bamako : 23.02 UTC — Ich packe einen Koffer. Harte, sehr harte Schale, hart wie die Schale der Pekannüsse. Ich lege Hemden hinein, und Hosen und eine Jacke, es könnte kalt werden nachts dort, wohin ich reise. Brille, Turnschuhe, bunte Strümpfe und 1 Paar Handschuhe, Halstücher in Gelb und Rot und Blau. 2 Bücher, die von Vögeln erzählen, 1 Landkarte, 2 starke Batterien für Schreibmaschine, 1 Gummiband, Seife, 1 Stetson Hut, 1 Pullover taubengrau, 1 Pullover gelb, 1 Telefon. Letzte Phase vor Abreise. Ich sitze und schau mir an, was ich als Reiseordnung betrachte. Ich klappe den Koffer zu und verschließe mein Gepäck, in dem ich das Zahlenschloss wild bewege. Der Koffer ist zu, ich kann ihn nicht öffnen. Ich suche nach einem Zettel. Ich bin aufgeregt. Ich mahne zur Ruhe. Ich sage: Sei gleichmütig, Louis! Geduld, Louis! Eine Zahl ist zu erinnern, vier Stellen. Noch ist Zeit. Ich beginne mit der Zahl 001. Zwei Fliegen sausen herum. Im Café um die Ecke wird gefeiert. Ich beobachte, als gehörten sie nicht zu mir, meine Finger, die in rhythmischer Bewegung Zahlen versuchen. Astor Piazzolla: Tiempo Nuevo. Es geht darum, keine der möglichen Zahlen zu übergehen, es geht um Präzision. Eine wunderbare Nacht, noch früh. — stop
Aus der Wörtersammlung: blau
mariupol / 6.
victory : 22.01 UTC — In einem Zimmer eines Hauses in Mariupol im sechsten Stock lag eine Fotografie auf dem Boden. Kinder sitzen dort im Bild auf Stühlen. Ihr erster Schultag. Die Fotografie war verstaubt und außerdem verletzt von einem Granatsplitter, der das Bild durchschlagen hatte. Der Kopf eines Mädchens war in dieser Weise verschwunden. Das Mädchen hatte einen himmelblauen Rock getragen, eine korallenfarbene Bluse mit weißen Blüten einer Rose, schwarze glänzende Schuhe mit goldenen Spangen und eine Kette bunter Steine um den Hals. Über das Gesicht des Mädchens kann ich natürlich nichts erzählen. Auch nicht über ihr Haar. Ich müsste, um über das Gesicht des Mädchens erzählen zu können, die Kinder des Bildes finden und befragen. Vielleicht haben sie alle überlebt, das ist vielleicht möglich. Oder eines oder zwei der Kinder. — stop
Lokomotive
des Jahres 1968
auf meinem
Küchentisch
im Winter um
kurz nach
Mitternacht
geräusche des krieges
sierra : 2.38 UTC — Immer wieder einmal begegne ich im Nachtzug einem Mann, der singt. Der Mann singt sehr leise, kaum jemand scheint sich von seinem Singen gestört zu fühlen. Während er singt, sind seine Augen weit geöffnet, er blickt ins Leere, sein Mund ist geschlossen, Töne, die wir vernehmen, kommen aus seinem Hals heraus, der bebt, wenn er singt. Nur selten habe ich mit dem Mann gesprochen, man kennt sich, man fährt in der Nacht im selben Zug in derselben Richtung, es ist mühsam, mit ihm zu sprechen, weil er stottert. Ich darf ihn nicht ansehen, wenn ich ihn nicht ansehe, kommen manchmal ganze Sätze aus seinem Mund. Ich weiß jetzt, dass der Mann in der persischen Stadt Isfahan geboren wurde, Architektur studierte, gegen irakische Männer kämpfte, die jung waren wie er selbst, und dass er nur durch einen Zufall überlebte. Er konnte fliehen. Er floh zu Fuß in die Türkei, eine lebensgefährliche Reise, Sahin, seine Frau, wurde von irgendjemandem angeschossen, er trug sie kilometerweit durchs Gebirge, nahe der Grenze begegneten sie einem Esel, dem ein Bein fehlte. Sie schliefen unter einem Baum ohne Blätter, in der Nacht schleppten sie sich weiter, der Mond war heiß wie die Sonne und auf den Wegen hockten Schildkröten mit blau schimmernden Augen. Manchmal kommen die Geräusche vom Krieg, sie kommen, wann sie wollen, dann singt der Mann. – stop
