marimba : 22.12 UTC — Immer wieder und immer noch die Frage, ob es vielleicht möglich ist, Papiere zu erfinden, die essbar sind, nahrhaft und gut verdaulich? Man könnte sich in einen Park setzen, beispielsweise und etwas Chatwin beobachten oder Lowry oder Calvino, Bücher, die Seite für Seite nach belgischen Waffeln schmeckten, nach Birnen, Gin, Petroleum oder sehr feinen Hölzern. Einen speziellen Duft schon in der Nase, wird die erste Seite eines Buches gelesen, und dann blättert man die Seite um und liest weiter bis zur letzten Zeile, und dann isst man die Seite auf, ohne zu zögern. Oder man könnte zunächst das erste Kapitel eines Buches durchkreuzen, und während man kurz noch die Geschichte dieser Abteilung rekapituliert, würde man Stürme, Personen, Orte und alle Anzeichen eines Verbrechens verspeisen, dann bereits das nächste Kapitel eröffnen, während man noch auf dem Ersten kaut. Man könnte also, eine Bibliothek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisige Wüsten durchstreifen oder ein paar sehr hohe Berge besteigen und abends unter dem Gaslicht in den Zelten liegen und lesen und kauen und würde von Nacht zu Nacht leichter und leichter werden. — stop
Aus der Wörtersammlung: frage
mariupol / 6.
victory : 22.01 UTC — In einem Zimmer eines Hauses in Mariupol im sechsten Stock lag eine Fotografie auf dem Boden. Kinder sitzen dort im Bild auf Stühlen. Ihr erster Schultag. Die Fotografie war verstaubt und außerdem verletzt von einem Granatsplitter, der das Bild durchschlagen hatte. Der Kopf eines Mädchens war in dieser Weise verschwunden. Das Mädchen hatte einen himmelblauen Rock getragen, eine korallenfarbene Bluse mit weißen Blüten einer Rose, schwarze glänzende Schuhe mit goldenen Spangen und eine Kette bunter Steine um den Hals. Über das Gesicht des Mädchens kann ich natürlich nichts erzählen. Auch nicht über ihr Haar. Ich müsste, um über das Gesicht des Mädchens erzählen zu können, die Kinder des Bildes finden und befragen. Vielleicht haben sie alle überlebt, das ist vielleicht möglich. Oder eines oder zwei der Kinder. — stop
Lokomotive
des Jahres 1968
auf meinem
Küchentisch
im Winter um
kurz nach
Mitternacht
gambia
sierra : 14.28 UTC — Es ist Samstag, Februar, kurz nach Mittagszeit. Das Telefon klingelt. Seltsame Nummer. Eine Stimme meldet sich, ein Stimmchen, glockenhell. Sagt: Hello, hello! Stimme völlig unbekannt. Ich frage: Wer ist da, wer spricht? Es knistert im Hörer, Stimmchen sagt: Here is Africa! — Ich lege auf. Ich geh spazieren. Schau aus dem Fenster. Auf der Strassenlaterne tief unter mir sitzen zwei Tauben. Schauen hinauf. Lidschirmchen schliessen sich. Die Tauben kennen mich, ich kenne sie. Erneut klingelt das Telefon, seltsame Nummer. Eine Stimme meldet sich, ein Stimmchen, glockenhell. Sagt: You asshole! — Und legt auf. — stop
chatGPT
india : 20.33 UTC — Ich stelle ChatGPT folgende Frage: Was würden Sie mir bitte über folgenden Text ( Im Quarantänegarten 2. November 2023 ) erzählen, einen Text, den ich selbst geschrieben habe. ChatGPT antwortete: “Ihr Text beschreibt eindringlich eine Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart, mit starken emotionalen Nuancen. Hier sind einige Aspekte, die mir auffallen: Atmosphäre und Stimmung: Der Text erzeugt eine nachdenkliche und melancholische Atmosphäre, insbesondere durch die Erwähnung des Windes, des Februars und des verlassenen Hauses im Süden. Die Worte vermitteln eine emotionale Verbindung zu vergangenen Zeiten und Orten. Verlust und Erinnerung: Die Betrachtung der Kleider und persönlichen Gegenstände