nordpol : 2.15 UTC — Die ukrainische Schriftstellerin Nadiya Sukhorukova, die aus der bombardierten Stadt Mariupol im März des Jahres 2022 flüchten konnte, erzählt von einer berührenden Situation: Wie Menschen ihr Leben riskierten, um ein Lebenszeichen an die Welt und ihre Angehörigen und Freunde außerhalb der Stadt in der Ukraine zu senden. Sie schreibt auf der digitalen Position „Monologs of War“ Folgendes: Ein kleines Wunder geschah. Es gab eine Verbindung direkt am Eingang. Meine Kellernachbarn erzählten einander, dass Kyivstar bombardiert worden war, aber einer der Angestellten schaltete regelmäßig den Generator ein und versorgte ihn mit Strom, sodass man sich kurz unterhalten und die Nachrichten erfahren konnte. Auch wenn es unmöglich war, in Mariupol anzurufen, konnten wir doch Verwandte in anderen Städten informieren. Dank eines Fremden, der es Mariupol ermöglichte, den vom Unbekannten verrückt gewordenen Menschen jeden Tag ein Wort zu sagen: „am Leben“. Und ihre Schatten: A live. живим . i levende live . gyvas . en vie . vivo — 活著 . على قيد الحياة . elus . ζωντανός . hidup. War Monologs sind leider zurzeit oder für immer nicht erreichbar. Spuren sind in den Internetarchiven zu finden. — stop
Aus der Wörtersammlung: schrift
fliegende schnecke
alpha : 8.32 UTC — Ein Schriftsteller soll existieren, der all jene Gegenstände, über die er präzise zu schreiben wünscht, besitzen muss, um sie drehen und wenden zu können, in sie hineinsehen, also öffnen, zerlegen und wieder, wenn dann noch möglich, zusammenfügen. Es wurden beispielsweise gekauft: Eine rote Reiseschreibmaschine Olivetti Valentine nach dem Design des Ettore Sottsass, ein Kaleidoskop von Metall und buntem Glas, ein aufziehbares Vogelwesen mit Federn eines Straußes, ein Messingmikroskop Leitz No158461, eine fliegende Schnecke. Den Kauf dieser fliegenden Schnecke hatte ich nur geträumt wie die Schnecke selbst, und zwar mehrfach, ein sehr langsam durch die Luft fahrendes Wesen ohne Flügel. Ich wachte auf, sobald ich nach der Schnecke greifen wollte mit den Händen eines Kindes. Eigentlich sollte ich niemals das Ende eines Traumes erzählen, Traumenden befinden sich nicht selten bereits mit einem Bein im neuen Tag, in einem Bezirk der Welt, den wir Wirklichkeit nennen, ich bin dann schon wach geworden auf einem Bein, habe die Fenster geöffnet, es regnet zum Beispiel, auf der Straße weit unter mir bewegen sich Regenschirme, Menschen sind keine zu erkennen, aber ein paar nasse Tauben, die sich, von der Schwere ihres Gefieders in die Tiefe gezogen, kaum noch in der Luft zu halten vermögen. Eine Exkursion zur Kaffeemaschine hin nütze ich, um mein Mikroskop vom Tisch zu holen. Tatsächlich erkenne ich jetzt eine Herde goldgrüner Frösche, die sich an der Hauswand gegenüber westwärts bewegen. Zu hören ist von ihnen nichts, aber der Regen rauscht sehr schön, prasselt auf die Blätter der Bäume, tropft von den Regenrinnen auf blecherne Fenstersimse, was für ein wunderschöner Morgen, schon habe ich den Traum, den ich träumte, beinahe vergessen. — stop
von eichhörnchen
tango : 6.58 UTC — Im Traum lese ich ein Buch von Papier. Das Buch ruht auf meinem Schreibtisch. Schriftzeichen sehr gut lesbar, ein Buch, das ich ohne Brille verstehe. Ich lasse das Buch geöffnet auf dem Schreibtisch liegen, wenn ich spazieren gehe. Oder zum Einkaufen. Oder ins Kino. Sobald zurückgekehrt, lese ich weiter. Der Eindruck plötzlich, der Text des Buches, den ich zuletzt noch gelesen hatte, würde sich verändert haben, während ich dem Buch den Rücken kehrte. Ich lese einen Satz und präge mir ein, was ich gelesen hatte. Dann stehe ich auf und trete ans Fenster. Ein Eichhörnchen sitzt im Baum jenseits der Straße, es scheint zu grüßen. Kaum zurück vor dem Schreibtisch, der Verdacht, nein, die Gewissheit, dass sich wiederum Zeichen des Buches in meiner Abwesenheit verändert haben oder sich verändert haben könnten. Ich suche nach meinem Fotoapparat. Ich nehme eine Fotografie des geöffneten Buches aus nächster Nähe. Ich wache auf. Es ist Samstag. Feuchte Luft. 30° Celsius. Wunderbar. — stop
ai : JORDANIEN
