bamako : 23.02 UTC — Ich packe einen Koffer. Harte, sehr harte Schale, hart wie die Schale der Pekannüsse. Ich lege Hemden hinein, und Hosen und eine Jacke, es könnte kalt werden nachts dort, wohin ich reise. Brille, Turnschuhe, bunte Strümpfe und 1 Paar Handschuhe, Halstücher in Gelb und Rot und Blau. 2 Bücher, die von Vögeln erzählen, 1 Landkarte, 2 starke Batterien für Schreibmaschine, 1 Gummiband, Seife, 1 Stetson Hut, 1 Pullover taubengrau, 1 Pullover gelb, 1 Telefon. Letzte Phase vor Abreise. Ich sitze und schau mir an, was ich als Reiseordnung betrachte. Ich klappe den Koffer zu und verschließe mein Gepäck, in dem ich das Zahlenschloss wild bewege. Der Koffer ist zu, ich kann ihn nicht öffnen. Ich suche nach einem Zettel. Ich bin aufgeregt. Ich mahne zur Ruhe. Ich sage: Sei gleichmütig, Louis! Geduld, Louis! Eine Zahl ist zu erinnern, vier Stellen. Noch ist Zeit. Ich beginne mit der Zahl 001. Zwei Fliegen sausen herum. Im Café um die Ecke wird gefeiert. Ich beobachte, als gehörten sie nicht zu mir, meine Finger, die in rhythmischer Bewegung Zahlen versuchen. Astor Piazzolla: Tiempo Nuevo. Es geht darum, keine der möglichen Zahlen zu übergehen, es geht um Präzision. Eine wunderbare Nacht, noch früh. — stop
Aus der Wörtersammlung: zettel
inari 5 im Wald
olimambo : 16.28 — Eigenartig wiederum, das Verhalten der Papiere, das Verhalten meiner Hände, meiner Bleistifte. Seit ich wieder stundenweise mit einfachsten Werkzeugen notiere, mit Werkzeugen, die ohne Elektrizität funktionieren, der Verdacht, dass von eigensinniger Natur ist, was ich auf kleinere oder größere Zettel schreibe. Meine Wörter wollen sich nicht auf Linien legen, sie wollen fliegen, weshalb sie über den Zeilen aufwärts steigen. An einem anderen Tag, wieder einem Tag ohnmächtiger Horizonte, sinken sie, ohne dass ich präzise sagen könnte, warum es an dem einen Tag aufwärts und an dem anderen Tag abwärtsgehen will, immerhin war jeweils nur ein wenig Schlaf zwischen da und dort zu verzeichnen gewesen. Auch mit den Buchstaben habe ich Mühe, mal bricht die Bleistiftspitze, dann wieder ist ein Zeichen gemalt, das man doch eher für ein ganz anderes halten möchte. Die Buchstaben Z und G sind besonders widerspenstige Gestalten, und das S und das A machen schon immer, was sie wollen. Dagegen sind das I und das M an jedem meiner Arbeitstage zuverlässige Erscheinungen, Welle und Giraffenhals, schlicht und weich. Ich nehme das noch immer, gerade wie es kommt, in aller Ruhe. — stop
Inari 5
Taunus
Flugübungen
zur Zeit der
Abenddämmerung
ein kind
nordpol : 0.58 — Ich stellte mir Nachrichten vor, die dazu geeignet sind, Telefone der Nachrichtenempfänger unverzüglich in Brand zu setzen. Was könnte das für Nachricht sein? Vielleicht folgende Nachricht, dass eine Geschichte wie diese Geschichte hier möglich ist, eine Geschichte, die von einem Kind erzählt, das in Großbritannien lebt. Das Kind, so wird erzählt, öffnete zur Weihnachtszeit einen Geschenkkarton, welcher in China erzeugt worden sein soll. In diesem Geschenk fand das Kind einen Zettel sorgfältig versteckt, der von Hand beschriftet worden war. Auf dem gefalteten Zettel war Folgendes zu lesen: S O S! Neugierig geworden öffnete das Kind das akkurat gefaltete Päckchen Papier. Das Kind entdeckte Zeichen, die mittels eines Kugelschreibers in blauer Farbe auf das Papier gesetzt worden waren. Und weil das Kind unbedingt herausfinden wollte, was dort handschriftlich notiert worden war, wurde die Zeichenfolge übersetzt. Von einem Ort in China war die Rede, von einem Gefängnis nahe einer großen Stadt im Norden des Landes, von der furchtbare Not eines menschlichen Wesens. Auch von der Zeit, von einem Zeitort. Bald drei Jahre war der Brief auf Reisen gewesen, ehe das Kind aufmerksam geworden war. — stop
