echo : 15.12 UTC — Die Welt der Wörter gleicht sich der veränderten Weltlage an. Seit einer halben Stunde das Wort Areosolbombe in meinem Gehör, wieviel Gramm? — stop
Aus der Wörtersammlung: gehör
stimmen
india : 20.12 UTC — Gestern hatte ich mich plötzlich an Vaters Stimme erinnert. Die Stimme sagte: Aber das ist doch Kokolores. Dann lachte die Stimme. Und ich dachte noch daran, wie ich vor Jahren einmal bemerkte, dass ich mich für einen Moment nicht mehr an die Stimme meines Vaters erinnern konnte. Wie ich auch suchte, ich fand sie nicht. Ich war natürlich sehr erschrocken gewesen. Anstatt der Stimme meines Vaters, hörte ich die Stimme des großen Erzählers Isaak B. Singer, eine helle und zugleich raue Stimme, die der Stimme meines Vaters sicher ähnelte. Ich hatte vor ein oder zwei Jahren Singers Stimme in einem Filminterview gehört. Fotografien zeigen den alten Mann spazierend am Atlantik. Auch mein Vater war mehrfach in Brighton Beach gewesen, wenn ich nicht irre. Plötzlich kehrte die Erinnerung an die Stimme meines Vaters zurück. Isaac B. Singers Geschichte im übrigen geht so: Kurz nach meiner Ankunft ( in Amerika ) betrat ich zum ersten mal eine Cafeteria, ohne zu wissen was das ist. Ich hielt es für ein Restaurant. Ich sah lauter Leute mit Tabletts und fragte mich, warum man in so einem kleinen Restaurant so viele Kellner brauchte. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vorbeikam, ein Zeichen. Ich hielt sie alle für Kellner und wollte etwas bestellen. Aber sie ignorierten mich, manche lächelten auch. Und ich dachte, was für ein unwirklicher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein kleines Café mit so vielen Kellnern, und niemand beachtet mich! Irgendwann begriff ich dann, was eine Cafeteria ist. Sie wurde mein zweites Zuhause. Die Cafeterien wurden eine Art Zuhause für Flüchtlinge aus Polen, Russland und anderen Ländern. Viele meiner Geschichten spielen in Cafeterien, wo all diese Menschen aufeinandertrafen: die Normalen, die weniger Normalen und die Verrückten. Das ist also der Hintergrund meiner Geschichten, die in Cafeterien spielen. – stop
Spuren einer Zeit
da mein Vater
das Wort
Kokolores
sagte
ein brennender vogel
echo : 0.10 UTC — Ich bin noch immer leicht verwirrt von dem, was vor wenigen Minuten passierte. Ein Blitz ist möglicherweise in nächster Nähe eingeschlagen. Ich erinnere mich, ich hatte meine Fenster geöffnet, es begann heftig zu regnen, dann wurde es plötzlich still. Ich lehnte noch an der Wand meines Arbeitzimmers. Es roch ein wenig nach Metall, meine Zunge schmeckte nach einem Löffel von Zinn, wie früher, sobald ich ein Frühstücksei öffnete. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit meinem linken Ohr ein leises Summen vernehmen, das eventuell nicht außen, sondern innen in meinem Kopf sich ereignet. Rechts ist wirkliche Stille. Aber ich kann sehen, mit beiden Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf meinem Sofa, er scheint zu brennen, weswegen ich mich sofort auf den Weg machen werde, ein Glas Wasser zu holen. Es ist seltsam, tatsächlich ist die Erfahrung der Gehörlosigkeit in dieser Nacht, die Erfahrung vollständiger Abwesenheit eines Teiles meines Kopfes. – Ein junger Mann erzählte im Radio, er habe in der Stadt Mariupol eine Wohnung besucht. Er sagt: Auf dem Boden lag eine tote Katze in der Nähe zwei alter Menschen, die auf einem Sofa hockten tot wie die Katze. — stop
luftraum
zoulou : 0.28 UTC — Wann in meinem kurzen Leben habe ich das Wort Schrapnell zum ersten Mal gehört? — stop
ameisengespräch