ein kind
nordpol : 0.58 — Ich stellte mir Nachrichten vor, die dazu geeignet sind, Telefone der Nachrichtenempfänger unverzüglich in Brand zu setzen. Was könnte das für Nachricht sein? Vielleicht folgende Nachricht, dass eine Geschichte wie diese Geschichte hier möglich ist, eine Geschichte, die von einem Kind erzählt, das in Großbritannien lebt. Das Kind, so wird erzählt, öffnete zur Weihnachtszeit einen Geschenkkarton, welcher in China erzeugt worden sein soll. In diesem Geschenk fand das Kind einen Zettel sorgfältig versteckt, der von Hand beschriftet worden war. Auf dem gefalteten Zettel war Folgendes zu lesen: S O S! Neugierig geworden öffnete das Kind das akkurat gefaltete Päckchen Papier. Das Kind entdeckte Zeichen, die mittels eines Kugelschreibers in blauer Farbe auf das Papier gesetzt worden waren. Und weil das Kind unbedingt herausfinden wollte, was dort handschriftlich notiert worden war, wurde die Zeichenfolge übersetzt. Von einem Ort in China war die Rede, von einem Gefängnis nahe einer großen Stadt im Norden des Landes, von der furchtbare Not eines menschlichen Wesens. Auch von der Zeit, von einem Zeitort. Bald drei Jahre war der Brief auf Reisen gewesen, ehe das Kind aufmerksam geworden war. — stop
winterspur
foxtrott : 16.11 UTC — Ich spazierte einmal im Gebirge durch den Schnee. Es war ein eiskalter Wintertag, der Himmel von einem wundervollen Polarblau, das ich gern gepflückt und mit mir in der Manteltasche nach Hause getragen hätte. Vögel waren nicht zu sehen, aber sie waren zu hören gewesen, dumpfe Geräusche wie aus einem Traum heraus. Ja, die Vögel schliefen, nichts anderes war möglich, hockten unter Schneeschirmen, die sich über Tannen und Fichtennadeln spannten, und warteten auf den Frühling. Ein Pfad führte durch den Wald, eine Spur, die Tiere bei Nacht und Menschen bei Tag gemeinsam in den Schnee eingetragen haben mochten. Wenn ich ganz still stand, konnte ich leise mein Herz in der Brust schlagen hören. Ein seltenes Ereignis, das eigene Herzgeräusch von unten herauf, oder war das doch nur eine Vorstellung gewesen. Und ich dachte an Eichhörnchen, ich dachte, gut, dass ich kein Eichhörnchen bin in diesem Winter. Eine Stunde ging ich so den Pfad entlang, dann kehrte ich um. — Das Radio erzählt, ein Mädchen habe die Stadt Mariupol allein über verschneite Felder gehend zu Fuß verlassen. Überall, sagt das Mädchen, würden gefrorene Schaufensterpuppen herumgelegen haben. — stop
ameisengespräch
tango : 15.18 UTC — Eine deutsch sprechende, hochbetagte russische Dame erzählte am Telefon, sie habe gehört, Ameisen, Millionen vergifteter Ameisen würden die ukrainische Grenze in Richtung der Russischen Föderation überquert haben im vergangenen Jahr bereits. Sie seien erschaffen worden, um ganz Russland zu zerstören, Menschen, Tiere, Pflanzen. Diese Ameisen seien ungewöhnlich groß und von blauer Farbe. Ich fragte zunächst, ob sie denn eine der Ameisen, von deren Existenz sie hörte, mit eigenen Augen gesehen habe. Nein, mein Gott, dann könnte ich Dir von dieser Gefahr doch nicht erzählen! Ob denn Fotografien oder Filmaufnahmen das Vorkommen jener gefährlichen Wesen dokumentieren würden, wollte ich wissen? Ja, aber natürlich, diese Fotografien müssen existieren, aber ja, natürlich! — Ihr helles Stimmchen. stop
