delta : 15.33 UTC — Vater vor vielen Jahren, wie er sich über einen Tisch beugt, der leuchtet. Er trägt ein weißes Hemd und einen kamelfarbenen Pullover. Diesen erinnerten Pullover hatte ich heute Nachmittag auf einer Fotografie entdeckt, die meinen Vater zeigt auf einem Segelboot vor der kalifornischen Küste im Jahr 1965. Ich bin mir nun nicht sicher, welches der Objekte zunächst in meinem Kopf gegenwärtig war, die Erinnerung an die Farbe des Pullovers, den Vater trug, als er sich über einen Leuchttisch beugte. Oder war es die Begegnung mit der Fotografie des Seglers gewesen, die eine Erinnerung färbte oder überhaupt erst möglich machte? Vater betrachtete ein Dia, das vor ihm auf dem Tisch lag. Zwischen seinem Auge und der Fotografie klemmte eine SILVESTRI — Lupe; es war deshalb, weil Vater, mich mir vorstellte, so tief oder so weit wie möglich in die Fotografie hineinsehen wollte. Ich erinnere mich, dass ich selbst immer wieder Fotografien in dieser Weise betrachtete. Ich entdeckte, dass es möglich war, rein erfundene Gegenstände oder Gesichter oder Tiere in den Tiefen der besichtigten Fotografie wahrzunehmen, demzufolge zu halluzinieren und für eine kurz darauffolgende Erzählungen der Lichtaufnahme in Gedanken festzuhalten. — stop
Aus der Wörtersammlung: erinnerung
stimmen
india : 20.12 UTC — Gestern hatte ich mich plötzlich an Vaters Stimme erinnert. Die Stimme sagte: Aber das ist doch Kokolores. Dann lachte die Stimme. Und ich dachte noch daran, wie ich vor Jahren einmal bemerkte, dass ich mich für einen Moment nicht mehr an die Stimme meines Vaters erinnern konnte. Wie ich auch suchte, ich fand sie nicht. Ich war natürlich sehr erschrocken gewesen. Anstatt der Stimme meines Vaters, hörte ich die Stimme des großen Erzählers Isaak B. Singer, eine helle und zugleich raue Stimme, die der Stimme meines Vaters sicher ähnelte. Ich hatte vor ein oder zwei Jahren Singers Stimme in einem Filminterview gehört. Fotografien zeigen den alten Mann spazierend am Atlantik. Auch mein Vater war mehrfach in Brighton Beach gewesen, wenn ich nicht irre. Plötzlich kehrte die Erinnerung an die Stimme meines Vaters zurück. Isaac B. Singers Geschichte im Übrigen geht so: Kurz nach meiner Ankunft (in Amerika) betrat ich zum ersten Mal eine Cafeteria, ohne zu wissen, was das ist. Ich hielt es für ein Restaurant. Ich sah lauter Leute mit Tabletts und fragte mich, warum man in so einem kleinen Restaurant so viele Kellner brauchte. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vorbeikam, ein Zeichen. Ich hielt sie alle für Kellner und wollte etwas bestellen. Aber sie ignorierten mich, manche lächelten auch. Und ich dachte, was für ein unwirklicher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein kleines Café mit so vielen Kellnern, und niemand beachtet mich! Irgendwann begriff ich dann, was eine Cafeteria ist. Sie wurde mein zweites Zuhause. Die Cafeterien wurden eine Art Zuhause für Flüchtlinge aus Polen, Russland und anderen Ländern. Viele meiner Geschichten spielen in Cafeterien, wo all diese Menschen aufeinandertrafen: die Normalen, die weniger Normalen und die Verrückten. Das ist also der Hintergrund meiner Geschichten, die in Cafeterien spielen. – stop
Spuren einer Zeit
da mein Vater
das Wort
Kokolores
sagte
chatGPT
india : 20.33 UTC — Ich stelle ChatGPT folgende Frage: Was würden Sie mir bitte über folgenden Text (Im Quarantänegarten 2. November 2023) erzählen, einen Text, den ich selbst geschrieben habe. ChatGPT antwortete: »Ihr Text beschreibt eindringlich eine Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart, mit starken emotionalen Nuancen. Hier sind einige Aspekte, die mir auffallen: Atmosphäre und Stimmung: Der Text erzeugt eine nachdenkliche und melancholische Atmosphäre, insbesondere durch die Erwähnung des Windes, des Februars und des verlassenen Hauses im Süden. Die Worte vermitteln eine emotionale Verbindung zu vergangenen Zeiten und Orten. Verlust und Erinnerung: Die Betrachtung der Kleider und persönlichen Gegenstände verschwundener Menschen bringt den Schmerz des Verlusts hervor. Die Details wie Schuhe, Halstücher und der verwilderte Garten verstärken das Gefühl von Abwesenheit und Vergänglichkeit. Beobachtungen und Fotografie: Die Erwähnung des Fotografierens von Schuhen und der Entdeckung von persönlichen Gegenständen in einer Handtasche vermittelt den Eindruck, dass der Protagonist versucht, Erinnerungen festzuhalten oder die Vergangenheit zu verstehen. Fotografie kann oft als Mittel dienen, um Momente einzufrieren und Erinnerungen zu bewahren. Der Schmerz des Abschieds: Der Text endet mit einer starken Aussage über den Schmerz, der mit dem Gedanken verbunden ist, die alte Dame nie wieder besuchen zu können. Dies verstärkt das Gefühl von Verlust und Abschied. — Insgesamt ist Ihr Text sehr bildhaft und einfühlsam. Er vermittelt eine persönliche Erfahrung von Verlust, Erinnerung und dem Versuch, die Vergangenheit zu bewahren.“ ::: Erste seltsame, unheimliche Begegnung mit einer Maschine in eigenen Räumen. Zeit für Antwort: 3 Sekunden. — stop
