Aus der Wörtersammlung: net

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über zeit

schwefelholz

alpha : 8.32 UTC – “Als Kind habe ich nicht bemerkt, dass mei­ne Mut­ter älter wur­de.” Am 16. April 1987 notier­te Wil­helm Gen­a­zi­no die­se Beob­ach­tung für sein Buch Der Traum des Beob­ach­ters. Wann habe ich selbst bemerkt, dass Mut­ter älter wur­de? ich kann mich nicht erin­nern. In den spä­ten Jah­ren mein ers­ter scheu­er Blick zu ihr hin, sobald sie die Tür öff­ne­te. Ich hat­te sie mona­te­lang nicht gese­hen. Sie war klei­ner und klei­ner gewor­den. Zum Abschied wink­te sie mir, wie immer in den Jahr­zehn­ten mei­ner Besu­che zu Hau­se, nach. Wenn ich mich noch ein­mal zu ihr umdreh­te, kurz bevor ich um die Ecke ging, sah ich nur noch ihre Hand hin­ter den Büschen, die flat­ter­te wie ein Vogel. — stop

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im garten

im garten

char­lie : 16.58 UTC – Heu­te, wenn er noch leb­te, wäre mein Vater 93 Jah­re alt gewor­den. Ich erin­ne­re mich mühe­los an sei­ne lei­se Stim­me im Alter, ein wenig rau gewor­den, wie er an einem Som­mer­abend auf einem Stuhl im Gar­ten saß. Vor ihm stand ein klei­ner Tisch und auf die­sem Tisch eine Fla­sche Was­ser mit einem Dreh­ver­schluss. Ich glaub­te, dass mein Vater mich nicht bemerk­te. Er schien mit der Fla­sche zu spre­chen. Er beug­te sich vor, hielt die Fla­sche mit der einen Hand fest, wäh­rend er mit der ande­ren Hand an ihrem Ver­schluss dreh­te. Aber die Fla­sche war nicht leicht fest­zu­hal­ten gewe­sen, ver­mut­lich des­halb, weil sich die Feuch­te der Luft auf ihr nie­der­ge­schla­gen hat­te. Also lehn­te sich mein Vater wie­der auf sei­nem Stuhl zurück und schloss die Augen. Ich neh­me an, er wird ein­ge­schla­fen sein. Als er wie­der erwach­te, war ich noch immer da und auch die Fla­sche stand auf dem Tisch. Mein Vater beug­te sich vor, nahm die Fla­sche und dreh­te an ihrem Ver­schluss. Erneut schien er sich mit der Fla­sche zu unter­hal­ten, ohne aber die rich­ti­gen Wor­te zu fin­den, weil die Fla­sche sich noch immer dage­gen wehr­te, geöff­net zu wer­den. Also lehn­te sich mein Vater erneut zurück, er schüt­tel­te den Kopf. In die­sem Moment schweb­te eine Libel­le über den Tisch. Sie betrach­te­te mei­nen Vater, setz­te sich auf den Ver­schluss der Fla­sche und fal­te­te ihre Flü­gel. Ein Moment der Stil­le, des Frie­dens. Ein paar Zika­den waren zu hören, sonst nichts. Mein Vater war bald wie­der ein­ge­schla­fen, es wur­de dun­kel und die Libel­le ver­schwand. Als er wie­der erwach­te, saß ich direkt vor ihm. Ich hat­te die Fla­sche für ihn geöff­net und ein Glas mit Was­ser gefüllt. Mein Vater erzähl­te lächelnd in Wür­de, dass er sich gewun­dert habe, war­um er die Fla­sche nicht öff­nen konn­te, er habe sie doch selbst zuge­dreht. Das ist doch ver­rückt, sag­te er. — stop


 

 

 

 

 

 

 

Oft erzähl­te mir
mein Vater,
der Physiker,
von den Sternen.
/
Struk­tur
Gre­at Wall
im Universum
Glückslicht
NASA

 

 

 