tango : 15.18 UTC — Eine deutsch sprechende, hochbetagte russische Dame erzählte am Telefon, sie habe gehört, Ameisen, Millionen vergifteter Ameisen würden die ukrainische Grenze in Richtung der russischen Föderation überquert haben im vergangenen Jahr bereits. Sie seien erschaffen worden, um ganz Russland zu zerstören, Menschen, Tiere, Pflanzen. Diese Ameisen seien ungewöhnlich groß und von blauer Farbe. Ich fragte zunächst, ob sie denn eine der Ameisen, von deren Existenz sie hörte, mit eigenen Augen gesehen habe. Nein, mein Gott, dann könnte ich Dir von dieser Gefahr doch nicht erzählen! Ob denn Fotografien oder Filmaufnahmen das Vorkommen jener gefährlichen Wesen dokumentieren würden, wollte ich wissen? Ja, aber natürlich, diese Fotografien müssen existieren, aber ja, natürlich! — Ihr helles Stimmchen. stop
15 Uhr 2
marimba : 15.02 — Seit einer halben Stunde das Wort Feuerwetter in meinem Gehör, warum? — stop
helena
charlie : 18.32 UTC — Helena, die sechs Jahre alt geworden war, fragte mich am Telefon, inwiefern sich ein Regenschirm von einem Schneeschirm unterscheide. Das ist eine aufregende Geschichte, dachte ich, ich habe von der Existenz der Schneeschirme noch nie zuvor gehört. Das ist nämlich so, sagte Helena, wenn es Regenschirme gibt muss es auch Schneeschirme geben, wie Sonnenschirme und Windschirme. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte ich Helenas Frage. Du willst wissen, inwiefern sich Regenschirme von Schneeschirmen unterscheiden? Habe ich Dich richtig verstanden? Ja, antwortete Helena, was heisst inwiefern? Plötzlich war sie nicht mehr am Telefon. Ich hörte ihre Schritte, wie sie durch die ferne Wohnung lief, sie schien nach etwas zu suchen. Bald hörte ich ihre Stimme, sie erzählte eine Geschichte von einem Frosch, den sie im Garten entdeckt hatte, ihre Mutter lachte. Nach einer Weile hörte ich Helenas Schritte wieder näherkommen, dann ihre Stimme. Ich habe dich fast vergessen, dass du am Telefon bist, sagte Helena, das ist phänomenal. Sie lachte. Das ist ja wirklich phänomenal. Was bedeutet : phänomenal? — Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol sei ein Automobil explodiert. An Bord habe ein hoher russischer Beamter der Stadt Mariupol vor einer Ampel gewartet. — stop
bristolhotel
alpha : 2.26 UTC — Folgende Person, ein Mann, könnte reine Erfindung sein. Der Mann war mir während eines Spazierganges aufgefallen, dass heißt, ich hatte einen Einfall oder eine Idee, oder ich machte vielleicht eine Entdeckung. Ich könnte von dieser Person, die sich nicht wehren kann, behaupten, dass sie nicht ganz bei Verstand sein wird, weil sie seit langer Zeit in einem Hotelzimmer lebt, welches sie niemals verlässt. Das Hotel, in dem sich dieses Zimmer befindet, erreicht man vom Flughafen der norwegischen Stadt Bergen aus in 25 Minuten, sofern man sich ein Taxi leisten kann. Es ist das Bristol, unweit des Nationaltheaters gelegen, dort, im dritten Stock, ein kleines Zimmer, der Boden hell, sodass man meinen möchte, man spazierte auf Walknochen herum. