich Paul Nizon wieder begegnet. Ich beobachtete, wie er in Paris eine seiner Arbeitswohnungen spazierte. Natürlich waren zwischen ihm und mir eine Kameralinse, ein Bildschirm und dort etwas vergangene Zeit aufgespannt. Trotzdem konnte ich ihn gut erkennen. Er trugt einen kleinen runden Bauch vor sich her und sein Haar war grau geworden, und doch war er ganz der alte, verehrte Schriftsteller geblieben. Vor allem seine schöne Stimme, das sorgfältige Sprechen, die warme Melodie der Sprache, das Schweizerische, hier waren sie wieder, und auch das Tonbandgerät, das auf einem Tisch ruhend die Luftwellen der notierten Sätze eines Tages erwartete. Kurz darauf erinnerte ich, dass ich Paul Nizon einmal persönlich begegnete in der Straße, in der ich noch immer wohne, und daran, dass ich damals dachte: Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Er trug einen grauen Mantel, weiß der Teufel, weshalb ich die Farbe seines Mantels gespeichert habe, und einen Hut, nehme ich an. Da war noch etwas Weiteres gewesen, mein Herz nämlich schlug in einer Weise, dass ich’s in meinem Kopf hören konnte. — Ein Frühlingsabend. Und ich sagte zu mir: Louis, reg dich nicht auf! Du bist an einem flanierenden Geist vorüber gekommen. — stop
joyce carol oates
ulysses : 15.08 UTC — Nehmen wir einmal an, dem ursprünglichen Code einer Seeanemone würde ein weiterer Code hinzugefügt, eine sehr kurze Strecke nur, sagen wir Joyce Carol Oates Erzählung Nackt mittels Nukleobasenpaaren notiert. Was würde geschehen? Inwiefern würde Joyce Carol Oates Text Wesen oder Gestalt einer Seeanemone berühren? Würde der Text von Seeanemone zu Seeanemone weitergereicht, würde ihr Text sich nach und nach verändern, würde er vielleicht entlang der Küstenlinien wandern? Seit Dezember 2014, ich hatte wieder einmal geträumt, sind menschliche Personen denkbar, die nur zu dem einem Zweck existieren, nämlich Ohren, ein gutes Dutzend wahlweise auf ihren Armen oder Schultern zu tragen, um sie gut durchblutet solange zu konservieren, bis man sie von ihnen abnehmen wird, um sie auf eine weitere Person zu verpflanzen, die eine gewisse Zeit oder schon immer ohne Ohren gewesen ist. Unheimliche Sache. Unheimlich nach wie vor. – stop
brooklyn : february house
nordpol : 23.56 UTC — Wenige Wochen vor einer Reise nach New York brach ich mir den rechten Arm. Das ist jetzt bereits einige Jahre her, der komplizierte Bruch ist gut verheilt, ich kann ohne Beschwerden wieder mit der Hand notieren. Damals aber waren meine Bewegungen ungelenk, ich schrieb wie ein Kind mit sehr großen Buchstaben. Einige dieser Zeichen entdeckte ich am späten Abend in Carson McCullers seltsamer Erzählung Die Ballade vom traurigen Café. Auf der Seite 52 des Buches hatte ich zwei Wörter vermerkt: February House. Ich erinnerte mich, dass ich damals den Entschluss fasste, einer Spur der Dichterin in New York zu folgen. Ich schrieb um Wochen verzögert und noch immer unter Schmerzen: Weil ich nur sehr schwerfällig mit der Hand in mein Notizbuch schreiben kann, notiere ich während des Lesens, indem ich in Gedanken wiederhole, was zu tun ist in den kommenden Stunden. Nachforschen in der Digitalen Sphäre. Wo genau, in welcher Straße, in welchem Haus wohnte Carson McCullers in Brooklyn? Ist denkbar, dass die junge Dichterin tatsächlich drei Wochen benötigte, um das Subway-System der Stadt New York verlassen zu können? Oder suchte sie in eben diesem Raum der Zeit nach ihrer Wohnung, die sie nicht wieder finden konnte, weil sie mittellos und ohne genauere Ortskenntnis in einem U‑Bahnwagon zurückgelassen worden war. Wie viele Dollar kostete eine Flasche Whiskey im Jahr 1934? Wie viel ein Taxi? – Wenn ich in Gedanken notiere, wiederhole ich dreifach, was ich mir zu merken wünsche. Verlorenes, das könnte sein, bemerke ich nicht. Oder nur einen Schatten ohne Wörter. — stop