kilimandscharo : 22.58 UTC — Und wieder die Frage, wie ist das mit der Wirklichkeit oder der Wahrheit in meinem schreibenden Leben? Jahrelang wohnte beispielsweise eine Schnecke in meiner Wohnung, außerdem ein Lichtenbergfalter, Springspinnen, Libellen, ein Puma und Teefliegen, immer wieder Teefliegen. Ich habe sie mit eigenen Augen alle gesehen oder mit meinen erfindenden Augen, die in meinem Kopf verweilen. Ich könnte deshalb sagen, nicht jeder meiner Trompetenkäfer wäre vorzeigbar, aber doch vorstellbar. Einmal ich eine weitere deutliche Spur gelegt hin zur Arbeitsbeschreibung, Radar war zu lesen unter jedem meiner Particles — Texte, ein Hyperlink, der auf einen Text verwies, welcher meine Arbeit beschreibt. Dieser Text existiert seit 15 Jahren, ich hatte jene Textpassage, die Wirklichkeit und Erfindung bedeutet, zunächst unterstrichen, dann, wenige Minuten später in kursive Zeichen gesetzt. Das musste genügen, und genügt immer noch. — Das Radio erzählt von einem schwerkranken Kind, das in einem Keller der Stadt Mariupol nahe des Meeresboulevards solange leise gesungen haben soll, bis seine Stimme für immer verstummte. — stop
Schlagwort: elle
von den vasentieren
india : 3.15 UTC — Tagelang hatte ich überlegt, ob es sinnvoll wäre, über die Existenz der Vasentiere weiter nachzudenken. In diesem Diskurs mit mir selbst, hatten meine Vorstellungen über das Wesen und die Gestalt der Vasentiere, indessen weiter an Präzision zugenommen, ohne dass ich das zunächst bemerkte. Einmal wartete ich an einer Ampel unter einer Kastanie. Es war früher Abend gewesen und ich nutzte diese Situation des Innehaltens, um mir vorzustellen wie es sein könnte, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigentlich nicht notwendig gewesen war, Vasentiere dürfen atmen, Vasentiere müssen atmen, und versuchte mich so wenig wie möglich zu bewegen, eine innere feste Struktur auszubilden, sagen wir, eben eine Art Behälter zu sein. Das ist gut gelungen, auch nachdem ich von einer Kastanie auf den Kopf getroffen worden war, bewegte ich mich nicht. In diesem Moment wurde stattdessen deutlich, dass Vasentiere niemals flüchten, weil sie nicht flüchten wollen und weil sie nicht flüchten können, ihnen fehlen Füße und Beine. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer organischen Konstruktion her begabt, Formen nachzuahmen, die geeignet sind, tiefere Gewässer in sich auszubilden, das ist nicht verhandelbar. Auch nicht, dass sie das Wasser zur Versorgung der Pflanzen, welchen sie Herberge bieten, aus der Luft entnehmen, sei sie noch so trocken. Möglich ist, dass Vasentiere, die in der Lage sind, mittels ihrer Gedanken Bewegung zu formulieren, eher unglückliche Wesen sein werden, daran sollte man unbedingt denken, ehe man sich an die Verwirklichung der Vasentiere machen wird. — Das Radio erzählt, hungrige Menschen hätten im März wilden Tauben nachgestellt, und auch im April noch sei man unter Lebensgefahr auf Taubenjagd gegangen. — stop
notizen aus sarajevo : koffertext
ulysses : 18.55 UTC — Das Bändchen Notizen aus Sarajevo von Juan Goytisolo, das im Jahr 1993 in der Edition Suhrkamp erschien, muss einmal feucht oder nass geworden sein. Es wellt sich noch immer, obwohl es Jahre gepresst unter weiteren Büchern im Regal darauf wartete, wieder gelesen zu werden. Ich erinnere nicht, wo ich das Buch gelesen hatte, vielleicht in einem Park, vermutlich war Regen gefallen. Seit Tagen liegt es auf meinem Küchentisch, ich habe es bisher nur einmal kurz geöffnet, bemerkte folgenden mit Bleistift markierten Absatz: “Gleich nach seiner Ankunft in Sarajevo muss der Fremde in die Gesetze und Regeln eines Verhaltenskodex eingeweiht werden, der Grundvoraussetzung für sein Überleben ist. Er, der an ein freies Leben ohne Hemmnisse gewöhnt ist, muss in seinem neuen Lebensraum, der Mausefalle, die er mit 380000 