verschwundener Menschen bringt den Schmerz des Verlusts hervor. Die Details wie Schuhe, Halstücher und der verwilderte Garten verstärken das Gefühl von Abwesenheit und Vergänglichkeit. Beobachtungen und Fotografie: Die Erwähnung des Fotografierens von Schuhen und der Entdeckung von persönlichen Gegenständen in einer Handtasche vermittelt den Eindruck, dass der Protagonist versucht, Erinnerungen festzuhalten oder die Vergangenheit zu verstehen. Fotografie kann oft als Mittel dienen, um Momente einzufrieren und Erinnerungen zu bewahren. Der Schmerz des Abschieds: Der Text endet mit einer starken Aussage über den Schmerz, der mit dem Gedanken verbunden ist, die alte Dame nie wieder besuchen zu können. Dies verstärkt das Gefühl von Verlust und Abschied. — Insgesamt ist Ihr Text sehr bildhaft und einfühlsam. Er vermittelt eine persönliche Erfahrung von Verlust, Erinnerung und dem Versuch, die Vergangenheit zu bewahren.” ::: Erste seltsame, unheimliche Begegnung mit einer Maschine in eigenen Räumen. Zeit für Antwort: 3 Sekunden. — stop
helena
charlie : 18.32 UTC — Helena, die sechs Jahre alt geworden war, fragte mich am Telefon, inwiefern sich ein Regenschirm von einem Schneeschirm unterscheide. Das ist eine aufregende Geschichte, dachte ich, ich habe von der Existenz der Schneeschirme noch nie zuvor gehört. Das ist nämlich so, sagte Helena, wenn es Regenschirme gibt muss es auch Schneeschirme geben, wie Sonnenschirme und Windschirme. Um Zeit zu gewinnen, wiederholte ich Helenas Frage. Du willst wissen, inwiefern sich Regenschirme von Schneeschirmen unterscheiden? Habe ich Dich richtig verstanden? Ja, antwortete Helena, was heisst inwiefern? Plötzlich war sie nicht mehr am Telefon. Ich hörte ihre Schritte, wie sie durch die ferne Wohnung lief, sie schien nach etwas zu suchen. Bald hörte ich ihre Stimme, sie erzählte eine Geschichte von einem Frosch, den sie im Garten entdeckt hatte, ihre Mutter lachte. Nach einer Weile hörte ich Helenas Schritte wieder näherkommen, dann ihre Stimme. Ich habe dich fast vergessen, dass du am Telefon bist, sagte Helena, das ist phänomenal. Sie lachte. Das ist ja wirklich phänomenal. Was bedeutet : phänomenal? — Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol sei ein Automobil explodiert. An Bord habe ein hoher russischer Beamter der Stadt Mariupol vor einer Ampel gewartet. — stop
von der existenz der schneckenkäfer
bamako : 10.02 UTC — Wie, fragte ich, sollte ein Wesen gestaltet sein, von dem niemand sagen könnte, ob es sich tatsächlich um einen Käfer oder doch eher um eine Schnecke handelte? Wie schwer wöge in einer definierenden Gleichung das Vorkommen eines Schneckenhauses? Wäre nicht vielleicht ein Käfer, dessen geschlossene Panzerung die Form eines Schneckenhauses nachempfindet, bereits als eine Schnecke anzusehen, die gerade noch misslungen ist? Dürfen Schnecken fliegen? — Das Radio erzählte, Scharfschützen würden zur Übung auf Möwen sowie spazierende Menschen geschossen haben. — stop
von teefliegen
kilimandscharo : 22.58 UTC — Und wieder die Frage, wie ist das mit der Wirklichkeit oder der Wahrheit in meinem schreibenden Leben? Jahrelang wohnte beispielsweise eine Schnecke in meiner Wohnung, außerdem ein Lichtenbergfalter, Springspinnen, Libellen, ein Puma und Teefliegen, immer wieder Teefliegen. Ich habe sie mit eigenen Augen alle gesehen oder mit meinen erfindenden Augen, die in meinem Kopf verweilen. Ich könnte deshalb sagen, nicht jeder meiner Trompetenkäfer wäre vorzeigbar, aber doch vorstellbar. Einmal ich eine weitere deutliche Spur gelegt hin zur