tango : 8.58 UTC — Wenn ich Menschen, junge oder ältere Menschen frage, ob sie den Moment erinnern, da sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben selbst die Schuhe gebunden haben, sind sie erstaunt, nicht nur deshalb, weil ich mich nach einem weit zurückliegenden Ereignis erkundigte, sondern auch, weil sie nicht selten sofort in der Lage waren, eine Geschichte vom Schuhbinden zu erzählen. Menschen, welche sie lehrten, ihre Schuhe zu binden, auch die Farbe der Schuhe oder Orte, eine Treppe, die Küche oder ein Garten kehrten ins Bewusstsein zurück. Wer sich die Schuhe selbst zu binden vermag, kann das Haus verlassen, kann eine komplexe Figur mit Händen gestalten, überall auf der Welt scheint die Methode der Schleife zu existieren, ja, Schleifen sind komplexe Strukturen, die einerseits sich selbst erhalten mittels Umarmung, andererseits sich auf einen Zugwunsch hin sofort aus ihrer Bindung lösen. Ich selbst habe mich in Landau unter einem Apfelbaum auf einem Bänkchen von Holz sitzend in der Schuhbindung geübt, meine Damalsschuhe waren blau und rot, die Gänseblümchen weiss, der Löwenzahn gelb, die Luft roch nach Stall und meine Tante duftete nach Moos und 4711. Sie erzählte mir mit den Händen wie ich meine Schuhe zu binden vermag. Auch, dass zur Kriegszeit der Himmel im Westen leuchtete, rot am Abend und in der Nacht, das war die Stadt München in der Ferne, die brandet. — An diesem Morgen nun, es ist der 24. Februar 2022, beobachte ich eine Fotografie, die aufgenommen wurde, als ich noch schlief: Automobile, die die Stadt Kiew verlassen. Und in diesen Automobilen Menschen, deren Seelen brennen. — stop / Es war lange Zeit still in meinen Händen. Dieser Text wurde am 12. Mai für den 24. Februar notiert.
Schlagwort: frage
gespensterwesen
romeo : 22.07 UTC — Wieder die Frage weshalb ich die Bewegung meines Herzens in der Brust nicht zu spüren vermag? — Umgebende Wörter: Sinusknoten Lagerbewegung Thalamus. Herzflimmern. Rasender Stillstand. ~ Ein Gespensterwesen, Russland, meiner Kindheit ist zurückgekehrt. Gedanken, wie zur Beruhigung, an Lew Sinowjewitsch Kopelew, Jelena Georgijewna Bonner, Andrei Dmitrijewitsch Sacharow, Anna Stepanowa Politkowskaja, Dmitri Muratow, Ljudmila Ulitzkaja. — stop
irgendwo nahe mariupol
delta : 14.32 UTC — Auf Luftbildfotografien dieses Winters wird Olga nicht zu sehen sein, zu klein dieses menschliche Wesen. Oder doch vielleicht sichtbar im Sommer unter einer Lupe, wie die alte Frau in ihrem Garten Himbeeren pflückt. Es ist ein wilder Garten geworden, weil Olga den Gewächsen ihres Gartens nicht länger Herr wird, sie muss oft im Haus sein bei ihrem Mann, dessen Namen ich nicht kenne. Er ruht im Wohnzimmer auf einem Bett, weil er alt ist und kaum noch gehen kann. Als er noch nicht ganz so alt war wie in diesem Winter, 8 Jahre jünger, war das mit dem Gehen bereits schwer geworden, weil er von einem Splitter harten Holzes in die Hüfte getroffen worden war, als eine Granate in einem Februar im Garten des Nachbarn explodierte. Der Nachbar lag drei Tage reglos auf dem Rücken im Schnee, weil er nicht mehr lebte. Dann hörte der Krieg auf. Nein, der Krieg entfernte sich, war jedoch nah genug geblieben, dass man ihn hören konnte und immer noch hören kann. Olgas Mann liegt auf dem Bett und lauscht zum Fenster hin, was man dort hört vom Krieg, ob er näher kommt. Auch hört er Olga, es ist Abend, die in den Keller gestiegen ist. Sehr steile Treppe. Es ist hell da unten, weil eine Kamera der alten Frau in den Keller folgte. Ein Mann trägt diese Kamera auf seiner Schulter, ein weiterer Mann trägt grelles Licht, eine Frau stellt Fragen, Olga antwortet: Wenn der Krieg wieder zu uns kommt, dann wird unser Sohn das Bett und seinen Vater in den Keller tragen. Dort wird es stehen, genau dort wo die Zwiebeln liegen. Hier werden wir sicher sein. Der Atem der alten Olga dampft. Von der Decke hängen Fäden, auch schneeweisse Gebeine, Spinnen, die Olga noch immer fürchtet, so, stell ich mir vor, könnte das sein. Sie schaut jetzt direkt in die Kamera. Ich betrachte ihr altes, müdes Gesicht, das sich nicht zurückziehen kann, weil ich den Film angehalten habe auf dem Bildschirm meines Fernsehgerätes. — stop