anderen Menschen teilt, schnell lernen. Er muss die hochgefährlichen Gebiete und diejenigen kennen, in denen er sich ohne allzu große Gefahr bewegen kann, er muss wissen in welchen Stadtteilen Mörsergranaten niedergehen, welches die beliebtesten Straßenecken und Kreuzungen der Heckenschützen sind, wo er gebückt gehen und wo er schnell losrennen muss. Jede Unachtsamkeit oder ein Fehler bei der Auswahl des Weges können tödlich für ihn sein. Jedes Hinausgehen — und jeder muss einmal rausgehen, um Wasser, Holz oder Nahrungsmittel zu holen — ist, wie die Menschen in Sarajevo sagen, russisches Roulette.“ — stop / S.32/33
zwergdrache
sierra : 2.28 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Sommer 1958. Auf einem Fährschiff, dessen Name ich nicht ermitteln konnte, steht am Heck ein Junge im Alter von ungefähr 12 Jahren. Es ist früher Nachmittag, die Schule vermutlich gerade vorüber, der Junge fährt mit dem Schiff von Manhattan nach Hause. Er trägt Halbschuhe, ein helles Hemd, eine Krawatte und ein dunkles Jackett, seine Schultasche lehnt an einem Pfeiler, der für schwere Schiffstaue vorgesehen ist. Im Hintergrund, am Horizont, sind Kräne zu erkennen, die wie eiserne Vögel auf stelzenartigen Füssen stehend, zu warten scheinen. Einige Meter über dem Jungen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Junge selbst, reglos in einer Schwarzweißfotografie gefangen. Zwei ältere Personen, eine Frau in einem hellen Kleid, und ein Mann, der einen dunklen Anzug trägt, lungern auf einer Bank. Sie küssen sich gerade auf den Mund, sind vielleicht eigentliche Ursache der Fotografie, der Junge, der gefährlich nah an der Kante zum Wasser steht, ist also möglicherweise versehentlich mit auf das Bild geraten. Eine Hand des Jungen ist nach vorne hin ausgestreckt, es ist seine linke Hand, während seine rechte Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sichtbar ist, um diese linke ausgestreckte Hand wickelt, als wäre sie eine Spule. Der Junge scheint im Moment der Aufnahme mit seiner Arbeit des Wickelns beinahe fertig geworden zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sichtbar, ein kleiner Drache von Papier ist dort befestigt, ein Drache nicht länger als zehn Zentimeter und nicht breiter als sechs Zentimeter, ein Zwergdrache, in der einfach gekreuzten Form der Kinderdrachen, dessen Körper mit Seidenpapier bespannt gewesen sein könnte, unbekannte Farbe, vielleicht blau, vielleicht gelb. Eine erstaunliche Entdeckung. Zweiter Blick. – Das Radio erzählt, man habe in der Stadt Mariupol einen städtischen Bus in Bewegung gesetzt. — stop
silent sentry
alpha : 2.21 UTC — Wird es vielleicht bald einmal möglich sein, menschliche Körper, präzise formuliert, die Oberfläche menschlicher Körper, derart zu gestalten, dass sie in unbekleidetem Zustand von aktiven Radartechnologien nicht zu erfassen sind, Menschengestalten demzufolge, die in der Begegnung weder Licht, noch Geräusche emittieren? Welcher Art wäre die Lichtspur einer Bewegung ihres Körperraumes durch eine perzeptibele Menschenmenge? Und wären diese seltsamen Menschen in ihren eigenen Augen überhaupt noch sichtbar? Würden sie sich selbst eventuell noch wahrnehmen durch die Konzentration auf eine Vorstellung: Hier, vor mir auf dem Tisch, das weiss ich, weil ich ihn dorthin abgelegt habe, ruht mein Arm, so würde er sich in meinen Augen darstellen, wenn er für mich sichtbar wäre. All diese Fragen. – Das Radio erzählt, in Mariupol sei ein Löwe ausgebrochen in Folge eines Beschusses des zooglischen Gartens. Das Tier oder sein Leichnam wurde bisher nicht entdeckt.- stop
dorsey