MENSCH IN GEFAHR: „Dem syrischen Flüchtling Atiya Mohammad Abu Salem droht unmittelbar die Abschiebung aus Jordanien. Er lebt seit zwölf Jahren in Jordanien und ist Journalismusstudent und freiberuflicher Videofilmer./ Am 9. April wurde Atiya Mohammad Abu Salem in al-Rabieh in Amman von Sicherheitskräften festgenommen, als er eine propalästinensische Protestkundgebung in der Nähe der israelischen Botschaft filmen wollte. Die Sicherheitskräfte informierten ihn nicht über die Gründe für seine Festnahme und verhörten ihn ohne einen Rechtsbeistand. Nach Angaben seines Rechtsbeistands drohten die Sicherheitskräfte Atiya Mohammad Abu Salem mit Abschiebung und zwangen ihn, sein Telefon zur Überprüfung zu entsperren. Er wurde weder der Justiz übergeben noch wegen einer Straftat angeklagt. Dennoch erhielt sein Rechtsbeistand die Information, dass ein Abschiebungsbefehl für seinen Mandanten ausgestellt worden sei. / Eine Rechtshilfeorganisation hat im Namen des Flüchtlings vor dem Verwaltungsgericht Rechtsmittel eingelegt. In Syrien wäre Atiya Mohammad Abu Salem nicht sicher. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben über die Jahre hinweg durchgehend schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge dokumentiert, die rechtswidrig nach Syrien abgeschoben wurden. So sind die syrischen Sicherheitskräfte u. a. für willkürliche Festnahmen, Folterungen und Verschwindenlassen verantwortlich. Gemäß den Bestimmungen des Völkerrechts müssen die jordanischen Behörden den Abschiebungsbefehl gegen Atiya Mohammad Abu Salem unverzüglich aufheben und ihn freilassen, sofern er nicht umgehend einer international anerkannten Straftat angeklagt wird. Sollte er angeklagt werden, so muss dies vor einem ordentlichen Gericht und unter Einhaltung seiner Verfahrensrechte geschehen.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
ai : VENEZUELA
MENSCHEN IN GEFAHR: „Am 19. Februar 2024 wurde Juan Carlos Marrufo ohne Vorankündigung in das Gefängnis Rodeo I im venezolanischen Bundesstaat Miranda verlegt, fast drei Jahre nach seiner politisch motivierten willkürlichen Inhaftierung. Obwohl sich sein Gesundheitszustand verschlechtert, verweigern ihm die Behörden nach wie vor Untersuchungen und Behandlungen. María Auxiliadora Delgado, die mit Juan Carlos verheiratet ist und ebenfalls seit dem 19. März 2019 willkürlich festgehalten wird, benötigt sofortige medizinische Untersuchungen. Emirlendris Benitez, die im August 2018 willkürlich festgenommen wurde, leidet an Beschwerden, die auf die Folter zurückzuführen sind, der sie ausgesetzt war. Sie benötigt eine sofortige Operation.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
ai : RUSSISCHE FÖDERATION
MENSCH IN GEFAHR: „Die Künstlerin Aleksandra Skochilenko ist wegen “Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die russischen Streitkräfte” (Paragraf 207.3 des Strafgesetzbuchs) zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, weil sie Preisschilder in örtlichen Supermärkten durch Antikriegsinformationen ersetzt hat. Hierbei handelt es sich nicht um eine international als Straftat anerkannte Handlung. Der Straftatbestand beschneidet das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit auf eine Weise, die sowohl den völkerrechtlichen als auch den verfassungsrechtlichen Verpflichtungen Russlands zuwiderläuft. Aleksandra Skochilenko leidet an Zöliakie und einer Herzerkrankung. Ihren Ärzt*innen zufolge benötigt sie deshalb eine angemessene medizinische Betreuung sowie eine streng glutenfreie Diät, die im Strafvollzug nicht möglich ist. Die Künstlerin befindet sich bereits seit mehr als 19 Monaten in Haft. Ihr Gesundheitszustand hat sich im Gefängnis stark verschlechtert, und eine anhaltende Inhaftierung wird dies noch verschlimmern bzw. kann sogar ihr Leben gefährden. Alexandra Skotschilenko ist eine gewaltlose politische Gefangene, die nur aufgrund der Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung inhaftiert ist. Sie muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
Aleksandra Skochilenko
vor Gericht
undatierte
Fotografie
ein kind
nordpol : 0.58 — Ich stellte mir Nachrichten vor, die dazu geeignet sind, Telefone der Nachrichtenempfänger unverzüglich in Brand zu setzen. Was könnte das für Nachricht sein? Vielleicht folgende Nachricht, dass eine Geschichte wie diese Geschichte hier möglich ist, eine Geschichte, die von einem Kind erzählt, das in Großbritannien lebt. Das Kind, so wird erzählt, öffnete zur Weihnachtszeit einen Geschenkkarton, welcher in China erzeugt worden sein soll. In diesem Geschenk fand das Kind einen Zettel sorgfältig versteckt, der von Hand beschriftet worden war. Auf dem gefalteten Zettel war Folgendes zu lesen: S O S! Neugierig geworden öffnete das Kind das akkurat gefaltete Päckchen Papier. Das Kind entdeckte Zeichen, die mittels eines Kugelschreibers in blauer Farbe auf das Papier gesetzt worden waren. Und weil das Kind unbedingt herausfinden wollte, was dort handschriftlich notiert worden war, wurde die Zeichenfolge übersetzt. Von einem Ort in China war die Rede, von einem Gefängnis nahe einer großen Stadt im Norden des Landes, von der furchtbare Not eines menschlichen Wesens. Auch von der Zeit, von einem Zeitort. Bald drei Jahre war der Brief auf Reisen gewesen, ehe das Kind aufmerksam geworden war. — stop