im warenhaus
ginkgo : 0.02 UTC — An einem Abend im Warenhaus vor langer Zeit beobachtete ich einen kleinen Jungen. Er sprang in einer Warteschlange vor einer Kasse herum und lachte und verdrehte die Augen. Weil sich auf dem Förderband vor der Kasse Milchflaschen, Cornflakes, Reistüten sowie zwei Honigmelonen befanden, konnte der Junge den Mann, der an der Kasse seine Arbeit verrichtete, zunächst nicht sehen. Bei dem Mann handelte es sich um Javuz Aylin, er war mittels eines Namensschildchens, das in der Nähe seines Herzens angebracht worden war, zu identifizieren. In diesem Moment der Geschichte erhob sich Herr Aylin ein wenig von seinem Stuhl, um neugierig über die Waren hinweg zu spähen, vermutlich deshalb, weil der Haarschopf des Jungen mehrfach in sein Blickfeld hüpfte. Da war noch ein zweiter Haarschopf an diesem Abend im Warenhaus in nächster Nähe, schwarzes, lockiges Haar, der jüngere Bruder des Jungen, der in wenigen Sekunden zu dem Kassierer sprechen würde, beide Kinder sind sich so ähnlich, als seien sie Zwillinge, ein großer und ein kleiner Zwilling. Gleich hinter den Buben wartete die Mutter, sie lächelte, wie sie ihre Kinder so fröhlich herumtollen sah. Die junge Frau trug ein buntes Kopftuch, ich stellte mir vor, sie könnte in Marokko geboren worden sein, kräftig geschminkter Mund, herrliche Augen. Plötzlich waren die Waren auf dem Förderband verschwunden, der ältere der beiden Jungs betrachtete aufmerksam das Gesicht des Kassierers Aylin, der müde zu sein schien. Er hielt dem Jungen ein Päckchen mit Sammelbildern zur Europameisterschaft entgegen, außerdem ein zweites Päckchen für den kleineren Bruder, der immer noch hüpfte, weil er gerade eben doch noch zu klein war, um über das Band selbst hinweg spähen zu können. Oh, danke, sagte der Junge zu Herrn Aylin. Er schaute kurz zur Mutter hinauf, die nickte. Ich habe schon fast alle Karten, fuhr er fort, die deutsche Mannschaft ist komplett. Er machte eine kurze Pause. Ich bin nämlich Deutscher, sagte der Junge mit kräftiger Stimme, auch mein Bruder ist Deutscher. Wieder schaute er zu Mutter hin, und wieder nickte die junge Frau und lachte. Bist Du auch Deutscher, fragt der Junge Herrn Aylin. Der schüttelte den Kopf und schnitt eine freundliche Grimasse. Der Junge setzte nach: Ach so! Warum nicht? Aber das war gewesen, ehe Herr Aylin antworten konnte, er war mit seinem kleinen Bruder und seinen Sammelbildern bereits hinter der Kasse verschwunden, sodass sich ihre Mutter beeilen musste, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. — Das Radio erzählt, man habe, indem man Menschen neben Straßen der Stadt Mariupol beerdigte, zur gleichen Zeit ein Fläschchen zu den Toten gelegt. Dort, im Fläschchen, wurden auf einem Zettel verzeichnet der Name des verstorbenen Menschen und der Tag seiner Geburt und der Tag seines gewaltsamen Todes. — stop
ein bein
himalaya : 10.52 UTC — Gestern Abend notierte ich auf einen Notizzettel: Das Bein einer Frau ruhte auf einem Dach. Heute Morgen fand ich diesen Zettel vor. Ich erinnerte mich, eine Fotografie wahrgenommen zu haben, die das Bein einer Frau auf dem Dach eines Hauses der Stadt Mariupol zeigte. Ich bemerkte, dass ich mich nicht gewundert hatte, das abtrennte Bein einer Frau auf einem Dach bemerkt zu haben. Das Bein trug noch einen Schuh am Fuß, einen Stiefel. Auch war ich mir nicht sicher gewesen, die Existenz dieser Fotografie über Nacht in meinem Gedächtnis zu behalten. Ich notierte auf dem Zettel eine Anweisung: Fotografie sichern! Seltsame Sache. — stop
taubenstrasse 8 / 508