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kein schnee

mwriupol

gink­go : 20.16 UTC – Auf einem Tisch ruht eine Foto­gra­fie. Ich hat­te sie auf ein Blatt star­ken Papie­res (180 Gramm) gedruckt. Es ist Abend. Som­mer­licht. Ein Tisch von Holz. Blät­ter­schat­ten, die sich kaum bewe­gen. Mei­ne Hand hält die Foto­gra­fie an ihrem west­li­chen Rand mit zwei Fin­gern fest. Die Hand einer wei­te­ren Per­son hält die Foto­gra­fie an ihrem öst­li­chen Rand mit einem Fin­ger fest. Die Foto­gra­fie zeigt eine Bus­hal­te­stel­le der Stadt Mariu­pol. Split­ter lie­gen auf der Stra­ße. Glas, Stei­ne, Metall. Und zwei mensch­li­che Kör­per. Die Gesich­ter der Kör­per sind von wei­ßen Tüchern bedeckt. Es reg­net. Einer der Kör­per trägt eine blaue Hose, der ande­re eine gel­be Hose. Ein Stoff­tier liegt in der Nähe auf dem Boden. Die Kör­per sind klei­ne Kör­per. Die Kör­per sind Kin­der­kör­per. Ein Fuß in einem Schuh steht etwas ent­fernt auf dem Boden. Ein Turn­schuh mit einem Fuß und einem hal­ben Bein. Der Fin­ger, der die Foto­gra­fie an ihrer öst­li­chen Sei­te berührt, tippt auf das Bild nahe des ein­sa­men Fußes. Der Fin­ger berührt die Stra­ße. Die Stim­me einer Frau ist zu hören. Sie sagt: Das ist nicht echt. Das ist gut gemacht. Wo hast Du das Foto her? Das ist gut erfun­den. Die hal­be Welt wird das glau­ben, so gut ist das erfun­den, aber nicht gut genug, nur die hal­be Welt wird das glau­ben. Du siehst, die­se Unmen­schen erschie­ßen ihre eige­nen Kin­der. Und dann sagen sie, die Anden waren das. Aber das ist kom­plett gut erfun­den! So etwas gibt es nicht. Das ist ein Kunst­fuß, alles künst­lich. Das ist wirk­lich gut gemacht. Du redest Unsinn! Du warst nicht dort, Du hast das nicht mit eige­nen Augen gese­hen. Man stirbt nicht, wenn ein Fuß ver­lo­ren geht. Es war Win­ter dort. Es muss geschneit haben. Wo ist der Schnee? Du musst wis­sen, dass das alles gefälscht ist, das sieht doch jeder ver­nünf­ti­ge Mensch auf der Stel­le. Du darfst nicht immer glau­ben, was Du siehst. War­um steht der Fuß auf­recht? Irgend­je­mand hat ihn dort auf die Stra­ße gestellt. Sie haben sich Mühe gege­ben, das muss man Ihnen las­sen. Das ist gut gemacht. Der Turn­schuh müss­te blu­tig sein. Da haben sie einen Feh­ler gemacht. Schön mon­tiert, aber mit einem Feh­ler, das Blut fehlt, schon wie­der ein­mal fehlt das Blut. Sie sagen, die Orks haben das gemacht. Wir machen so etwas nicht. Wir sind kei­ne Orks. Wir glau­ben an Gott. Du weißt, dass wir an Gott glau­ben, es ist eine Schan­de. War­um zeigst Du mir so etwas? Du warst nicht in Mariu­pol. Wenn Du in Mariu­pol gewe­sen wärest, wür­dest Du das wis­sen, dass man so etwas nie­mals dort gese­hen haben kann. Es war Win­ter im März. Kein Schnee, siehst Du, kein Schnee.- stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


der Inarisee
im november
mit uhrzeit
ursprung

 