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR: „Nahid Taghavi ist eine iranisch-deutsche Frauenrechtlerin, die im Teheraner Evin-Gefängnis inhaftiert ist. Seit ihrer Festnahme im Oktober 2020 musste sie monatelang in Isolationshaft. Sie wurde gefoltert. In einem unfairen Gerichtsverfahren wurde sie wegen angeblicher Beteiligung an einer “illegalen Gruppe” und wegen “Propaganda gegen den Staat” zu zehn Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Ihr Gesundheitszustand ist besorgniserregend: Nahid Taghavi hat so starke Schmerzen, dass sie kaum mehr aus dem Bett aufstehen kann. Sie bekommt starke Schmerzmittel injiziert. Sie leidet an tauben Fingern und starken Schmerzen in ihrem Nacken, am Rücken und an den Händen. Im Juli 2022 wurde Nahid in den dringend benötigten medizinischen Hafturlaub entlassen. Die lange Haft und die desaströsen Haftbedingungen haben ihren Gesundheitszustand massiv verschlechtert. Am 13. November 2022 musste sie wieder ins Gefängnis, obwohl ihre medizinische Behandlung noch nicht abgeschlossen ist. Die erneute Inhaftierung von Nahid erfolgte unmittelbar auf die Ankündigung der deutschen Bundesregierung, weitere Sanktionen gegen die iranische Regierung zu verabschieden. Nahid ist eine gewaltlose politische Gefangene und muss umgehend und bedingungslos freigelassen werden.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
ai : RUSSISCHE FÖDERATION
MENSCH IN GEFAHR: „Wladimir Kara-Mursa wurde am 11. April 2022 in der Nähe seiner Wohnung in Moskau festgenommen und einzig aufgrund seines friedlichen politischen Aktivismus und seiner Kritik an den russischen Behörden vor Gericht gestellt. Grundlage für die Vorwürfe sind Vorträge, in denen er den russischen Einmarsch in der Ukraine kritisiert hatte, sowie seine Verbindung zu der oppositionellen Gruppierung Open Russia. Am 17. April wurde Wladimir Kara-Mursa schuldig gesprochen und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird sowohl durch das Völkerrecht als auch die russische Verfassung garantiert. Die Wahrnehmung dieses Rechts darf daher nicht mit Repressalien oder gar langen Haftstrafen einhergehen. Wladimir Kara-Mursa leidet Berichten zufolge in beiden Füßen an Polyneuropathie, was gemäß russischem Recht eigentlich bedeutet, dass er nicht inhaftiert werden darf. Aufgrund seiner langen Haftstrafe besteht Sorge um seinen Gesundheitszustand.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen unter > ai : urgent action
ein mann mit buch
nordpol : 16.05 UTC — In einer Filmdokumentation, die den Schriftsteller Jonathan Franzen fünf Tage lang während einer Lesereise begleitet, folgende berührende Szene, die sich im New Yorker Arbeitszimmer des Autors ereignet. Jonathan Franzen hält seine Schreibmaschine, ein preiswertes Dell – Notebook, vor das Objektiv der Kamera. Er deutet auf eine Stelle an der Rückseite des Gerätes, dort soll früher einmal ein Fortsatz, eine Erhebung zu sehen gewesen sein. Er habe diesen Fortsatz eigenhändig abgesägt. Es handelte sich um eine Buchse für einen Stecker. Man konnte dort das Internet einführen, also eine Verbindung herstellen zwischen der Schreibmaschine des Schriftstellers und der Welt tausender Computer da draußen irgendwo. Jonathan Franzen erklärt, er habe seinen Computer bearbeitet, um der Versuchung, sich mit dem Internet verbinden zu wollen, aus dem Weg zu gehen. Eine überzeugende Tat. Im Moment, da ich diese Szene beobachte, bemerke ich, dass die Verfügbarkeit von Information zu jeder Zeit auch in meinem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zerstreuung, Beliebigkeit erzeugen kann. Ich scheine in den Zeichen, Bildern, Filmen, die hereinkommen, flüssig zu werden. Dagegen angenehme Gefühle, wenn ich die abgeschlossene Welt eines Buches in Händen halte. — In Mariupol, so erzählt das Radio, soll ein alter Mann von einem Scharfschützen getötet worden sein, als er in einem Hinterhof in einem Buch lesend auf einer Bank saß. — stop