nordpol : 22.58 UTC — Vor Jahren, zur Sommerzeit, an der Seite einer schwermütigen Frau durch tropfenden Wald nahe eines Krankenhauses spaziert. Es hatte geregnet, eine Sintflut, das Kleid der Frau, von dem sie erzählte, dass es sich um ein brennendes Kleid handele, klebte an ihrem Körper fest. Schmal war sie geworden, zerbrechlich, fast durchsichtig die Haut ihrer Hände, ihrer Wangen, ihres Halses. Ich erinnere mich, dass ich ihr Libellen zeigte, sie jagten dicht über den dampfenden Boden hin, Walderdbeeren, einen Frosch. Ich fragte nach ihren Gedanken, aber ich konnte sie nicht erreichen, auch mit meinen Blicken nicht, weil sie mich nicht ansehen wollte, sondern vor sich hin starrte, indem sie vorsichtig ihre Schritte setzte, als würde der Boden unter ihren Füßen nicht wirklich existieren. Ihr feines Gesicht, ich erinnere mich, ihre hellen Augen, hell von Schmerz und Furcht. Wie sie nach einer langen Zeit des Schweigens sagte, niemand könne verstehen, wie sie sich fühle, kein Mensch, das sei schrecklich, und das Atmen, die Angst, die Leere, der Eindruck zu fallen, und dass sie nicht wisse, wann das alles wiederkommen würde, wenn es doch einmal aufgehört haben sollte. In einer ihrer Hände barg sie eine Spieldose. Manchmal hielt sie die kleine Maschine vor ihr Gesicht und drehte an einer Kurbel. Sie neigte dann den Kopf zur Seite, und für einen Moment schien der Schmerz nachzulassen, eine Ahnung im Sommerregen, eine Erfahrung größter Ferne und Hilflosigkeit inmitten zirpenden, pfeifenden, rauschenden Lebens. — Ich habe von dieser Begegnung im Wald bereits einmal erzählt. Weil ich heute über wasserfeste Walzenspieldosen notierte, erinnerte ich mich. — stop
Schlagwort: hals
im park
lima : 23.01 UTC — Ich war heut im Park wo noch vor Monaten Kirschbäume blühend paarweise über eine Wiese spazierten. Von den Hunden, sobald es dunkel wird, siehst Du dort nichts als das Licht, das um ihren Hals gelegt, oder ihre glühenden Augen im Schein der Fahrradlaternen. Heut waren auch zwei fliegende Hunde unterwegs oder beleuchtete Vögel, weil da auch Licht herumflog, vielleicht Drohnen, zwei kleine, das war seltsam, auch dass sie mich vielleicht beobachteten wie ich nach ihnen sah. Ich dachte an Fahrräder, die unsichtbar in Baumkronen hängen. Und ich dachte, dass seltsam ist, dass ich manchmal bemerke in Gedanken, woran ich gerade noch dachte. Vermutlich war ich ganz grün gewesen vom Nachtsichtlicht, wer weiß. — stop
maskentier No 1
tango : 0.06 UTC — In einer gezeichneten Vorstellung der Maskentiere sind Augen zu bemerken. Das ist sehr seltsam, weil Augen nicht eigentlich sinnvoll oder unverzichtbar sind für den Zweck, dem Maskentiere bald einmal dienen werden. Es ist nämlich so, dass Maskentiere in der Lage sein sollten, sich auf menschliche Münder und Nasen niederzulegen, um dieselben zu beatmen, demzufolge Luft aus der Atmosphäre zu entnehmen, um diese eventuell kontaminierte Luft für Menschen oder andere Tiere sorgfältigst zu filtern, indem sie in Stunden, da sie ihrer Bestimmung folgen, auf vielfältig gestalteten Wangen, Nasenrücken, Halspartien so dicht zu liegen kommen, dass kein Gramm einer Virenlast je an ihren Rändern oder Enden entweichen könnte. Es ist stattdessen ganz wunderbar saubere Luft, die sie spenden, und es ist ganz wunderbar saubere Luft, die sie im Gegenzug wieder an die Welt zurückgeben werden. Natürlich ist denkbar, dass kein Wort, kein Schrei durch ihre Lederhaut hindurch nach draußen dringen wird, es wird also stiller unter den Menschen, die schweigen und sich sicher fühlen, sobald sie mit ihren wärmenden Masken über Straßen und durch Warenhäuser spazieren. Dann ist Abend geworden, und man legt das getragene Tier zurück in einen Behälter, der mit Wasser gefüllt ist. Dort schwimmen sie dann aufgeregt unter weiteren Maskentieren herum und erzählen sich Geschichten, was sie hörten und was sie gesehen haben während des Tages, indessen sie sich säubern und paaren, um weitere Maskentiere zu erzeugen. — Auch Ohren, jawohl! — stop
