Schlagwort: alpha

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taubenstrasse 8 / 508

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alpha : 14.15 UTC — Mein Nach­bar wohnt im 508. Stock in der Tau­ben­stras­se 6. Indes­sen ich selbst ein Apart­ment der Tau­ben­stras­se 8 im 508 Stock bewoh­ne. Es ist Dezem­ber, Weih­nach­ten. Der Strom ist aus­ge­fal­len. Wenn ich nun ans Fens­ter tre­te sehe ich Joshua, wie er sei­ner­seits mich betrach­tet, der wie­der­um ihn betrach­tet. Er ist nur etwa zehn Meter von mir ent­fernt. Die Fens­ter las­sen sich in die­ser Höhe nicht öff­nen. Und ich sehe, eine Wol­ke zieht vor­über, dass auch Joshua allein ist, wes­we­gen ich auf einen Zet­tel in gro­ßen Buch­sta­ben schrei­be: Joshua, komm zu mir her­über, ich habe eine Ente im Ofen. Joshua winkt und hebt sei­nen Dau­men. Er ver­schwin­det im hin­te­ren Teil sei­nes Zim­mers, der im Schat­ten liegt, kommt dann bald wie­der zurück mit einer Fla­sche Hol­lun­der­bee­ren­saft in Hän­den. Er trägt bereits einen Man­tel und einen Ruck­sack und eine Müt­ze und Hand­schu­he. Er schreibt auf einen Zet­tel: Ich kom­me! War­te auf mich! — Das Licht in Joshu­as Woh­nung geht aus. Und so sit­ze ich und war­te. Ich ken­ne Joshua schon lan­ge Zeit. Ein­mal haben wir uns auf der Stras­se getrof­fen. Und jetzt ist Weih­nach­ten. Schnee fällt. Und es ist ganz wun­der­bar still. — stop

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vom nachtstrassenmuseum

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alpha : 22.25 UTC — Es ist nicht etwa so, dass Men­schen auf der Stras­se tief unter mei­nem Fens­ter nach Süden hin kurz vor Beginn der Aus­gangs­sper­ren sich beei­len wür­den nach Hau­se zu kom­men. Sie gehen vor­an so wie immer um die­se Zeit, aber allein. Es sind aus­ser­dem weni­ge Men­schen, die sich dort unten bewe­gen. Für einen Moment dach­te ich, viel­leicht haben sie Ein­tritt bezahlt für das Muse­um der Nach­stras­sen zu Zeit der Aus­gang­sper­re: 150 Euro. Ich muss das beob­ach­ten, das Muse­um, die Men­schen, und die Nacht­bie­nen, ihre Geräu­sche, ihre Wege, ihre Besu­che hier oben, wo ich am Fens­ter ste­he. — stop

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sandwellenwinde

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alpha : 22.18 UTC — Man kann Geschich­ten erzäh­len über das was man foto­gra­fiert, das ahne ich schon lan­ge. Vater bei­spiels­wei­se erzähl­te wie er mit Mut­ter an einem hei­ßen Nach­mit­tag Coney Island besuch­te, wie sie im war­men Sand sit­zen, wie er sei­ner gelieb­ten Frau berich­tet, dass er schon ein­mal an die­sem Ort gewe­sen sei, da kann­ten sie sich bereits. Vie­le Jah­re spä­ter wer­de ich mei­nem Vater erzäh­len, dass ich eine Foto­gra­fie besuch­te, die er gefer­tigt hat­te, als ich noch nicht ganz fünf Jah­re alt gewe­sen war. Ich sag­te: Es ist, lie­ber Vater, tat­säch­lich wie Du berich­test. Man fährt eine hal­be Stun­de mit der Sub­way vom Washing­ton Squa­re aus in süd­west­li­che Rich­tung, dann ist man am atlan­ti­schen Meer und der Him­mel hell über dem Was­ser. Hef­ti­ge Sand­wel­len­win­de fau­chen mir über die Stirn, wie ich auf die­sem Boden gehe, der fest ist. Zer­bro­che­ne Muscheln, Scher­ben von bun­tem Glas, Som­mer­be­stecke, Schu­he, Wod­ka­fla­schen, Lip­pen­stif­te, Holz, Kno­chen. Da und dort haben sich schar­fe Kan­ten gebil­det unter der stren­gen Hand der Win­ter­stür­me, dunk­le, fes­te Struk­tu­ren, in wel­chen sich Spu­ren mensch­li­cher Füße fin­den als wären sie ver­stei­nert. Bald Brigh­ton Beach. An den Wän­den der Häu­ser ent­lang der See­pro­me­na­de sit­zen alte rus­si­sche Frau­en wohl ver­packt, auf­ge­ho­ben in die­sem Bild fros­ti­ger Tem­pe­ra­tur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Isaac Bas­he­vis Sin­ger, der hier spa­zier­te lang vor mei­ner Zeit. — stop

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radarpuls

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alpha : 2.08 UTC — Stell­te mir Men­schen vor, die in einer Eis­welt leben. Uralte Men­schen. Ihr Herz schlägt 1 Mal Tag für Tag. Von Zeit zu Zeit wer­den sie wach und den­ken und füh­len und unter­hal­ten sich. — Wer an Wun­der glaubt, ver­mag leich­ter zu schwei­gen. — Satz über­prü­fen! — stop
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polio