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heimsuchung

heimsuchung

tan­go : 20.01 UTC – Über dem Kanal de Saint-Mar­tin nahe der Rue Bichat im 10. Pari­ser Arron­dis­se­ment kreist seit drei Tagen ein krä­hen­ar­ti­ger Vogel, ohne je zu lan­den. Er scheint mit der kal­ten Win­ter­luft ein Gespräch zu füh­ren im Flug bei Tag und bei Nacht. Vogel­be­ob­ach­ter sind ein­ge­trof­fen. Sie sit­zen auf Bän­ken und Bal­ko­nen, ihre Fern­roh­re auf Sta­ti­ve gestellt und gegen den Him­mel aus­ge­rich­tet. Es ist des­halb, weil mit die­sem spre­chen­den und sin­gen­den Vogel mög­li­cher­wei­se etwas nicht stimmt. Seit der Vogel ein­ge­trof­fen ist, so wird erzählt, erschei­nen auf den Bild­schir­men loka­ler Fern­seh­ge­rä­te Film­auf­nah­men, die aus der Sicht die­ses Vogels auf­ge­nom­men wor­den sein könn­ten. Gleich­wohl sind Geräu­sche ver­zeich­net, sodass nun das Wei­nen von Kin­dern in den Pari­ser Häu­sern zu ver­neh­men ist, auch auf den Bild­schir­men der Hand­te­le­fo­ne sind Kin­der zu sehen, die in Zel­ten woh­nen ohne einen Fuß­bo­den, weil dort hin­durch der Schlamm, der von den Ber­gen kommt, tal­ab­wärts strömt. Die Kin­der sind krank, das kann man sehen, sobald man die erschro­cke­nen Augen öff­net. Auch die Eltern der Kin­der sind krank, sie tra­gen Pus­teln im Gesicht und auf den Armen und Bei­nen und auf ihren mage­ren Rücken. Vul­ka­ne wach­sen auf den Kör­pern der Men­schen und spei­en Eiter und Blut. Jener Vogel, der die­se Auf­nah­men in einer afri­ka­ni­schen Gegend mach­te, um sie per­sön­lich nach Euro­pa zu trans­por­tie­ren, war und ist noch immer ein gedul­di­ger Beob­ach­ter. Der Vogel flog lei­se in Boden­nä­he umher, ohne das Leid zu stö­ren, das sich ihm öff­ne­te, als wäre es eine dunk­le schmer­zen­de Blu­me. Kin­der fass­ten nach dem Vogel, deu­ten auf ihn, sie waren ohne Furcht. Und die Eltern der Kin­der erzähl­ten in einer fremd­ar­ti­gen Spra­che, wie es ist der­art krank und elend und bedroht zu sein. Ihre Ges­ten zu dem Auge des Vogels hin waren fle­hen­de Ges­ten. Seit Tagen nun kom­men die­se Bil­der in die Welt der Bild­schir­me und der Laut­spre­cher­an­la­gen bei Tag und bei Nacht am Kanal de Saint-Mar­tin nahe der Rue Bichat im 10. Pari­ser Arron­dis­se­ment. Nie­mand kann sagen, war­um das so ist und wie lan­ge die Heim­su­chung noch dau­ern wird. Viel­leicht, so eine Ver­mu­tung, wer­den wei­te­re Vögel kom­men, wei­te­re Bil­der, Fil­me, Geräu­sche. Eine Per­son soll auf einer Kanal­brü­cke ste­hend laut­stark gefor­dert haben, den Vogel end­lich vom Him­mel zu holen. Ein­mal waren Schüs­se zu hören. — stop

