alpha : 22.18 UTC — Man kann Geschichten erzählen über das was man fotografiert, das ahne ich schon lange. Vater beispielsweise erzählte wie er mit Mutter an einem heißen Nachmittag Coney Island besuchte, wie sie im warmen Sand sitzen, wie er seiner geliebten Frau berichtet, dass er schon einmal an diesem Ort gewesen sei, da kannten sie sich bereits. Viele Jahre später werde ich meinem Vater erzählen, dass ich eine Fotografie besuchte, die er gefertigt hatte, als ich noch nicht ganz fünf Jahre alt gewesen war. Ich sagte: Es ist, lieber Vater, tatsächlich wie Du berichtest. Man fährt eine halbe Stunde mit der Subway vom Washington Square aus in südwestliche Richtung, dann ist man am atlantischen Meer und der Himmel hell über dem Wasser. Heftige Sandwellenwinde fauchen mir über die Stirn, wie ich auf diesem Boden gehe, der fest ist. Zerbrochene Muscheln, Scherben von buntem Glas, Sommerbestecke, Schuhe, Wodkaflaschen, Lippenstifte, Holz, Knochen. Da und dort haben sich scharfe Kanten gebildet unter der strengen Hand der Winterstürme, dunkle, feste Strukturen, in welchen sich Spuren menschlicher Füße finden als wären sie versteinert. Bald Brighton Beach. An den Wänden der Häuser entlang der Seepromenade sitzen alte russische Frauen wohl verpackt, aufgehoben in diesem Bild frostiger Temperatur. Aber der Schnee fehlt. Und Mr. Isaac Bashevis Singer, der hier spazierte lang vor meiner Zeit. — stop
Schlagwort: lippen
lampen
delta : 22.16 UTC — Im Spazieren den Blick gegen den Boden richten, suchende Lampe. Kinderzeichnungen von Kreide, Sonnensterne, Flugdrachen, Bäume, Linien mit freier Hand da und dorthin gezogen, über Linien vorangegangener Tage geschichtet, Kreideschatten nach Regen, Kreideflüsse. Vor den Läden Punkte und Streifen, dort sollte man stehen, wenn man ein Mensch ist. Aber doch ist es so geworden, dass Personenabstände im Gehen geringer werden, man muss, wenn man geht, auf die Straße treten, ausweichen, sobald sich Sorglose nähern, muss man Räume berechnen, das Gehen gedankenlos nur am Abend durch den Park, oder Nachts in den Stunden, da man Igeln begegnet und Mäusen mit rot glühenden Augen im Licht einer Taschenlampe. Einmal träumte ich von Virentieren, die leuchten. Wie es mir in diesem Traum selbst goldfarben von den Lippen staubte, wachte ich auf. — stop
im quarantänegarten
echo : 20.25 UTC — Der Wind fuhr heut mit Regenkamm übers Dach. Ich dachte an das Haus im Süden wo Mutter und Vater nicht mehr sind. Wie seltsam doch die Betrachtung der Kleider verschwundener Menschen. Schuhe. Schals. Hemden. Schmuck. Und der Garten, wie er wild wird, sobald man nicht immerzu an ihn denkt. Ein Teich, der weniger zu werden droht vom Schilf, von den Schneckenpanzern, vom Laub, von den Häuten der Libellenlarven. Wie viel die alten Menschen noch gearbeitet haben in ihrem hohen Alter wird hier unter den Bäumen sichtbar. Die Schuhe, ich fotografierte Schuhe. In einer Handtasche entdeckte ich Reiseproviant, Mutters Müsliriegel, Traubenzucker, Tempotaschentücher, Prospekte, einen Regenschirm, ein Halstuch, einen Lippenstift. Der Schmerz, der mir wie ein Blitz durch den Körper fährt, sobald ich daran denke, dass ich die alte Dame in ihrem Bett liegend nicht besuchen könnte in diesen Tagen, die Wochen sind, Monate, halbe oder ganze Jahre, als wär sie noch da. — stop
eine stunde
lima : 10.28 UTC — In der Stunde da mein Vater starb, saß ich an seinem Bett und reichte ihm mittels eines Schwämmchens etwas zu trinken. Sein Blick war schon unendlich müde geworden. Wenn ich sagte: Vater, noch etwas Aprikosentee, öffnete mein Vater seinen Mund, er hatte kaum noch Kraft, er spitzte die Lippen und dann saugte er an dem Schwämmchen, und ich dachte immer wieder: Wie ein Vögelchen, obwohl ich genau wusste, dass mein Vater gerade oder bald sterben würde. Vor dem Fenster weit unten lag der Starnberger See. Es war ein sonniger Tag. Ich glaube, mein Vater konnte soweit hinaus nicht mehr sehen, vielleicht aber das schrille Pfeifen der Schwalben hören und eben meine Stimme: Vater. — stop
malimali