von vögeln
sierra : 22.08 UTC — Wong Kar-Wais Vögel ohne Füße, die niemals landen. Immer wieder eine wunderbare Vorstellung. Ein Bild auch in diesen Monaten, das mich berührt, da ich selbst nicht landen kann in Tagen von Sicherheit. Oder die Vorstellung der Zeppeline, die Jahrhunderte lang wie Wolken langsam um den Erdball schweben. Einmal vor Jahren zeichnete ich ein Rotkehlchen mit einem Bleistift auf ein Blatt Papier. Ich will erwähnen, dass die Zeichnung des kleinen Vogels, der von rechts her kommend über das Blatt nach links hin segelte, damals missglückte, es war das erste Rotkehlchen gewesen, das ich in meinem Leben zeichnete. Immerhin waren zwei Flügel zu erkennen gewesen und ein Körperchen in der Mitte, ein Schnabel und ein kleiner Kopf. Auch ein roter Fleck auf dem Körperchen in der Gegend des Halses war zu entdecken, weil ich nach einem roten Buntstift suchte, das dauerte recht lange, während der kleine Vogel geduldig wartete, dass ich mit wesentlicher Farbe zu ihm zurückkehren würde. — Weswegen ich ein Rotkehlchen gezeichnet habe? — Nun, ich habe diese Zeichnung angefertigt, weil ich mich fragte, ob irgendwann einmal fliegende Servermaschinen in der Gestalt der Singvögel denkbar sein werden, die in Schwärmen herumfliegen, indessen sie mittels unsichtbarer Wellen miteinander kommunizieren? Wie lange Zeit würden wir diese flüchtigen Schwarmobjekte noch als unsere Geschöpfe verstehen? Wären wir in der Lage, sie jemals wieder einzufangen? — stop
zwei schreckliche figuren
ginkgo : 7.03 UTC — Der Mann versteht nicht, warum ich ihm einen ängstlichen Blick schenke. Er steht am Rande der Leipzigerstraße und ruft: Himbeeren 1 Euro, Himbeeren 1 Euro. Er brüllt diese Formel Stunde um Stunde mit seinem Atemwind unter die passierende Leute, Passanten, und wenn man nun denkt, er könnte ein infizierter Sänger sein, dann wird man bemerken, dass es gefährlich sein könnte hier ohne Maske, ohne Brille über die Straßen zu spazieren. Und im Café diese nette lauthals telefonierende Person: Mein Gott, sagt sie zur Liesel, wenn das nur ein Weihnachten nicht wird mit einem Lockdown schon wieder! Wenn sie einmal still ist, dann fächert sie sich Luft zu, macht Winde, die alles das Unsichtbare sehr schön durch die Räume tragen, Luftbusse fahren herum, Zeppelinwolken. Es ist schon seltsam was man alles so sieht und hört neuerdings. — stop
mutter giraffe
ulysses : 6.28 UTC — Ich träumte, meine Mutter würde von einer Straßenbahn überrollt worden sein. Sie hatte den schweren Unfall im Traum überlebt, aber ihr Hals war nun lang wie der Hals einer Giraffe. Weil ihr dort, wo Giraffen am Hals über erhebliche Muskelpakete verfügen, jede Stützung fehlt, wurde ein Gerüst von feinem Kirschbaumholz gezimmert, eine Röhre, durch die zur Säuberung Wasser eingeleitet werden könnte. Getragen wird die Konstruktion von einem fahrbaren elektrischen Stuhl, den meine Mutter nun bewohnt, in welchem sie sitzen, aber auch zum Spazieren fahren kann. In einem weiteren Traumsegment hatte sich der Kopf meiner Mutter tatsächlich in den Kopf einer Giraffe verwandelt. Sie lebte an einem Ort weiterer Giraffenmenschen. Ich sah diese wunderbaren Wesen majestätisch durch die Parks der Umgebung streifen. Da und dort führten Leitern in die Kronen der Kastanienbäume. — stop
von häubchen
romeo : 0.24 UTC — Das Gedächtnis meiner Haut oder doch etwa ihre Fähigkeit zu vergessen. Nach Stunden, da ich eine enganliegende Maske trage, die 95 Prozent feinster Partikel aus meiner Atemluft filtern soll, meiner Atemluft hin und meiner Atemluft her, vergesse ich, dass Nase und Mund bedeckt worden sind. Ein Stück Schokolade, das ich zum Mund führe, stößt auf Widerstand, Wasser rinnt mir den Hals entlang. Und wie ich auf die Straße trete, das Häubchen von Mund und Nase nehme, so wie ich es lernte anzufassen an seinen Schlaufen für zwei Ohren, fühlt sich das an, als würde etwas fehlen. Der Wind plötzlich, es ist kühl, frisch, dort auf der Haut. Nachts baumeln meine Tageshäubchen vor den Fenstern im Wind. Zwanzig Tage lang schaukeln sie dort von der Sonne bestrahlt, drehen sich, werden nachts von Nachtfaltern besucht. — stop