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ai : USA

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MENSCHEN IN GEFAHR: „Richard Moo­re wur­de 2001 zum Tode ver­ur­teilt und soll am 1. Novem­ber 2024 im US-Bun­des­staat South Caro­li­na hin­ge­rich­tet wer­den. Er ist Afro­ame­ri­ka­ner, das Opfer war weiß. Die­ser Fall ent­spricht einem gän­gi­gen Mus­ter im Ver­wal­tungs­be­zirk Spar­tan­burg Coun­ty, in dem die Todes­stra­fe bis­her haupt­säch­lich für Ver­bre­chen mit wei­ßen Opfern ver­hängt wur­de. Dar­über hin­aus sorg­te die Staats­an­walt­schaft durch die Ableh­nung afro­ame­ri­ka­ni­scher Geschwo­re­ner für eine rein wei­ße Jury. In ihrem im Jahr 2022 geäu­ßer­ten Wider­spruch gegen das Todes­ur­teil erklär­te Rich­te­rin Kaye Hearn vom Obers­ten Gerichts­hof des Bun­des­staa­tes South Caro­li­na, “Moo­res Todes­ur­teil ist ein Relikt aus ver­gan­ge­nen Zei­ten … In der Jury saß kein*e einzige*r Afroamerikaner*in, obwohl meh­re­re als Geschwo­re­ne zur Ver­fü­gung gestan­den hät­ten.” Die Rich­te­rin kam zu dem Schluss, dass das Todes­ur­teil im Fall Richard Moo­re unver­hält­nis­mä­ßig war. Richard Moo­re war unbe­waff­net, als er den Laden betrat, und der Laden­mit­ar­bei­ter und er wur­den mit einer Waf­fe ange­schos­sen, die sich bereits im Laden befand. Die­ser Tat­be­stand allein weist auf einen feh­len­den Vor­satz hin. Nach dem US-ame­ri­ka­ni­schen Ver­fas­sungs­recht “ist die Todes­stra­fe auf die Straftäter*innen zu beschrän­ken, die eine enge Kate­go­rie der schwers­ten Ver­bre­chen bege­hen und die auf­grund ihrer extre­men Schuld die Hin­rich­tung am ehes­ten ver­die­nen”. 2015 führ­te Ste­phen Brey­er, Rich­ter am Obers­ten Gerichts­hof der USA, Stu­di­en an, die zei­gen, dass “die Fak­to­ren, die die Anwen­dung der Todes­stra­fe am deut­lichs­ten beein­flus­sen soll­ten – näm­lich die ver­gleichs­wei­se Unge­heu­er­lich­keit des Ver­bre­chens – dies häu­fig nicht tun. Ande­re Stu­di­en zei­gen, dass Umstän­de, die die Ver­hän­gung der Todes­stra­fe nicht beein­flus­sen soll­ten, wie die eth­ni­sche Zuge­hö­rig­keit, das Geschlecht oder geo­gra­fi­sche Fak­to­ren, dies oft tun.” Er ver­wies auf Unter­su­chun­gen, wonach “Per­so­nen, die des Mor­des an wei­ßen Opfern beschul­digt wer­den – im Gegen­satz zu afro­ame­ri­ka­ni­schen Opfern oder Opfern aus ande­ren Min­der­hei­ten –, eher zum Tode ver­ur­teilt wer­den”. / Die Inter­ame­ri­ka­ni­sche Men­schen­rechts­kom­mis­si­on hat vor­sorg­lich einen Auf­schub der Hin­rich­tung von Richard Moo­re gefor­dert, um mehr Zeit zu haben, den Fall zu über­prü­fen. Als US-Bun­des­staat ist South Caro­li­na nach inter­na­tio­na­lem Recht ver­pflich­tet, der For­de­rung der Inter­ame­ri­ka­ni­schen Men­schen­rechts­kom­mis­si­on Fol­ge zu leis­ten. / Der ehe­ma­li­ge Lei­ter der Straf­voll­zugs­be­hör­de von South Caro­li­na, Jon Ozmint, bezeich­ne­te Richard Moo­re als einen “vor­bild­li­chen” Gefan­ge­nen. > EINE E‑MAIL SCHREIBEN ODER EINEN BRIEF VON PAPIER

 

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vom fenster meines hauses aus