echo : 18.22 UTC — Ein düsteres Haus, eine düstere Treppe. Ich klingelte vor Jahren einmal an einer Tür. Ein Mann, der nicht ganz jung gewesen war, öffnete. Kräftiger, bitterer Geruch strömte aus der Wohnung. Die Luft war warm, war feucht und dicht, meine Bewegungen, wie ich durch den Flur der Wohnung ging, mühevoll, als würde ich unter Wasser laufen. Ich trat in ein Zimmer, ein Tisch, ein Sofa, zwei Stühle, keine Vorhänge vor den Fenstern, hinter den Scheiben Kastanienbäume, die blühten. An den Wänden des Zimmers klebte eine Tapete mit Kirschmotiven. Sie war an der ein oder anderen Stelle von der Wand gefallen. Auf hölzernen Stangen, dicht unter der Decke, hockten hunderte Vögel ohne Federn. Ihre Haut war von hellem Braun, ihre Schnäbel zitronengelb. Der Mann, der mich in das Zimmer geführt hatte, nahm einen der Vögel in seine Hände. Der Vogel lag auf dem Rücken ganz still. Er hatte seine Augen geschlossen, feine hellblaue Häutchen wie Schirme. Ich sollte an dem Vogel riechen, und so nahm ich ihn in die Hand. Der Leib des Vogels war warm. Er zitterte als ich mich mit meiner Nase näherte, als würde er frieren. Der Mann, der mich an das Zimmer der Vögel geführt hatte, sagte, dass sie noch nicht ganz reif seien. Der Vogel duftete nach gebrannten Mandeln. In einer Ecke des Zimmers auf dem Boden ein Schallplattenspieler, ein uraltes Gerät, das Tommy Dorsey spielte: I’m Getting Sentimental Over You. — Das Radio erzählt, Ende März sei in Mariupol ein Historiker, der zu seiner geliebten Stadt ein Leben lang notiert hatte, in hohem Alter gestorben. Kurz zuvor endete das Leben seiner Frau. Die Todesursache beider Menschen, so das Radio, sei noch unklar. — stop
linie 16
india : 4.32 UTC — Mit der ersten Fahrt der Straßenbahn morgens kommt der Tag in die Nacht, Vögel steigen aus, hocken sich in Bäume und singen, während Fliegen und Falter aus meiner Wohnung flüchten, um einzusteigen und schnell auf und davon zu fahren. Ich sollte einmal morgens auf die Straße treten und zur Haltestelle gehen. Wenn nun die erste Fahrt der Linie 16 eintreffen wird, der Fahrer von Nachtfaltern bedeckt, Sitze und Lampen und auch die Arbeiter und Arbeiterinnen der Frühschicht. Dichte, bittere, staubige Luft, ein sonores Summen tausender Flügel. Kleine, harte Käferkörper, Verirrte, stürmen durch den weichen, fliegenden Falterwald. Abends kommt man dann wieder zurück, steigt aus mit der letzter Fahrt, hellgraue Geister. Bald Herbst. Das Radio erzählt von Ludmilla N., die am 12. März in Mariupol vor ihrem Haus am Meeresboulevard durch ein Schrapnell getötet worden sein. Ihr Herz wurde unmittelbar getroffen. — stop
voliere
echo : 18.58 UTC — Im Traum steh ich im Park vor einer Voliere, die an einem Bindfaden hängt. Dieser Bindfaden muss irgendwo in großer Höhe am Himmel befestigt sein. In der Voliere schweben Vögel. Sie sind nicht sehr viel größer als ein Daumen, ihr Gefieder von prächtigen Farben, die sich langsam fließend verändern. Ich sitze auf einem Stuhl, habe Brotzeit mitgebracht, Kürbiskernbrötchen, Schinken, 1 Schnittlauchsträußchen, Champignonpastete, Himbeerbrause, eine Kanne Kaffee. Ich beobachte das Vogelhaus, das über keinerlei Tür verfügt. Tagelang, es wurde immer wieder dunkel, saß ich auf meinem Stuhl. Wenn es dunkel geworden war, leuchtete ich mit einer Taschenlampe zu den Vögeln hin. Sie mochten das Licht, ihre Augen glühten wie Dioden in blau, orange, grün und rot. Auch waren sie stumm. Sie schienen aufmerksam zu sein. Vielleicht wunderten sie sich über diesen Mann, der geduldig wartete, ob sie bald einmal landen würden. Das Radio erzählt, in Mariupol würden Telefonsimkarten wie Brot verteilt. Menschen standen, so wird berichtet, mit versteinerten Gesichtern in Reih und Glied vor Lastkraftwagen. — stop
zeisig