letzter winter
echo : 8.02 UTC — Joseph prophezeit, dass ich sehr bald mein Leben verlieren werde. Du tust mir leid, sagt Joseph, Du hättest Dich nicht impfen sollen. Alle werden sterben. Alle, die sich geimpft haben, werden in diesem Winter tot geworden sein. Vielleicht hast Du noch eine Chance, wenn Du die Impfung verweigerst. Solltest Du die 3. Impfung nicht verweigern, wirst Du tot sein, da kann Dir niemand helfen, Ihr werdet sterben wie die Fliegen, sagt Joseph. Er spricht am Telefon, aber jetzt will er nicht weiter sprechen, ich habe einige Fragen, aber er will partout nicht weitersprechen. Joseph legt auf. Ich glaube, er will mit einem Toten nicht sprechen. Es ist etwas anderes, wenn man nicht genau weiss, wann ein Bekannter sterben wird, vielleicht in zehn Jahren. Aber wenn man weiss, dass ein Bekannter tot sein wird, ehe noch der nächste Frühling gekommen sein wird, da ist das doch so, als würde man gerade schon mit einer Person sprechen, die im Grunde schon tot ist. — stop
das bein
bamako : 6.32 UTC — Einmal, das war vor zehn Jahren gewesen, stürzte eine Fliege aus großer Höhe vor mir auf den Tisch. Die Vorstellung zunächst, das Tier könnte, noch im Flug befindlich, aus dem Leben geschieden sein, dann aber war Bewegung im liegenden Körper zu erkennen, zwei der vorderen Fliegenbeinchen bewegten sich bebend, bald zuckten zwei Flügel. Die Fliege schien benommen, jedoch nicht tot gewesen zu sein, weswegen sie bald darauf erwachte, eine äußerst schnelle Bewegung und schon hatte die Fliege auf ihren Beinen Platz genommen, das heißt genauer, auf fünf ihrer sechs Beine Platz genommen, das linke hintere Bein streckte die Fliege steif von sich. Keine Bewegung der Flucht in diesem Zeitraum meiner Beobachtung. Auch dann, als ich mich mit dem Kopf näherte, keine Anzeichen von Beunruhigung. Die Fliege schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, tastete mit einem ihrer Hinterbeinchen nach der gestreckten Extremität, die verletzt zu sein schien, gebrochen vielleicht oder gestaucht. Natürlich stellte sich sofort die Frage, ob es möglich ist, das Bein einer Fliege medizinisch erfolgreich zu versorgen, Bewegungsstillstand zu erreichen, sagen wir, um eine Operation zum Beispiel, die dringend geboten sein könnte, vorzubereiten. Ich machte ein paar Notizen von eigener Hand, ich notierte in etwa so: Forschen nach Mikroskop, Pinzetten, Skalpellen, anatomischen Aufzeichnungen, Schrauben, Narkotika und Verbandsmaterialien für Operation an geöffneter Calliphora vicina. — stop
beobachtung
sierra : 16.25 UTC — Samstag. Leichter Regen. Es ist kalt geworden. Noch immer, nach jahrelanger Beobachtung, habe ich keine Antwort auf die Frage, weshalb Kiemenmenschen, sobald sie schlafen oder sich küssen, Kopf nach unten in ihren Wasserwohnungen schweben. – stop
poetik der drohnen
marimba : 3.28 UTC – Wieder einmal die Frage drängend, ob vielleicht eine Poetik gutmütiger Drohnen denkbar ist? Das sind, stelle ich mir vor, freundliche Wesen, unbewaffnet, leise, flink, von der Größe der Taubenschwänzchen. Sie verfügen, wenn möglich, über Atomherzen, begleiten Menschen rund um die Uhr, immer nur eine Person, verzeichnen das Leben dieser Person, ihre Routen, Gewohnheiten, Abenteuer, filmen und schreiben in menschlicher Sprache. 5.12 UTC : Louis träumt. Going to sleep. — stop
kalkutta
echo : 0.25 UTC — Einmal wollte ich nach Kalkutta reisen. Ich dachte, das ist jetzt eine beschlossene Sache. Ich machte mich unverzüglich an die Vorbereitung meiner Reise: Koffer, Regenschirm, Ausweis, Apotheke, Impfungen, Notizbücher, Schreibmaschine, Fotoapparate, Flug hin und zurück, Hotelzimmer, Stadtplan, Literatur, Sonnenhut. Wenige Tage später erreichte mich ein erstes Paket des Dokumentarfilms Phantom Indien von Louis Malle. Ich las, der Film habe insgesamt eine Spielzeit von 6 Stunden und 3 Minuten. Solange Zeit, stellte ich mir vor, könnte eine Fahrt quer durch Kalkutta mit dem Taxi dauern. Es ist nun überhaupt die Frage, wie lange Zeit sollte ich mich mit der Vorbereitung meiner Reise nach Kalkutta beschäftigen? — Lange Zeit in der vergangenen Nacht das nordamerikanische Fernsehen beobachtet. Wie man sich in den Worten, wenn man sie spürt, finden kann, kann man sich im Rauschen rasender Worte verlieren. — stop
