Aus der Wörtersammlung: millimeter

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lupenvögel

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tan­go : 20.58 — Es ist Sonn­tag, Okto­ber, und warm inmit­ten der Stadt. Lou­is darf sei­ne Fens­ter öff­nen, Vögel wer­den kei­ne her­an ins Zim­mer kom­men, weil Vögel nicht zu hören sind, auch nicht am Mor­gen, weil Vögel kei­ne da drau­ßen in den Bäu­men woh­nen, außer einem Rot­kehl­chen, zwei Tau­ben und einer Els­ter, die sind ver­bürgt, die sind Lou­is unlängst vor die eige­nen Augen gekom­men. So ist also Sonn­tag fast ohne Vögel, die Fens­ter sind geöff­net, mal schaut Lou­is zum Fens­ter hin­aus, mal steht er vor sei­ner schnee­wei­ßen Tafel, die in der Nähe des Fens­ters an einer Wand befes­tigt ist. Magne­te, klei­ne sil­bern blit­zen­de Zylin­der hal­ten Papie­re fest. Auf den Papie­ren sind Schat­ten zu erken­nen, Wol­ken von sehr klei­nen Zei­chen. Je näher man der Tafel kommt, des­to deut­li­cher sind Zei­chen­blö­cke zu erken­nen, eine Ord­nung in Wol­ken von Zei­chen­vö­geln, jeder der Vögel eine Geschich­te, hun­der­te Text­vö­gel, die nicht zu ent­zif­fern sind mit blo­ßem Auge. Sobald Lou­is in sei­nen Wer­ken liest, nähert er sich sei­ner Vogel­samm­lung mit­tels eines Mikro­skops, wel­ches sich an einem fili­gra­nen Arm befes­tigt, mil­li­me­ter­wei­se über den schnee­wei­ßen Metall­him­mel hin und her fah­ren lässt. So steht er und liest und sucht in sei­nen Gedan­ken, Erfin­dun­gen, Erzäh­lun­gen. Alles ist dort sicht­bar oder unsicht­bar zunächst für mensch­li­che Augen oder mensch­li­che Erin­ne­rung, alles liegt vor, Erkennt­nis­se, Ergeb­nis­se, Irr­tü­mer, das Glück und Unglück der Wor­te, der Sät­ze, alles. — stop

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lund

picping

MELDUNG. Sören K., 68 Jah­re, der für eine Win­ter­nacht lang das Schließ­fach 88 Söder [ H:615 T:930 B:472 ] des Stock­hol­mer Haupt­bahn­ho­fes bewohn­te, wur­de um Zehnzwölf Uhr zur Ent­fal­tung in eine Poly­kli­nik ver­bracht. Anga­be in Mil­li­me­ter. Gebo­ren in Lund. — stop

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nachtflug

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india : 0.18 — In die­sem Jahr ist er spät zu mir gekom­men, der Win­ter längst vor­über. Ein Fal­ter segel­te ges­tern Abend durch mein Arbeits­zim­mer, bald saß er auf dem Boden. Ich näher­te mich sehr vor­sich­tig, hob ihn auf und setz­te ihn behut­sam an eine Wand. — Es ist jetzt kurz nach Mit­ter­nacht. Ein paar Dioden­lich­ter glü­hen zu mir her­über. Ob ich den Fal­ter füt­tern soll­te? Viel­leicht wür­de er etwas Him­beer­mar­me­la­de zu sich neh­men. Ich stel­le mir vor, der Fal­ter könn­te 254 Jah­re alt, er könn­te ein Lich­ten­berg­fal­ter sein, der rasch bei mir zu Kräf­ten kom­men möch­te. Ja, das ist denk­bar, immer wie­der denk­bar. Ges­tern, das will ich schnell noch erzäh­len, habe ich Flug­ver­su­che unter­nom­men mit einer fili­gra­nen Rücken­pro­pel­ler­droh­ne. Es han­delt sich um die Nach­bil­dung eines Tau­ben­schwänz­chens, dem­zu­fol­ge ist sie nicht grö­ßer als 50 Mil­li­me­ter. Ich habe ihr bei­gebracht, mir zu fol­gen, wenn ich durch mei­ne Woh­nung spa­zie­re. In die­ser Ver­fol­gung ist sie bereits sehr prä­zi­se, außer­dem so schnell in ihrer Bewe­gung gewor­den, dass ich sie mit blo­ßer Hand nicht fan­gen könn­te. Ein­mal näher­te sie sich mei­ner Schne­cke Esme­ral­da. Das war ein Moment von höchs­ter Auf­merk­sam­keit, ein Ver­hal­ten, als wür­de das Tau­ben­schwänz­chen mit Esme­ral­da spre­chen, sehr selt­sam, anrüh­rend, die Kirsch­bäu­me blü­hen. — stop 