besuch um kurz nach mitternacht
sierra : 0.55 — Ein Nachtfalter segelte durch mein Arbeitszimmer, als sei er eine Erinnerung. Das Tier war so müde und so schwach, dass es sich der Luft anvertraute. Kurz darauf saß der Falter auf dem Boden und ich hob ihn auf und setzte ihn behutsam an eine Wand. — Es ist jetzt bald 1 Stunde nach Mitternacht. Oktober. Ein paar Diodenlichter glühen zu mir herüber. Ich werde den Falter füttern, werde ihn mittels Zuckerwasser über den Winter bringen. Er könnte vielleicht 260 Jahre alt, er könnte ein Lichtenbergfalter sein, der zu Kräften kommen möchte. — stop
zerzaust
zoulou : 12.28 UTC — L. erzähle vor langer Zeit, sie habe einmal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zeitungen. Trotzdem sei diese Frau, deren Namen sie nicht in Erinnerung habe, Wörtern sehr eng verbunden gewesen, da sie pausenlos Wörter notierte. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bänken sitzend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie verlassen haben soll. Sie schrieb an einem einzigen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer weiteren Variante mit sich führte, im Grunde an einem Buch einerseits, das sie bereits aufgeschrieben hatte, und einem Buch andererseits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrieben worden war, wiederholte, aber natürlich nicht, ohne das Buch im Prozess des Abschreibens zu ergänzen. Jede Ergänzung wurde sorgfältig überlegt, manchmal wurden Wörter ersetzt, ganze Sätze oder ein Gedanke hinzugefügt, selten eine Passage gestrichen. In dieser Weise veränderte sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wurde langsam schwerer. Immer dann, wenn ein Buch abgeschrieben worden war, verschwand das abgeschriebene Buch. Und wiederum begann die Frau eine weitere Kopie anzufertigen, die sich im Prozess der Verdopplung scheinbar nur unwesentlich von ihrem Original unterscheiden würde. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spazieren und war stets sorgfältig gekleidet. Sie soll schon ein wenig wild ausgesehen haben, irgendwie zersaust, aber glücklich, sagen wir, zerzaust und immer beschäftigt und irgendwie fröhlich. Sie notierte zierliche, äußerst exakte Zeichen. — Das Radio erzählt von einer Reporterin der Besatzungsarmee, sie habe Menschen, welche vor Lastkraftwagen warteten, um Brot zu erhalten, geraten, dankbar zu sein. — stop
nachtkäfer
lima : 2.28 UTC — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. 2 Uhr. Ich hatte beobachtet aus mehreren Metern Entfernung, wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Das Radio erzählt, im Keller eines verschütteten Hauses der Stadt Mariupol würde seit zwei Tagen ein Transistorradio seltsame Geräusche machen, pfeifen, piepsen, vermutlich deshalb, weil der Strom zurückgekommen ist. — stop
radiotauben
sierra : 22.08 UTC — Einmal, am späten Abend, folgte ich einem Hyperlink, der von meiner Particlesmaschine automatisch erzeugt worden war nach Regeln, die ich nicht präzise beschreiben könnte. In dieser Weise arbeitend, begegnete ich einem Text, der von einem Radio erzählte. Es ist seltsam, ich konnte mich zunächst nicht erinnern, diesen Text selbst geschrieben zu haben. Ich las ihn und dachte: Diesen Text musst Du erfunden haben, rein erfundene Texte lassen sich nicht so leicht erinnern, wie Texte, die von einer erlebten Geschichte berichten. Nun also, in dem ich meinen Text, den ich im April des vergangenen Jahres notierte, lese, schreibe ich ihn zum zweiten Male, er wird mir vermutlich ein weiteres Jahr später, noch in Erinnerung sein, wie der Abend, an dem ich ihn wiederholte, also erlebte, weil ich ihn in mein Leben versetzte: Ich stellte mir vor, wie ich in der Küche vor einem Tisch sitze. Auf dem Tisch steht ein Radio. Das Radio ist 10 cm lang und ebenso breit und ebenso hoch, ein Würfel demzufolge. Der Würfel verfügt über zwei Knöpfe, die ich vertiefen