marimba : 22.32 UTC — Oder so: Zunächst Flüsterwörter, dann Lippenwörter. Ob Augenwörter existieren? Das sind vielleicht Wörter, die sich in Gedanken formulieren, wenn man in die Augen eines Menschen schaut, der nicht mehr spricht, weil er nicht mehr sprechen kann. In diesem Sinne sind Augenwörter denkbar. Wie Übersetzungen. Oder Radare, ping. — Ich hörte einen schönen Namen an diesem Tag irgendo unterwegs: Malimali. Jetzt ist Abend. Schau aus dem Fenster und denk noch, da fliegen Vögel herum und Bienen, obwohl schon Dunkel geworden ist. Dass sie also doch existieren, die Nachtbienen. — stop
dreiundzwanzigste etage winter
ginkgo : 8.28 — Ich träumte, nachts auf dem Balkon eines Hotels über der Eighth Avenue zu spazieren. Es war Winter, weit unter 0°C in New York. Heftiger Wind wehte harte Schneekristalle über den Boden des Balkons. Ich war leicht bekleidet, war ohne Schuhe, war aus einem Fenster gestiegen, wollte kurz Aussicht nehmen auf den Hudson River. Da fiel das Fenster hinter mir geräuschvoll ins Schloß. Ich gab keinen Laut von mir, wusste, dass mich niemand hören würde, ich befand mich auf dem 23. Stockwerk, die Zimmer neben meinem Zimmer standen leer. Aber da war noch ein Stuhl aus Plastik. Ich dachte, dass ich 1 Versuch haben würde, oder mit etwas Glück 2 Versuche, das Fenster zum gewärmten Zimmer mittels dieses leichten Stuhlwerks einzuschlagen. Gerade als ich den Stuhl anhob, um ihn gegen das Fenster zu schleudern, bemerkte ich eine Drohne, die sich langsam näherte. Sie blinkte. So dicht kam sie heran, dass ich meinte, sie mit meinen Händen berühren zu können. Ich erinnere mich, dass ich mehrfach das Wort H E L P mit Lippen und Augen formulierte, ausserdem faltete ich meine Hände. — stop
15 uhr 6
marimba : 15.06 UTC — Seit einer halben Stunde das Wort Feuernelke in meinem Gehör, warum? — stop
indien
echo : 20.12 UTC — Eine Berliner Freundin erzählte unlängst, sie habe während ihrer letzten Indienreise beobachtet, wie Menschen Kühe in einer Weise bemalten, dass sie vollkommen bunt gewesen seien, selbst ihre Wimpern, die Spitzen ihrer Schwänze, Hufe und Lippen leuchteten in grellem Blau oder Rot oder Gelb. Ich fragte mich, inwiefern sich jene farbigen Kühe noch als Kühe erkannt haben mochten, ob sie sich nicht vielleicht fürchteten vor jenen bunten Wesen, die einerseits vor ihren Augen so fremd sein mochten, aber doch einen sehr vertrauten Geruch verströmten? — Neun Impfungen, so wird berichtet, sind für Indienreisende zu überlegen zum Schutz vor Diphtherie, Hepatitis A, saisonaler Grippe, Typhus, Cholera, Meningitis, Japanischer Enzephalitis, Hepatitis B bei längeren Aufenthalten oder engem Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung, sowie Tollwut. Was ist unter einem engen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung zu verstehen? Wie sollte oder könnte ich in Kalkutta spazierend je einen engen Kontakt zur Bevölkerung vermeiden? — Gestern, während ich halbschlafend telefonierte, habe ich versehentlich meinen Fußboden fotografiert, auch eine Fotografie wiederum Colettes wie sie im Bett oder auf ihrem Sofa sitzt und schreibt. — stop
1 Uhr 50
delta : 1.55 — Seit einer halben Stunde das Wort Lippenknospe in meinem Gehör, warum? — stop
von kreide und schnee
nordpol : 22.01 — Farben antarktischen Eises auf einem Gesicht, noch Kreidefarben, noch Pigmente ohne Öle, Wangen, Nase, Lippen, Stirn, von flinken, träumenden Fingern im Prozess der Arbeit scheinbar ohne Bewusstsein im Versehen auf die eigene Haut gezeichnet, Anmutungen von Blau, von Grau, von Weiß, von Schwarz. Es scheint bedeutend, wenn nicht unverzichtbar zu sein, Farben von Schwarz, von Umbra, Kernschattenfarben, in die Hand zu nehmen, die Farben der Wüstengesteine, um das Eis der Antarktis, das Eis eines grönländischen Gletschers vorauszeichnen zu können. Ein leises Gespräch, wispernd, in dem Sandgesteine sich auf die Leinwand legen, zärtlich fauchend, das Licht in den meerwärts fließenden Schatten, in den Winkeln eines Mundes. Wie Melly Cusaro, die an einem winterlichen Tag beschloss, den Mars zu bereisen, fortan das Wesen des Eises und des Schnees zu begreifen sucht. Wer nach Wasser forschen wird in der Weltraumferne, sagt sie, muss sich von der Wüste und vom Schnee eine präzise Vorstellung gezeichnet haben. Es schneite in Brooklyn, Schnee lehnte an Wänden alter Häuser, türmte sich auf Balkonen, rieselte im zarten Atem eines fast windstillen Tages von den Ulmen. Wer mochte, konnte mit Schlittschuhen über die Promenade auf den Höhen fahren. Welches Geräusch würde in der Stille ein Kontrabass von Eis erzeugen? — stop