fenster

alpha : 15.01 UTC ‑Ein Paket­bo­te wur­de ange­kün­digt. Er und sein Fahr­zeug waren kurz nach elf Uhr auf einer digi­ta­len Kar­te mei­ner Schreib­ma­schi­ne sicht­bar gewor­den, die eine Gegend anzeig­te, die mir bekannt ist, weil ich dort woh­ne. Das Sym­bol eines Auto­mo­bils saß eini­ge Stra­ßen­zü­ge ent­fernt auf der Kar­te fest. Noch sie­ben Stopps, ehe das Auto­mo­bil vor mei­nem Haus erwar­tet wur­de. Ich stand am Fens­ter, 5. Stock, hat­te das Fens­ter geöff­net, schö­ner Blick in die Bäu­me, Flie­gen tanz­ten im Licht der Son­ne, die Luft war schwer und feucht, eine hal­be Stun­de lang beob­ach­te­te ich ein­mal die Stra­ße, dann wie­der das Ver­hal­ten des Sym­bols auf dem Bild­schirm. Das Auto­mo­bil schien sich zunächst zu ent­fer­nen, dann kam es wie­der näher, ein letz­ter Stopp vor einem Haus auf der Stra­ßen­sei­te gegen­über. Tat­säch­lich war soeben ein Auto­mo­bil dort in gel­ber Far­be ein­ge­trof­fen, hat­te unter einer Kas­ta­nie Platz genom­men. Im Schat­ten des Baums, es war kurz vor 1 Uhr, öff­ne­te ein jun­ger Mann die hin­te­re Tür sei­nes Fahr­zeu­ges, hob eine Sack­kar­re her­aus, dann drei grö­ße­re Paket­stü­cke, die er über­ein­an­der türm­te, um bald mit Sack­kar­re und Turm in einem Tor zum Hof zu ver­schwin­den.  Kaum wie­der zurück, stell­te der jun­ge Mann sei­ne Sack­kar­re zurück in das Fahr­zeug, setz­te sich in die Fah­rer­ka­bi­ne  und schloss die Tür.  Ein Fens­ter wur­de geöff­net, Rauch­wölk­chen stie­gen von dort her in die Luft, sie waren weiß und brei­te­ten sich sehr lang­sam in allen Rich­tun­gen aus. Der jun­ge Mann, der ver­mut­lich höchst­per­sön­lich rauch­te, muss­te in die­sem Moment sei­nen Sta­tus gemel­det haben. Viel­leicht waren es die Pake­te selbst gewe­sen, deren neu­er Besit­zer ihre Ankunft quit­tier­te. Mein Bild­schirm mel­de­te 0 Stopps bis zur Ankunft. Was für ein wun­der­ba­rer Mit­tag. Stra­ßen­bah­nen quietsch­ten in den Kur­ven, die Schu­le war aus, Schul­ran­zen wipp­ten auf klei­nen Rücken, so groß, als wür­den Sys­te­me jun­ger Astro­nau­ten zur Lebens­er­hal­tung in sich tra­gen. Ein Herr in einem Anzug ver­speis­te auf und ab gehend ein Sand­wich, das dampf­te. Zwei Eich­hörn­chen hetz­ten über die Stra­ße von Ost nach West. Das war kurz vor 2 Uhr gewe­sen. — stop

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code : spurlos

code

echo : 16.58 UTC — Mensch­li­che Gesich­ter von rei­nem Code: Augen­far­be, Augen­grö­ße, Form des Mun­des und der Nase, Alter, Geschlecht nach Gewich­ten berech­net und sicht­bar gewor­den. Sekun­den­ge­schöp­fe neu­ro­na­ler Net­ze, ohne jede Spur, die ver­folgt wer­den könn­te, um einem wirk­li­chen Leben zu begeg­nen. Sie wer­den nie­mals ster­ben, nie­mals betrau­ert sein. Sie wur­den nicht gebo­ren, sie altern nicht, und doch sehen sie mich an, sagen: Ich wäre mög­lich gewe­sen. — stop

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wind

9

ulys­ses : 22.02 UTC — Vor weni­gen Jah­ren noch die Vor­stel­lung, ich könn­te ein mensch­li­ches Wesen und sei­ne Ansich­ten vor­her­sa­gen, wenn ich nur wüss­te, wel­che Zei­tung er oder sie liest, wel­che Fern­seh­pro­gram­me und wie lan­ge betrach­tet, ob Bücher geöff­net wer­den oder nicht, Klei­dung, Geburts­ort, Spra­che. Ich hat­te oft nicht geirrt. Nun, es hat sich etwas geän­dert, ich kann nicht mehr vor­her­sa­gen, was ich zu hören bekom­me, wenn ich mit einer bis­her nicht bekann­ten Per­son ein Gespräch auf­neh­men darf. Men­schen, die mir begeg­nen, haben nahe­zu ohne Aus­nah­me Vögel in der Hand, so sieht das aus. Die­se hand­tel­ler­gro­ßen Tie­re lie­gen rück­lings in Hän­den und spie­len oder spü­len Bil­der und Töne und Tex­te in die Gehir­ne, die sie betrach­ten. Men­schen neh­men kaum noch wahr, wie der Wind in die Bäu­me fährt. Ich habe heu­te einen jun­gen Mann beob­ach­tet, dem fiel eine Kas­ta­nie auf den Kopf. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

New York 1971
Vater forografierte
die­se Stra­ße. Er
muss dort
gewesen
sein.