von den eisvögeln
india : 8.12 UTC — Im Juli des Jahres 2012 hatte ich Eisvogelwörter entdeckt. Ich wiederhole. Nicht erwartete Vielfalt: Herkules-Eisvogel (Alcedo hercules), Kobalt-Eisvogel (Alcedo semitorquata), Schillereisvogel (Alcedo quadribrachys), Meninting-Eisvogel (Alcedo meninting) Azurfischer (Alcedo azurea), Brustband-Eisvogel (Alcedo euryzona), Blaubrustfischer (Alcedo cyanopecta), Silberfischer (Alcedo argentata), Madagaskarzwergfischer oder Schwarzschnabel-Zwergfischer (Alcedo vintsioides), Hauben-Zwergfischer oder Malachit-Eisvogel (Alcedo cristata), Sao-Tomé-Zwergfischer (Alcedo thomensis), Principe-Zwergfischer (Alcedo nais), Weißbauch-Zwergfischer (Alcedo leucogaster), Türkisfischer (Alcedo coerulescens), Papuafischer (Alcedo pusilla) — Auch seltsame Wörter in folgender Nahaufnahme: Der Eisvogel ernährt sich von Fischen, Wasserinsekten und deren Larven, Kleinkrebsen und Kaulquappen. Er kann Fische bis neun Zentimeter Länge mit einer maximalen Rückenhöhe von zwei Zentimetern verschlingen. Bei langgestreckten, dünnen Arten verschiebt sich die Höchstgrenze auf zwölf Zentimeter Körperlänge. Die Jagdmethode des Eisvogels ist das Stoßtauchen. Von einer passenden Sitzwarte im oder nahe am Wasser wird der Stoß angesetzt. Wenn er eine mögliche Beute entdeckt, stürzt er sich schräg nach unten kopfüber ins Wasser und beschleunigt dabei meist mit kurzen Flügelschlägen. Die Augen bleiben beim Eintauchen offen und werden durch das Vorziehen der Nickhaut geschützt. Ist die Wasseroberfläche erreicht, wird der Körper gestreckt und die Flügel eng angelegt oder nach oben ausgestreckt. Bereits kurz vor dem Ergreifen der Beute wird mit ausgebreiteten Flügeln und Beinen gebremst. Zur Wasseroberfläche steigt er zuerst mit dem Nacken, wobei er den Kopf an die Brust gepresst hält. Schließlich wird der Schnabel mit einem Ruck aus dem Wasser gerissen und der Vogel startet entweder sofort oder nach einer kurzen Ruhepause zum Rückflug auf die Sitzwarte. Im Allgemeinen dauert ein Versuch nicht mehr als zwei bis drei Sekunden. Der Eisvogel kann aber auch aus einem kurzen Rüttelflug tauchen, wenn ein geeigneter Ansitz fehlt. Nicht jeder Tauchgang ist erfolgreich, er stößt oft daneben. Der Eisvogel benötigt zur Bearbeitung der Beute in der Regel einen dicken Ast oder eine andere, möglichst wenig schwingende Unterlage. Kleinere Beute wird mit kräftigem Schnabeldrücken oft sofort verschluckt. Größere Fische werden auf den Ast zurückgebracht, dort tot geschüttelt oder auf den Ast geschlagen, im Schnabel „gewendet“ und mit dem Kopf voran verschluckt; anderenfalls könnten sich im Schlund die Schuppen des Fisches sträuben. Der Eisvogel schluckt seine Beute in einem Stück. Unverdauliches, wie Fischknochen oder Insektenreste werden etwa ein bis zwei Stunden nach der Mahlzeit als Gewölle heraufgewürgt. / quelle: wikipedia Das Radio erzählt, in der Stadt Mariupol sollen tausende Singvögel in eiskalten, fluchtartig verlassenen Wohnungen verdurstet sein. — stop
nachtkäfer