echo : 0.28 — Nehmen wir einmal an, man würde einen Vogel von der Größe eines Zeisigs konstruieren, ein Wesen, welches aus 1500 Einzelteilen bestehen wird, sagen wir aus Streben von sehr leichtem Metall, einem hölzeren Rumpf, Flügel von kostbarem Tuch, Schrauben, Farbschichten, Dioden, feinsten Seilen, das wäre eine sehr feine Geschichte, einen Baukastenvogel entdecken für Mädchen und Jungen, die nun in ihren Zimmern sitzen, um den Vogelkörper zu montieren. Sie werden vielleicht zwei oder drei Monate Zeit in ihren Zimmern verbringen, kaum etwas wird noch von ihnen zu sehen sein, als das Licht das bis spät in die Nacht verbotenerweise aus ihren Zimmern dringt. Wie sie zuletzt ins Zentrum ihrer Vögel, dort wo sie den Herzort ihrer Vögel vermuten, mit einer Pinzette und zitternden Händen eine Atombatterie verpflanzen, nicht größer als ein Reiskorn, und wie sich nun ihre Vögel mit surrenden Flügeln erheben und aus den Fenstern segeln zur großen Reise einmal um die Erdkugel herum. — Das Radio erzählt von einem jungen Mann, der in Mariupol in der Nacht zum 2. April versuchte Insulin für seine Mutter zu finden. Er kehrte unversehrt in den Keller zurück. Seine Mutter war bereits gestorben. — stop
bristolhotel
alpha : 2.26 UTC — Folgende Person, ein Mann, könnte reine Erfindung sein. Der Mann war mir während eines Spazierganges aufgefallen, dass heißt, ich hatte einen Einfall oder eine Idee, oder ich machte vielleicht eine Entdeckung. Ich könnte von dieser Person, die sich nicht wehren kann, behaupten, dass sie nicht ganz bei Verstand sein wird, weil sie seit langer Zeit in einem Hotelzimmer lebt, welches sie niemals verlässt. Das Hotel, in dem sich dieses Zimmer befindet, erreicht man vom Flughafen der norwegischen Stadt Bergen aus in 25 Minuten, sofern man sich ein Taxi leisten kann. Es ist das Bristol, unweit des Nationaltheaters gelegen, dort, im dritten Stock, ein kleines Zimmer, der Boden hell, sodass man meinen möchte, man spazierte auf Walknochen herum. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigentlich erzählen will. Es handelt sich um einen wohlhabenden Mann im Alter von fünfzig Jahren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haare auf dem Kopf, wiegt 73 Kilogramm, und trägt eine Brille. Sieben weiße Hemden gehören zu ihm, Strümpfe, Unterwäsche, dunkelbraune Schuhe mit weichen Sohlen, ein hellgrauer Anzug und ein Koffer, der unter dem Bett verwahrt wird. Auf einem Tisch nahe eines Fensters, zwei Handcomputer. In den Anschluss des einen Computers wurde ein USB-Speichermedium eingeführt. Auf dem Bildschirm sind Verzeichnisse und Dateinamen zu erkennen, die sich auf jenem Speichermedium befinden. Auf dem Bildschirm des anderen Computers ein ähnliches Bild, Verzeichnisse, Dateinamen, Zeitangaben, Größenordnungen. Was wir sehen, sind Computer des Mannes, der Mann arbeitet in Bergen im Bristol im Zimmer auf dem Knochenboden. Er sitzt vor den Bildschirmen und öffnet Dateien, um sie zu vergleichen, Texte im Blocksatz. Zeile um Zeile wandert der Mann mit Hilfe einer Bleistiftspitze durch das Gebiet der Worte, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Sprache notiert wurden, die mir unbekannt. Es scheint eine verschlüsselte Sprache zu sein, weshalb der Mann dazu gezwungen ist, jedes Zeichen für sich zu überprüfen. Fünf Stunden Arbeit am Vormittag, fünf Stunden Arbeit am Nachmittag, und weitere fünf Stunden am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafelwasser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, Seeteufel, Steinbutt. 277275 Dateien sind zu überprüfen, 12.532.365 Seiten. Er scheint noch nicht weit gekommen zu sein. Die Vorhänge der Fenster sind zugezogen, es ist ohnehin gerade eine Zeit ohne Licht. Ein Mädchen, das ihm manchmal seinen Fisch serviert, macht ihm schöne Augen. Morgens sind die Hörner der Schiffe zu vernehmen, die den Hafen der Stadt verlassen. Das war am 1. Dezember 2013 gewesen. — Im Radio wird von einer Frau erzählt, die seit dem 28. Februar diesen Jahres täglich von Lissabon aus mehrfach vergeblich versucht ihre Eltern in Mariupol zu erreichen. Kein Laut. Kein Zeichen. Aber Stille Tag für Tag. Stunde um Stunde. Minute für Minute. — stop