am telefon abends
delta : 0.25 UTC — Vor langer Zeit habe ich eine lustige Geschichte erlebt. In dieser Geschichte kommen ein Mädchen vor, die Mutter des Mädchens, die meine Schwester ist, ein Telefon, ein Fotoapparat, ausserdem ein Fahrrad, das pink ist und ich. Die Geschichte ereignete sich abends. Das Mädchen rief mich an. Sie sagte ihren Namen und dann erzählte sie einfach darauf los, zum Beispiel, dass sie ein Fahrrad besitze, das pinkfarben ist, und dass sie mit dem Fahrrad schon alleine herumfahren könne, ohne umzufallen, und zwar durch den Wald. Plötzlich spricht sie nicht mehr, es ist still, aber ich höre sie atmen. Ich denke noch: Vor wenigen Monaten konnte sie nicht so gut erzählen, wie rasend schnell das geht, dass sich die Wörter formieren. Das Mädchen erzählte jetzt in ganzen Sätzen, es scheint so zu sein, dass sie nun, da sie über ganze Sätze verfügen kann, endlich alle ihre Geschichten sofort erzählen möchte. Eine helle, fröhliche Stimme. Aber dann doch diese seltsame Stille am Telefon, nur ihr Atem. Ich frage: Bist Du noch dran? Hallo! Kannst Du mich hören? Aber das Mädchen antwortet nicht. Immer noch ihr Atmen. Nach einer Minute plötzlich wieder ihre Stimme. Ich erfahre, dass ihre Mutter sie gerade fotografiert, wie sie mit mir telefoniert. Ich sage: Das freut mich. Wunderbar, wir werden fotografiert, Du und ich, ich bin in dem Telefon. Wieder Stille. Ein Pause. Eine sehr kurze Pause. Sagt das Mädchen: Quatsch mit Sauce. — Gestern, es war Abend gleichwohl, rief mich ein Freund an. Er sagte: Du klingst sehr nah an meinem Ohr. Trägst Du eine Maske? Wir sollten einen Schritt zurücktreten! — stop
fred im zug
sierra : 22.32 UTC — Im Zug, es war Samstag, saßen nur wenige Menschen. Sie trugen alle eine Maske vor Mund und Nase. Ein seltsamer, berührender Anblick. Gerade deshalb, weil sie schliefen, wirkten sie verletzlich. Wie ich langsam an den Schlafenden vorüberging, die Versuchung je einer Fotografie. Plötzlich dachte ich an den Posaunisten Fred Wesley: Wie geht es Dir, Fred? Ich erinnerte mich so im Gehen an eine Nacht vor Jahren, da ich Fred Wesley mittels eines Filmdokuments so lange beobachtet hatte, bis ich der festen Überzeugung gewesen sein konnte, eine Posaune habe auf Fred Wesleys Schulter wie ein Tier Platz genommen, sie habe den korpulenten, alten Herrn sozusagen okkupiert: Funky! Funky! Mit Fred Wesley ist das hoffentlich noch immer so: Er bewegt sich geschmeidig und elegant, er scheint zu tanzen, selbst dann noch, wenn er reglos, wie scheinbar angehalten, für Sekunden vor einem Mikrofon verharrt. Ich hatte damals den Verdacht, der alte Posaunist verfüge über die Fähigkeit außergewöhnlich lange Zeit die Luft anzuhalten. Deshalb notierte ich unverzüglich folgende E‑Mail: Sehr geehrter Mr. Wesley, es ist Mitternacht in Europa. Ich heiße Louis, und ich wüsste gerne, wo Sie sich gerade befinden, weil ich ein Gespräch mit Ihnen zu führen wünsche über das Anhalten der Luft und diese Dinge, die einem Posaunisten, wie sie einer sind, vielleicht außerordentlich gut gelingen. Gestern auf dem Weg von einem Zimmer in ein anderes Zimmer, wäre ich um Haaresbreite umgefallen, weil mir schwindelig wurde, weil ich kurz zuvor eine Minute und eine halbe Minute nicht geatmet hatte. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas falsch gemacht haben könnte. Wie trainiere ich am besten und was sind sinnvolle Ziele, die ein Mensch in diesem Sport erreichen kann, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen? Soll ich mir eine Posaune kaufen? Wie auch immer, verehrter Mr. Wesley, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir recht bald antworten würden, damit ich sogleich mit meinen Übungen fortfahren kann. Ihr Louis — stop