Arbeitsbeschreibung, Radar war zu lesen unter jedem meiner Particles — Texte, ein Hyperlink, der auf einen Text verwies, welcher meine Arbeit beschreibt. Dieser Text existiert seit 15 Jahren, ich hatte jene Textpassage, die Wirklichkeit und Erfindung bedeutet, zunächst unterstrichen, dann, wenige Minuten später in kursive Zeichen gesetzt. Das musste genügen, und genügt immer noch. — Das Radio erzählt von einem schwerkranken Kind, das in einem Keller der Stadt Mariupol nahe des Meeresboulevards solange leise gesungen haben soll, bis seine Stimme für immer verstummte. — stop
silent sentry
alpha : 2.21 UTC — Wird es vielleicht bald einmal möglich sein, menschliche Körper, präzise formuliert, die Oberfläche menschlicher Körper, derart zu gestalten, dass sie in unbekleidetem Zustand von aktiven Radartechnologien nicht zu erfassen sind, Menschengestalten demzufolge, die in der Begegnung weder Licht, noch Geräusche emittieren? Welcher Art wäre die Lichtspur einer Bewegung ihres Körperraumes durch eine perzeptibele Menschenmenge? Und wären diese seltsamen Menschen in ihren eigenen Augen überhaupt noch sichtbar? Würden sie sich selbst eventuell noch wahrnehmen durch die Konzentration auf eine Vorstellung: Hier, vor mir auf dem Tisch, das weiss ich, weil ich ihn dorthin abgelegt habe, ruht mein Arm, so würde er sich in meinen Augen darstellen, wenn er für mich sichtbar wäre. All diese Fragen. – Das Radio erzählt, in Mariupol sei ein Löwe ausgebrochen in Folge eines Beschusses des zooglischen Gartens. Das Tier oder sein Leichnam wurde bisher nicht entdeckt.- stop
schlafen in turku
delta : 12.03 — Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — - Stille herrscht. — - Nur das Donnern der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. – Guten Morgen! Heute ist Dienstag oder Mittwoch oder Samstag. Das Radio erzählt von Fallschirmen, die in der Stadt Mariupol von zersplitterten Bäumen hängen sollen. — stop
ein pfeifen
tango : 2.12 — Nabokov schrieb vor einiger Zeit, er habe mir eine ungewöhnliche Uhr geschickt, ich solle ihm notieren, sobald sie angekommen sei. Vergangenen Freitag erneute Frage: Lieber Louis, ist die Uhr, die ich vor zwei Monaten sendete, angekommen? Gestern war Nabokovs Uhr endlich im Briefkasten, zollamtlicher Vermerk: Zur Prüfung geöffnet. Ich will an dieser Stelle bemerken, von der Öffnung des Päckchens war nicht die mindeste Spur zu erkennen, kein Schnitt, kein Riss, keine Falte. Im Päckchen nun eine Schachtel von hellem Karton, in der Schachtel Seidenpapiere, von Nabokovs eigener Hand vermutlich zerknüllt. In weitere Seidenpapiere eingeschlagen, besagte Uhr, wunderbares Stück, ovales Gehäuse, blechern, vermutlich Trompete, welches schwer in der Hand liegt. Kurioserweise fehlt der Uhr das Zifferblatt, weiterhin keinerlei Zeiger, weder Dioden noch Leuchtzeichen. Ich versuchte das Gehäuse der Uhr zu öffnen, vergeblich. Erstaunlich ist nun, dass, wenn ich auf das Gehäuse der Uhr Druck ausübe, sich ein schmaler Schacht seitlich öffnet, dem, wie zum Beweis der Existenz der Zeit, ein Streifen feinsten Papiers entkommt, auf welchem ein Uhrzeitpunkt aufgetragen worden ist. Sechssiebzehnzwölf. Allerbesten Dank, Nabokov, allerbesten Dank! — stop — Das Radio erzählt heut folgendes mitten in der Nacht mit der Stimme einer jungen Frau: Die Bomben wenn sie fliegen haben ein Pfeifen. Und wenn sie den Boden treffen und explodieren dann bebt die Erde. Und Splitter fliegen wie ein Fächer durch die Gegend und später sammeln Menschen diese Splitter in Eimern, die sie nach hause tragen. — stop