 

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von den papierwörtern

9

nord­pol : 2.24 UTC — Um kurz nach zwei Uhr nachts, ich las gera­de zur Bela­ge­rung der Stadt Mariu­pol durch rus­si­sche Streit­kräf­te im März 2022, Besuch eines Sil­ber­fisch­chens. Bei schwa­chem Licht husch­te das selt­sam wun­der­ba­re Wesen über mei­nen Küchen­tisch. Unter einer Hand­lu­pe fei­ne, unheim­li­che Struk­tu­ren. Anten­nen such­ten in der Luft her­um. Ich war ver­mut­lich ein Schat­ten in sei­nen Augen. Was viel­leicht haben sei­ne Anten­nen von mei­ner Per­son wahr­ge­nom­men? Mor­gens dann bei­na­he sicher, dass das Sil­ber­fisch­chen ver­mut­lich ein Papier­fi­schen gewe­sen war, eines dem­zu­fol­ge, das sich gern von Papie­ren ernährt, dem­zu­fol­ge gleich­wohl Papier­wör­ter ver­zehrt, ver­letz­li­che Wesen. In die­ser Hin­sicht, in der Nähe einer Popu­la­ti­on der Papier­fisch­chen, sind Papier­wör­ter von digi­ta­len oder elek­tri­schen Wör­tern gut zu unter­schei­den. — stop

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in der straßenbahn

9

nord­pol : 10.08 UTC — Heu­te ist etwas Selt­sa­mes gesche­hen. Ein Mann set­ze sich in der Stra­ßen­bahn in mei­ner Nähe an ein Fens­ter. Er öff­ne­te eine Zei­tung von Papier. In die­sem Augen­blick bemerk­te ich, dass ich sehr lan­ge, sagen wir eine unbe­stimm­te Zeit, kei­nen Men­schen gese­hen habe, der im Zug oder in einer Stra­ßen­bahn fah­rend eine papie­re­ne Zei­tung las. Inter­es­sant ist, wie viel Raum ein der­art lesen­der Mensch ein­zu­neh­men ver­mag. Im Moment des Blät­terns oder einer kom­plet­ten Wen­de des rascheln­den Nach­rich­ten­kör­pers wer­den bei­de Arme weit in ent­ge­gen­ge­setz­te Him­mels­rich­tun­gen aus­ge­streckt, wie man das als Ges­te mensch­li­cher Begrü­ßung in ande­ren Zusam­men­hän­gen beob­ach­ten kann. Der Mann, den ich in der Hand­ha­bung sei­ner Zei­tung beob­ach­te­te, bemerk­te mei­nen auf­merk­sa­men Blick. Er frag­te, ob er mir hel­fen kön­ne. Ich sag­te, ich wür­de über sei­nen Anblick freu­en, weil er mich an eine längst ver­lo­ren geglaub­te Zeit erin­ner­te. Damals, also vor lan­ger Zeit, erzähl­te ich, wür­de ich in U‑Bahnen rei­send immer wie­der den Ein­druck gehabt haben, Men­schen wür­den mit­tels ihrer rascheln­den Zei­tun­gen zuein­an­der spre­chen. Eine Wei­le sei Ruhe, aber dann blät­ter­te jemand eine Sei­te um, und schon knis­ter­te der Wag­gon von Rei­he zu Rei­he in einer ner­vö­sen Art und Wei­se wei­ter. In die­sen Momen­ten glaub­te ich, die Papie­re selbst wären am Leben und wür­den die Lesen­den bewe­gen. Ein­mal hat­te ich mir Zei­tungs­pa­pie­re von stoff­ar­ti­ger Sub­stanz vor­ge­stellt, Papie­re von Sei­de zum Bei­spiel, eine eigen­tüm­li­che Stil­le, Geräusch­lo­sig­keit, Lee­re, einen Sog, eine Wahr­neh­mung gegen jede Erfah­rung. — stop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich wür­de mich irren,
sag­te das Mäd­chen zu meiner
Über­set­ze­rin in Tash­kent. Sie
tra­ge kei­nen Regenschirm
viel­mehr einen Sonnenschirm
mit sich.



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