alpha : 14.15 UTC — Mein Nachbar wohnt im 508. Stock in der Taubenstrasse 6. Indessen ich selbst ein Apartment der Taubenstrasse 8 in der 508. Etage bewohne. Es ist Dezember, Weihnachten. Der Strom ist ausgefallen. Wenn ich nun ans Fenster trete, sehe ich Joshua, wie er seinerseits mich betrachtet, der wiederum ihn betrachtet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir entfernt. Die Fenster lassen sich in dieser Höhe nicht öffnen. Und ich sehe, eine Wolke zieht vorüber, dass auch Joshua allein ist, weswegen ich auf einen Zettel in großen Buchstaben schreibe: Joshua, komm zu mir herüber, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt seinen Daumen. Er verschwindet im hinteren Teil seines Zimmers, der im Schatten liegt, kommt dann bald wieder zurück, mit einer Flasche Hollunderbeerensaft in Händen. Er trägt bereits einen Mantel und einen Rucksack und eine Mütze und Handschuhe. Er schreibt auf einen Zettel: Ich komme! Warte auf mich! — Das Licht in Joshuas Wohnung geht aus. Und so sitze ich und warte. Ich kenne Joshua schon lange Zeit. Einmal haben wir uns auf der Straße getroffen. Und jetzt ist Weihnachten. Schnee fällt. Und es ist ganz wunderbar still. — stop
~/library/spelling
ginkgo : 9.35 UTC — Von Montagmorgen dieser Woche bis heute, Mittwochabend, lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Appalachen . Drohnengestaltmantel . Evakuierungsgebiete . Graswurzelbewegung . Grillwagen . Herznusstext . Homelesspeople . Hurricane . Kiemenmenschen . Lakritzwasser . Lötlampeneffekt . Makimensch . Montauk . Nachthausgeschichte . Plastiktonnenboote . Randomgefäß . Schlafdurcheinanderzeit . Seetangklumpen . Streetworker . Lakritzwasser . Suchzettelwälder . Teigtasche . Topormodus . Triage . Umspannwerk . Vitalfunktion. Nachtspeicherpoeten. — Faszinierende Sache. — stop
einmal*
echo : 22.58 — Einmal dachte ich einen vollständigen Tag entlang über die Größe kleinster Schriftzeichen nach, die von einer menschlichen Hand frei auf Papier gezeichnet sein könnten. Nachts träumte ich von einem Jungen, der eine Apparatur probierte, die in der Lage sein sollte, die Körpertemperatur einer Fruchtfliege zu messen. Wann sich dieser Tag präzise ereignete, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, da ich meine Notizen auf einem Zettel schrieb, den ich hinter einem Schrank entdeckte. Ich weiß hingegen präzise, dass ich den Zettel vor zwei Wochen wiedergefunden habe. Es kommt mir nun so vor, als hätte sich der auf dem Zettel verzeichnete Tag der Überlegung kleinster Schriftzeichen erst gestern ereignet. — stop
pfählung
sierra : 10.55 — Eine Vorstellung muss nicht zwingend Erfindung zu sein. Aber eine Nachtbiene, wie sie sich im Dunkeln graziös durch die Luft bewegt. — Einmal notierte ich auf einen Zettel: Ich glaube, die Menschen werden immer kälter und härter. Am 23. Juni wollte mich ein Herr namens Ul.Stinner* bei lebendigem Leibe pfählen, weil ich ihm eine Twitterfrage stellte. — stop
*Name geändert
seite zweiundfünfzig
himalaya : 0.10 UTC — Ich entdeckte ein Algebra-Buch meines Vaters, in dem er arbeitete, als er noch jung gewesen war. Das Buch war ein Buch, das im Grunde aus einem weiteren Buch bestand. Mein Vater hatte nämlich zahlreiche Bemerkungen an den Rändern der Buchseiten hinzugefügt, auch Zettel waren da dort eingelegt, Ziffern, Zahlen, Wörter, die ich nicht lesen konnte, weil sie, mit einer sehr kleinen Schrift, mit einem spitzen Bleistift in das Papier eingeritzt worden waren. Ich holte aus seinem Schreibtisch, der noch immer auf ihn zu warten scheint, eine Lupe und folgte den Zeichen eine Weile. Da stieß ich auf eine Bemerkung, die ich entziffern konnte: Paulinchen 8557345. Natürlich ist diese Geschichte vollständig erfunden. — stop