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ping

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matrjoschka

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echo : 6.52 — Weit bin ich in der Beweg­lich­keit mei­nes Ellen­bo­gen­ge­len­kes gekom­men. Ich ver­mag ein Glas Was­ser zum Mund zu füh­ren, in einem Buch zu blät­tern oder auf einer mei­ner elek­tri­schen Schreib­ma­schi­nen zu schrei­ben. Auch ein fes­ter Hän­de­druck ist wie­der mög­lich gewor­den, wenn­gleich noch schmerz­haft. Ges­tern nun näher­te ich mich mit mei­nem rech­ten Dau­men mei­ner rech­ten Schul­ter soweit an, dass ich mein­te, sie bereits spü­ren zu kön­nen, mei­ne Schul­ter also an der Haut mei­nes Dau­mens und umge­kehrt. Eine äußerst lang­sa­me, sagen wir, behut­sa­me Annä­he­rung. Ein Nach­ge­ben Mil­li­me­ter für Mil­li­me­ter jenes klei­ne­ren Matrjosch­ka­ar­mes, der mei­nen eigent­li­chen Arm seit Mona­ten zu bewoh­nen scheint, eigen­sin­ni­ges Wesen, Wesen wie für sich, das noch fest­hal­ten will an einer Ges­te des Schut­zes, wei­ter­exis­tie­ren in einem Win­kel von 90°. Mein schnur­ren­der, mein sich räus­pern­der Arm. Es knis­tert unter der Haut auch dann, wenn ich mich nicht bewe­ge, als ob der eine Arm mit dem ande­ren Arm lei­se ver­han­del­te. – Diens­tag, noch Nacht. War­mer Regen vom Nebel­him­mel. Und Jazz, und Jazz von New Jer­sey her. Art Tat­um. März 1946. TIGER RAG. Guten Mor­gen. — stop

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kairobildschirm

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echo : 5.38 — Ich erin­ne­re mich, dass ich im Schlaf zu mir sag­te: Das will ich nicht wei­ter träu­men. Unver­züg­lich wur­de ich wach. – Schnee ist gefal­len, ein wei­ßes Tuch liegt auf den Bür­ger­stei­gen. Das klei­ne Kai­ro­fens­ter flim­mert seit bald vier­zehn Stun­den auf dem Bild­schirm mei­ner Schreib­ma­schi­ne. Kamel­rei­ter prü­geln auf Demons­trie­ren­de ein, Stei­ne flie­gen durch die Luft, Kühl­schrän­ke von Haus­dä­chern, um Men­schen zu töten. Mit der Däm­me­rung kom­men Bar­ri­ka­den, Ölfeu­er­fla­schen tau­meln hin und her, bren­nen­de Autos, der hell­graue Rauch der Pan­zer­mo­to­ren, die Stim­men der Kom­men­ta­to­ren, die Zah­len ver­letz­ter und getö­te­ter Men­schen mel­den. Auf dem Platz der Befrei­ung wird nach Stei­nen gegra­ben. Mil­li­me­ter hohe Men­schen­fi­gu­ren schlei­fen lie­gen­de Mil­li­me­ter hohe Men­schen­fi­gu­ren über den Boden. Rei­ne Mord­lust scheint aus­ge­bro­chen zu sein. – Es ist jetzt 5 Uhr und 30 Minu­ten. Seit drei Stun­den wird scharf geschos­sen. Nie­mand weiß woher die Schüs­se kom­men. Eine jun­ge Frau, 24, die sich auf dem Platz befin­det, erzählt wei­nend von Men­schen, die gera­de eben getö­tet wur­den. Wie das mög­lich sein kön­ne, dass die Welt nicht ein­grei­fe, dass kei­ne Hil­fe kom­me. We will not lea­ving this place. Sie nennt ihren Namen.

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langustenfliege

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india : 6.20 — Früh­mor­gens im Pal­men­gar­ten spa­ziert. Ich ging ein­hun­dert Schrit­te nord­wärts, dann zwei­hun­dert Schrit­te süd­wärts, lag bald in einer Wie­se her­um und dach­te, hier schla­fe ich zwei Tage, hier genau an die­ser Stel­le schla­fe ich zwei Tage unterm Zirp­gril­len­schirm. Wenn man so in einer Wie­se liegt, kommt man aus dem Stau­nen nicht her­aus, man kann nicht schla­fen, weil man Natur beob­ach­ten und sich wun­dern muss, wie das alles mög­lich gewor­den ist. Habe auf einer schwarz und weiß gestreif­ten Blu­me ein Lie­bes­paar beob­ach­tet, ein merk­wür­di­ges Gebil­de, ein oder zwei Mil­li­me­ter hoch, nicht höher, ganz gewiss. Eine sehr beson­de­re Vari­an­te war das gewe­sen, zwei Hai­fi­sche [Kopf], zwei Lan­gus­ten [Schwanz] und zwei Flie­gen [Flü­gel und Bei­ne], deli­kat inein­an­der gesetzt, volu­mi­nö­se Augen­paa­re auf beweg­li­che Stäb­chen mon­tiert, die sich im Spiel zärt­lich betas­te­ten, als ob sich vier sehen­de Mund­wer­ke küss­ten. Das alles war sehr schön, auch in der Far­be gestal­tet, je ein leuch­tend gel­ber Kopf, zwei feu­er­ro­te Brüs­te und Hin­ter­tei­le von einem Umbr­ab­lau, wie ich es so präch­tig noch nie zuvor gese­hen habe. Genau dort hat­te hef­ti­ges Pum­pen ein­ge­setzt, wäh­rend das Flü­gel­werk schil­ler­te im feins­ten Pris­men­licht. Selt­sam, auch bei die­sen sehr klei­nen, wil­den Wesen war nichts zu hören, nicht das min­des­te Geräusch, da war Bewe­gung, nur Bewe­gung. Und ich dach­te noch, sehr ele­gant, wie das dort an einem frü­hen Frei­tag­mor­gen schon gemacht wird, ohne sich von den Augen eines Rie­sen stö­ren zu las­sen. Es ist jetzt 5 Uhr und drei­ßig Minu­ten. Es sind Spin­nen, die mor­gens das Nacht­was­ser von den Wie­sen saufen.

ping