lima : 2.28 UTC — Für einen Moment dachte ich heute Nacht an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal erzählte. 2 Uhr. Ich hatte beobachtet aus mehreren Metern Entfernung, wie ein Käfer, der einem Zeppelinkäfer ähnlich war, sehr langsam durch mein Zimmer schwebte, um auf einer Tischlampe zu landen. Dort blieb er für einige Minuten sitzen. Sofort suchte ich nach jener Geschichte, die von einem Zeppelinkäfer handelt. Sobald ich sie gefunden hatte, segelte der Käfer, der mich an meine Notiz erinnert hatte, in die Dunkelheit davon, sodass ich ihn beinahe für die personifizierte Erinnerung dieser einen Geschichte halten möchte. Sie geht so: Ein seltsames Wesen schwebte kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnurgerade eine unsichtbare Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. — Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. — Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit acht recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. – Das Radio erzählt, im Keller eines verschütteten Hauses der Stadt Mariupol würde seit zwei Tagen ein Transistorradio seltsame Geräusche machen, pfeifen, piepsen, vermutlich deshalb, weil der Strom zurückgekommen ist. — stop
ein streichholzkopf
ulysses : 22.02 — Wann war es gewesen, dass ich zum ersten Mal bemerkte, wie meine Briefe kleiner und kleiner wurden? Wesen von wirklichem Papier, Bögen in Umschlägen, mit einem Postwertzeichen, das zuletzt die Anschriftseite meines Schreibens vollständig bedeckte. Im Postamt werde ich seither ernst genommen. Vor einigen Wochen kaufte ich sinnvollerweise ein handliches Mikroskop und einen Satz Bleistifte von äußerster Härte. Ich spitzte das Schreibwerkzeug eine Viertelstunde lang, dann legte ich einen Bogen Papier in das Licht einer Linse mittlerer Stärke. Ich näherte mich mit bebenden Fingern. Man sollte mich in diesem Moment gesehen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das kleine Blatt notierte, hielt ich die Luft an. Tatsächlich habe ich in meinen Leben noch nie zuvor in einer derart sorgfältigen Weise geschrieben. Ich brauchte drei Stunden Zeit, um das Papier, das nicht größer gewesen war als eine Briefmarke von 1,5 cm Kantenlänge, vollständig zu beschriften. Ich schrieb folgende Zeilen an einen Freund: Lieber Stanislaw, Du wirst es nicht glauben, nach 1 Uhr heute Nacht schwebte ein Zeppelinkäfer einer nicht sichtbaren, schnurgeraden Linie über den hölzernen Fußboden meines Arbeitszimmers folgend entlang, wurde in der Mitte des Zimmers von einer Luftströmung erfasst, etwas angehoben, dann wieder zurückgeworfen, ohne allerdings mit dem Boden in Berührung zu kommen. – Ein merkwürdiger Auftritt. – Und dieser großartige Ballon von opakem Weiß! Ein Licht, das kaum noch merklich flackerte, als ob eine offene Flamme in ihm brennen würde. Ich habe mich zunächst gefürchtet, dann aber vorsichtig auf Knien genähert, um den Käfer von allen Seiten her auf das Genaueste zu betrachten. – Folgendes ist nun zu sagen. Sobald man einen Zeppelinkäfer von unten her besichtigt, wird man sofort erkennen, dass es sich bei einem Wesen dieser Gattung eigentlich um eine filigrane, flügellose Käfergestalt handelt, um eine zerbrechliche Persönlichkeit geradezu, nicht größer als ein Streichholzkopf, aber schlanker, mit sechs recht langen Ruderbeinen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebrapferde. Fünf Augen in graublauer Farbe, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erdboden gerichtet. Als ich bis auf eine Nasenlänge Entfernung an den Käfer herangekommen war, habe ich einen leichten Duft von Schwefel wahrgenommen, auch, dass der Käfer flüchtet, sobald man ihn mit einem Finger berühren möchte. Ein Wesen ohne Laut. Dein Louis, herzlichst. — Es war eine wirklich harte Arbeit, all diese Zeichen zu notieren. Dann faltete ich das Blatt Papier einmal