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echo : 15.08 UTC — Nach Alko­hol bit­ter duf­ten­de Wol­ke, Erin­ne­rung einer Turn­hal­le mit höl­zer­nem Boden, vor Klet­ter­sei­len Tische, hin­ter wel­chen Leh­rer hock­ten. Sie führ­ten Namens­lis­ten, und jene wei­te­ren Per­so­nen in wei­ßen Kit­teln, die nicht bekannt gewe­sen waren, berei­te­ten den Impf­stoff vor, der uns, wir waren Kin­der, vor Polio schüt­zen soll­te, vor der Läh­mung unse­rer Bei­ne, unse­rer Arme, vor eiser­nen Lun­gen und vor den schreck­li­chen Krü­cken aus Metall oder Holz. Ich erin­ne­re mich an einen dun­kel­braun gefärb­ten Trop­fen, der auf einen Zucker­wür­fel fällt. Wir albern her­um, eine wogen­de, kichern­de Schlan­ge von Kin­dern in Som­mer­kleid­chen und Som­mer­ho­sen. Sehr ernst der Moment, da sich der Löf­fel nähert. Zucker. Bit­ter. Süß. Das Schlu­cken. Es war kurz vor der Zeit der Kar­tof­fel­feu­er. Gestor­ben ist damals nie­mand, nicht an Polio. Heut, da ich begin­ne Phil­lip Roth Roman Neme­sis zu lesen, war die­ses selt­sa­mes Wort mei­ner Kind­heit wie­der gegen­wär­tig gewor­den. — stop

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flugstaub

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alpha : 5.28 UTC — Wie ich im Park unter Kas­ta­ni­en­bäu­men spa­zier­te, Mund- und Nasen­be­de­ckung vor oder auf dem Gesicht, ein schreck­li­cher Gedan­ke, Bäu­me wür­den dem­zu­fol­ge bald ein­mal zu infek­tiö­sen Bäu­men wer­den, wel­che, die uns zur Zeit des Pol­len­flu­ges mit­tels Viren atta­ckier­ten. Die­ser fei­ne Gold­staub in der Luft und auf den Seen, dort eine fei­ne Haut, die Schwimm­we­ge der Vögel ver­zeich­net, in uns aber das Fie­ber ruft, die Atem­not. Ich dach­te, davon darfst Du nicht erzäh­len, von die­sen selt­sa­men Gedan­ken, deren Kon­se­quenz uns in Astro­nau­ten­an­zü­ge zwin­gen wür­de. — stop

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mundsegel

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alpha : 3.15 UTC — Es war kurz nach sechs Uhr mor­gens. Ich beob­ach­te­te am Flug­ha­fen eine Frau wie sie im Super­markt Früch­te berühr­te. Ihre Hän­de steck­ten in Plas­tik­hand­schu­hen, sie trug eine Bril­le, die sehr groß aus­ge­fal­len war, und einen papie­re­nen Schutz vor dem Mund, der sich wie ein Segel vor ihrem Atem bläh­te. Sie schien sehr auf­ge­regt zu sein, ihre Hän­de beweg­ten sich has­tig, zwei Äpfel, einen Pfir­sich, drei Bana­nen leg­te sie in ihr Körb­chen ab, dann eil­te sie wei­ter sofort zur Kas­se, wo sie war­ten muss­te. Sie wirk­te selt­sam ver­lo­ren, kaum jemand schien sie zu beach­ten. Sie stand in der Schlan­ge, unru­hig, eine Erschei­nung, als wäre sie ver­se­hent­lich viel zu früh an einem Zeit­ort ange­kom­men, der noch nicht bereit war, sie auf­zu­neh­men. Plötz­lich stell­te sie das Körb­chen, das sie auf ihrem Roll­kof­fer balan­cier­te, auf den Boden ab und flüch­te­te. — Das ist doch selt­sam, dach­te ich heu­te bald sechs Jah­re spä­ter. Die­ser Text wur­de bereits am 14. Okto­ber 2014 von mir selbst notiert. Ich hat­te ihn ver­legt. Das papie­re­ne Segel erin­ner­te mich. — stop

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im zug

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vic­to­ry : 22.02 – Ich hab mich auf den Weg gemacht durch mei­ne Stadt. Ich dach­te noch, Du wirst die­se Stadt spa­zie­ren, ohne sie zu berüh­ren mit Dei­nen Hän­den, kei­nen Men­schen berüh­ren, kei­ne Stra­ßen­bahn, kei­ne Häu­ser­wand, kei­ne Kaf­fee­tas­se, kei­nen Knopf, kei­ne Gelän­der. Mit die­ser Vor­stel­lung im Kopf ging ich los, Hän­de in den Hosen­ta­schen. Schon ein­mal hab ich so etwas ver­sucht, da wars nur ein Spiel, in einem New Yor­ker Sub­way­zug mit geschlos­se­nen Augen frei­hän­dig zu ste­hen und zu balan­cie­ren, sagen wir eine zwei­stün­di­ge Fahrt mit der Linie D von Coney Island rauf zum Bedford Park Bou­le­vard. Das Rei­ten auf einem wil­den Tier. Viel­leicht könn­te ich sagen, dass das Erler­nen einer Sub­waystre­cke, das neu­ro­na­le Ver­zeich­nen ihrer Stei­gun­gen, ihrer Gefäl­le, ihrer Kur­ven, auch ihrer feins­ten Uneben­hei­ten, dem wort­ge­treu­en Stu­di­um eines Roman­tex­tes ver­gleich­bar ist. Aber dann die Zufäl­le des All­ta­ges, das nicht Bere­chen­ba­re, ein Tun­nel­vo­gel, eine schmut­zi­ge Möwe, Höhe 135. Stra­ße, die den Zug zur Brem­sung zwingt, Eigen­ar­ten des Zuges selbst, das unvor­her­seh­ba­re Ver­hal­ten zustei­gen­der Fahr­gast­per­so­nen, eine Jazz­band, wie ich drin­gend dar­um bit­te, man möge nicht näher kom­men. — stop
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