einerseits und an welchen ich drehen kann andererseits. Dort, wo ich Schrauben erkenne, die in das hölzerne Gehäuse eingelassen sind, scheint sich die hintere Seite des kleinen Radios zu befinden. Ich kann das Radio öffnen. Als ich es öffne, entdecke ich weitere winzige Schrauben, eine Platine, Dioden, Widerstände, Beschriftungen in einer Sprache, die ich nicht zu lesen vermag, außerdem einen Zylinder. Ich entdecke also viele Dinge, aber nichts, was mir behilflich sein konnte, das Radio zum Schweigen zu bringen, das Radio spielt nämlich in einem Abstand von einer Stunde eine Passage aus der 2. Symphonie Rachmaninows, die weder leiser noch lauter einzustellen ist, sie ist eben, wie sie ist, laut genug, um das Radio vor das Fenster stellen zu müssen. Einmal sitzen zwei Tauben links und rechts des Radios. Als das Radio seine Musik spielt, erschrecken sie und fliegen davon. Ein anderes Mal kommen sie wieder und bauen auf dem Radio ein Nest. — Heute Abend erzählt das Radio, ukrainische Kinder seien von russischen Behörden aus der Stadt Mariupol entführt worden. Man, ich meine, eine Sprecherin der russischen Behörde, sagte im Radio, die Kinder, die freiwillig in Busse eingestiegen seien, sollten sich nur erholen. Die junge Frau sagte weiterhin, die Kinder würden sehr schreckliche Dinge erlebt haben, weil ukrainische Truppen ihre Heimatstadt verwüstet haben sollen. Das sagte die Frau. — stop
im zimmer. mitternacht
echo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Textsammlung Fälle balancierte ich zur Winterzeit vor einem Bücherregal auf einem Stuhl. Es war Samstag. Ich erhoffte mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? — Ein bemerkenswerter Satz. — Wie ich bald von dem Stuhl gestiegen war und wieder auf dem Boden stand, hielt ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch war im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen worden. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Ich entdeckte, dass G. und J. gestorben waren, während P. damals noch lebte. Nun ist auch sie gestorben und auch Daniil Charms ist noch immer tot und sein Übersetzer Peter Urban seit 8 Jahren. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen nach wie vor 7 °C. Wiederum Mitternacht. Langsam spaziere ich wie vor Jahren durch das nächtliche Zimmer. Und während ich so gehe, erinnerte ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener südlichen Friedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend gewesen. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich noch immer nicht erinnern, worüber wir gesprochen hatten. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied gewesen war. — stop
lichtauge
india : 22.12 UTC — Unter dem Dach im Zimmer meines Vaters stand ein Tisch, dessen Platte leuchtete, sobald man einen Schalter umlegte, der sich am rechten Vorderen der Beine des Tisches befand. Es war helles Licht, welches dem Tisch innewohnte, es war heller als das Licht des Himmels, heller als der Schein meiner Taschenlampe bei Nacht, es war deshalb vielleicht in meiner Erinnerung ein außerordentlich strahlendes Licht, weil ich mich über dieses Licht wunderte, dass es überhaupt existierte, weil doch der Tisch keine Lampe, sondern eben ein Tisch gewesen war. Manchmal saß mein Vater dort vor diesem Tisch und arbeitete, indem er Dia-Fotografien in das Licht des Tisches legte. Er saß ganz still, tief über die gläserne Platte des Tisches gebeugt und betrachtete seine Fotografien mittels einer Lupe, die er dicht an den Tisch herangeführt hatte. Sein linkes Auge war geschlossen, sein rechtes Auge indessen klein geworden, indessen er durch das geschliffene Glas hindurch jene Welt betrachtete, die er aufgenommen hatte. Dieses beobachtende Auge meines Vaters, das er auf mich richtete, sobald er mich kommen hörte, war ein seltsames Wesen, hell, als ob es etwas von dem Licht des Tisches in sich aufgenommen haben würde, um nun selbst zu einer Lampe geworden zu sein. — stop
vom brausetütchen
echo : 0.28 UTC — Zeiträume meines Lebens existieren, für die ich keine Erinnerung habe, Bilder, Geräusche, Geschichten, Gegenstände, die ich sofort aufrufen könnte, irgendwo sind sie versteckt. Vor kurzem erinnerte ich mich an Springspiele meiner Kindheit, was waren das für Gummibänder gewesen? Brausetütchen. Ein Plattenspieler. Ein sich im Wind wiegender Baum. — Das Wort Pandemie ist mir schon lang bekannt, wann präzise könnte ich das Wort zunächst gelesen oder gehört haben? — stop