kreuz und quer. Ich arbeite mit zwei Pinzetten wiederum unter starkem Licht, steckte den Brief in ein Couvert, dessen Herstellung noch mühevoller gewesen war als das Schreiben des Briefes selbst, und machte mich auf den Weg in das nächste Postamt. Dort wurde ich unverzüglich an den Schalter für besondere Briefformate weitergeleitet, wo mein Brief, den ich mit einer Pinzette auf den Tresen befördert hatte, von einer weiteren Pinzette entgegengenommen wurde. Ich war sehr glücklich. Ich beobachtete, wie der Beamte eine Briefmarke von der Größe eines Reiskorns behutsam auf meinen Brief legte und mittels eines Stempels, der vor meinen bloßen Augen kaum noch sichtbar gewesen war, entwertete. Dann ging mein Brief auf Reisen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kurze Zeit vergessen. Nun aber, vor wenigen Stunden, wurde mir von einem Sonderboten der Post ein Brief von derart leichter Gestalt übergeben, dass ich zunächst die Anweisung erhielt, alle Fenster meiner Wohnung zu schließen. Dieser Brief, eine Depesche meines Freundes, ruht vor mir auf dem Tisch, ein Kunstwerk. Auf seiner Briefmarke sollen sich zwei Paradiesvögel befinden, die ihre Schnäbel kreuzen. Ich werde das gleich überprüfen. — Das Radio erzählt, dem ersten Offizier einer “Somalieinheit” soll in der Stadt Mariupol ein Orden übergeben worden sein, der fortan mittels einer Spangennadel für alle Zeit an der Brust des Mannes mittleren Alters befestigt sein wird. — stop
zwergdrache
sierra : 2.28 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Sommer 1958. Auf einem Fährschiff, dessen Name ich nicht ermitteln konnte, steht am Heck ein Junge im Alter von ungefähr 12 Jahren. Es ist früher Nachmittag, die Schule vermutlich gerade vorüber, der Junge fährt mit dem Schiff von Manhattan nach Hause. Er trägt Halbschuhe, ein helles Hemd, eine Krawatte und ein dunkles Jackett, seine Schultasche lehnt an einem Pfeiler, der für schwere Schiffstaue vorgesehen ist. Im Hintergrund, am Horizont, sind Kräne zu erkennen, die wie eiserne Vögel auf stelzenartigen Füssen stehend, zu warten scheinen. Einige Meter über dem Jungen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Junge selbst, reglos in einer Schwarz-Weiß-Fotografie gefangen. Zwei ältere Personen, eine Frau in einem hellen Kleid, und ein Mann, der einen dunklen Anzug trägt, lungern auf einer Bank. Sie küssen sich gerade auf den Mund, sind vielleicht eigentliche Ursache der Fotografie, der Junge, der gefährlich nah an der Kante zum Wasser steht, ist also möglicherweise versehentlich mit auf das Bild geraten. Eine Hand des Jungen ist nach vorn hin ausgestreckt, es ist seine linke Hand, während seine rechte Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sichtbar ist, um diese linke ausgestreckte Hand wickelt, als wäre sie eine Spule. Der Junge scheint im Moment der Aufnahme mit seiner Arbeit des Wickelns beinahe fertig geworden zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sichtbar, ein kleiner Drache von Papier ist dort befestigt, ein Drache nicht länger als zehn Zentimeter und nicht breiter als sechs Zentimeter, ein Zwergdrache, in der einfach gekreuzten Form der Kinderdrachen, dessen Körper mit Seidenpapier bespannt gewesen sein könnte, unbekannte Farbe, vielleicht blau, vielleicht gelb. Eine erstaunliche Entdeckung. Zweiter Blick. – Das Radio erzählt, man habe in der Stadt Mariupol einen städtischen Bus mühevoll in Bewegung gesetzt. — stop