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigentlich erzählen will. Es handelt sich um einen wohlhabenden Mann im Alter von fünfzig Jahren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haare auf dem Kopf, wiegt 73 Kilogramm, und trägt eine Brille. Sieben weiße Hemden gehören zu ihm, Strümpfe, Unterwäsche, dunkelbraune Schuhe mit weichen Sohlen, ein hellgrauer Anzug und ein Koffer, der unter dem Bett verwahrt wird. Auf einem Tisch nahe eines Fensters, zwei Handcomputer. In den Anschluss des einen Computers wurde ein USB-Speichermedium eingeführt. Auf dem Bildschirm sind Verzeichnisse und Dateinamen zu erkennen, die sich auf jenem Speichermedium befinden. Auf dem Bildschirm des zweiten Computers ein ähnliches Bild, Verzeichnisse, Dateinamen, Zeitangaben, Größenordnungen. Was wir sehen, sind Computer des Mannes, der Mann arbeitet in Bergen im Bristol im Zimmer auf dem Knochenboden. Er sitzt vor den Bildschirmen und öffnet Dateien, um sie zu vergleichen, Texte im Blocksatz. Zeile um Zeile wandert der Mann mit Hilfe einer Bleistiftspitze durch das Gebiet der Worte, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Sprache notiert wurden, die mir unbekannt. Es scheint eine verschlüsselte Sprache zu sein, weshalb der Mann dazu gezwungen ist, jedes Zeichen für sich zu überprüfen. Fünf Stunden Arbeit am Vormittag, fünf Stunden Arbeit am Nachmittag, und weitere fünf Stunden am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafelwasser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, Seeteufel, Steinbutt. 277275 Dateien sind zu überprüfen, 12.532.365 Seiten. Er scheint noch nicht sehr weit gekommen zu sein. Die Vorhänge der Fenster sind zugezogen, es ist ohnehin gerade eine Zeit ohne Licht. Ein Mädchen, das ihm manchmal seinen Fisch serviert, macht ihm schöne Augen. Morgens sind die Hörner der Schiffe zu vernehmen, die den Hafen der Stadt verlassen. Das war am 1. Dezember 2013 gewesen. — Im Radio wird von einer Frau erzählt, die seit dem 28. Februar diesen Jahres täglich von Lissabon aus mehrfach vergeblich versucht ihre Eltern in Mariupol zu erreichen. Kein Laut. Kein Zeichen. Aber Stille Tag für Tag. Stunde um Stunde. Minute für Minute. — stop
ja bitte
ulysses : 15.02 UTC — In den Archiven meiner flachen Glasschreibmaschine sind letzte Gespräche geborgen, die ich vor 6 Jahren im Sommer mit meiner Mutter führte. Sie war im Haus der alten Menschen plötzlich wieder wach geworden, so wach, dass sie in ihrem Bett sitzen und erzählen wollte. Sie trug, ich erinnere mich noch gut, eine rosafarbene Bluse, und während sie erzählte, fasste sie immer wieder nach meiner Schreibmaschine, wollte sie in Händen halten, sah die Bewegung ihrer Stimme auf dem Bildschirm, Amplituden. Plötzlich schlief sie ein. Und ich ließ das Tonbandprogramm laufen, legte meine Schreibmaschine neben Mutter ins Bett und ging ein wenig über die Flure spazieren. Als ich zurückkehrte, war meine Mutter wach geworden. Ich hörte, noch war ich auf dem Flur, wie sie sprach, wie sie der Maschine erzählte, die sie gleich neben sich liegen sah. Sie lachte als sie mich entdeckte und erzählte weiter, ohne eine Pause zu machen. Ich habe diese Gespräche mit meiner Mutter, ihre Erzählungen, seither nicht wieder gehört, habe sie jedoch sorgfältig gesichert. Es fällt nicht leicht ihre Stimme zu erinnern so einfach so. Aber wenn ich mir vorstelle, ich würde sie anrufen, dann geht es: Sie sagt: Ja bitte? — Das Radio erzählt von einem jungen Mann, der sich in Mariupol schützend vor seine Mutter stellte. Er wurde in der Küche eines Hauses im Stadtteil Staryj Krym erschossen. Das war bereits im März gewesen. Seine Mutter überlebte. Sie erzählt im Gespräch, sich könne das Gesicht des Schützen sehr gut erinnern. — stop
lufteisschrift
charlie : 2.22 UTC — Ein Eisbuch besitzen, ein Eisbuch lesen, eines jener schimmernden, kühlen, uralten Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – Das Radio erzählt von einer Frau, die in einem Kaffeehaus der Stadt Kyiv sitzen und warten soll, dass ihr Sohn aus dem Kampf bald zurückkehren möge. — stop