taschkent
nordpol : 9.18 UTC — Eine Dame sitzt mit hellrot geschminktem Mund an einem Holztisch in einer Wohnung der Stadt Taschkent. Es ist später Nachmittag. Auf dem Tisch ruht eine Schreibmaschine, ein Notebook, das hat ihr die Tochter geschenkt, die in Amerika wohnt, in Brooklyn genauer, im vierten Stock eines Hauses mit Blick auf den East River. Dort ist jetzt früher Morgen. Die Tochter, die wie ihre Mutter in der Ferne vor einem Notebook, einer Schreibmaschine, sitzt, freut sich, weil sie auf einem Bildschirm das Gesicht ihrer Mutter sehen kann. Endlich hat es funktioniert, das Programm, der ganz Computer überhaupt, ihre Mutter kann ihn jetzt einschalten, und das Programm starten, das eine Verbindung knüpft nach New York, sodass sie ihrerseits auf dem Bildschirm der Mutter sichtbar werden kann. Die Tochter lächelt, gerade hat ihr die Mutter erzählt, sie habe einen leicht amerikanischen Akzent entwickelt nach Jahren ihres Lebens in New York. Aber sie spricht nicht viel in diesen ersten Momenten einer Begegnung auf dem Bildschirm. Sie will ihre alte Mutter nicht überfordern, sie sagt: Jetzt können wir telefonieren sooft wir wollen, es kostest fast nichts. Die Mutter schaut glücklich zu dem Bildschirm hin. Sie könnte das Gesicht ihrer Tochter berühren, aber sie will nichts tun, das seltsam erscheinen könnte, weil sie nicht allein ist. Unsichtbar für die Tochter in Brooklyn zunächst, sitzt in einem sinnvollen Abstand eine junge Frau, eine Studentin, auf einem Stuhl, der knistert, sobald sie sich bewegt. Es ist nämlich so, dass die Studentin der alten Dame half, ihre Schreibmaschine in ein Telefon mit Bildschirm zu verwandeln, eigentlich zunächst nicht sehr schwierig für eine Studentin der russischen Literatur, ihrer Professorin beizustehen. Das Notebook musste jedoch derart verwandelt werden, dass es sich ohne ihre Hilfe jederzeit erneut in einen Telefon mit Bildschirm zurückverwandeln könnte, deshalb alles ganz langsam, vor und zurück, vor und zurück, Schritt für Schritt, was ein Fingercurser ist, was eine Maus. Die junge Frau kommt nun ins Bild, sie trägt einen Mundschutz, auch die alte Dame ziehen ihren Mundschutz vom Hals herauf. Beide lächeln, das kann die Tochter sehen. Und sie ist sehr beruhigt, dass ihre Mutter auf sich achtet in der Ferne, glücklich ist sie. Und so springt sie auf und eilt zum Fenster. Eine Minute Zeit vergeht. Die Möwe späht ins Zimmer. Da kommt die Tochter zurück zum Tisch, sie trägt jetzt gleichwohl einen Mundschutz in roter Farbe mit weißen Punkten darauf. — stop
im quarantänegarten
echo : 20.25 UTC — Der Wind fuhr heut mit Regenkamm übers Dach. Ich dachte an das Haus im Süden wo Mutter und Vater nicht mehr sind. Wie seltsam doch die Betrachtung der Kleider verschwundener Menschen. Schuhe. Schals. Hemden. Schmuck. Und der Garten, wie er wild wird, sobald man nicht immerzu an ihn denkt. Ein Teich, der weniger zu werden droht vom Schilf, von den Schneckenpanzern, vom Laub, von den Häuten der Libellenlarven. Wie viel die alten Menschen noch gearbeitet haben in ihrem hohen Alter wird hier unter den Bäumen sichtbar. Die Schuhe, ich fotografierte Schuhe. In einer Handtasche entdeckte ich Reiseproviant, Mutters Müsliriegel, Traubenzucker, Tempotaschentücher, Prospekte, einen Regenschirm, ein Halstuch, einen Lippenstift. Der Schmerz, der mir wie ein Blitz durch den Körper fährt, sobald ich daran denke, dass ich die alte Dame in ihrem Bett liegend nicht besuchen könnte in diesen Tagen, die Wochen sind, Monate, halbe oder ganze Jahre, als wär sie noch da. — stop
lumen
echo : 20.02 UTC — Ob es wohl möglich sein wird, eine gläserne Struktur von 180 Metern Länge mit dem Lumen einer menschlichen Halsarterie zu fertigen? Ist denkbar ein Halmwesen dieser Art weithin zu transportieren, ohne es zu zerbrechen? — stop