lima : 16.28 UTC — vielleicht ist er im Wald spazierend gestolpert. Eine Wurzel, sagen wir, seine eigenen Füße, eine Libelle? In diesem Augenblick leichten Schreckens hatte er sich vielleicht an mich erinnert, jener gemütliche Herr, mit dem ich vor der Zeit der Pandemie bekannt gewesen war. Er wünscht jetzt wieder, oder weiterhin, mit mir in der digitalen Sphäre befreundet zu sein, sendet eine Anfrage, die mich zur persönlichen Timeline führt. Seltsame Botschaften dort wie folgende in Form gepresst: Ein Tag im August des Jahres 1975 soll bereits so heiß gewesen sein wie der August in diesem gegenwärtigen Sommer. Die Löschung von Beiträgen im Internet sei die moderne Methode der Bücherverbrennung. Bürgergeld für geflüchtete Menschen übertreffe um ein Vielfaches das Einkommen arbeitender nicht geflüchteter Menschen. Er notiert weiterhin, dass er sein Land zurückhaben wolle. Er sei gegen jede Art des Krieges, er sei wirklicher Friedensstifter, einer, der sich Erich Maria Remarques Merksatz „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen“ zu eigen machte. Er wünscht die Zeitumstellung abzuschaffen und ist der festen Überzeugung, dass Alex Soros Kamala Harris unterstütze, weswegen Kamala Harris 25 Milliarden Dollar besitzen würde. Er liebt Burgen und Schlösser sowie nicht verhüllte Frauen. 92000 Araber lebten in Dortmund, er hat sie gezählt. Er ist bei guter Gesundheit, mein Freund, der seltsam gewordene Mann zitiert Schopenhauer: Natürlicher Verstand könne fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand. stop – Die Beobachtung eines Gewebes, eines Teppichs, eines Mantels. Oder eines Unterholzes, eines Dickichts. — stop
Aus der Wörtersammlung: tür
ai : UKRAINE
MENSCHEN IN GEFAHR: „Am 24. Februar 2022 wurden die Menschen in der Ukraine um 5 Uhr morgens von der Nachricht geweckt, dass das russische Militär in ihr Land einmarschiert ist. Mitten in der Nacht waren russische Panzer ins Land gerollt und das Militär hatte aus mehreren Richtungen angegriffen. Der russische Angriffskrieg geht mit erschreckendem Leid für die Zivilbevölkerung in der Ukraine einher. Die Recherchen von Amnesty International weisen auf ein breiteres Muster von Kriegsverbrechen durch russisches Militär hin. Russische Streitkräfte greifen wahllos Wohngebiete, Krankenhäuser und Schulen an und setzen dabei unterschiedslos wirkende Waffen und verbotene Streumunition ein. Unbewaffnete Zivilist*innen wurden in ihren Häusern oder auf offener Straße von russischen Soldat*innen erschossen. Russlands Einmarsch in die Ukraine ist ein eklatanter Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen und ein Akt der Aggression, der ein Völkerrechtsverbrechen darstellt. Gleichzeitig missbraucht Russland seine Position als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, um sich vor Konsequenzen zu schützen. Die Russische Föderation muss diesen Akt der Aggression gegen die Ukraine beenden und die Zivilbevölkerung schützen. Sie muss sich an das Völkerrecht halten. Die Aggression nach außen wird begleitet von der brutalen Unterdrückung all jener, die sich in Russland gegen den Krieg positionieren oder unabhängig darüber berichten. Seit Februar 2022 wurden nach Informationen der russischen Menschenrechtsorganisation OVD-info mehr als 19.000 Menschen im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten festgenommen. Hunderte Gerichtsverfahren wurden gegen sie eingeleitet, dutzende Websites unabhängiger Medien willkürlich blockiert und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen aufgelöst, faktisch verboten oder als “ausländische Agenten” oder “unerwünscht” gelistet. Die russische Aggression hat die Menschen in der Ukraine in eine katastrophale Menschenrechtskrise gestürzt. In Russland wird jede Opposition gegen den Krieg unterdrückt. Schließen wir uns zusammen, um das sofortige Ende dieses Angriffskriegs und das Ende der Repressionen zu fordern. Wir sind viele. Sende eine E‑Mail an den russischen Botschafter in Deutschland und fordere das sofortige Ende des Angriffskriegs, den Schutz der Zivilbevölkerung und die Einhaltung des Völkerrechts. Hinweis: Es werden keine persönlichen Daten an die russischen Behörden weitergeleitet. > EINE E‑MAIL SCHREIBEN
delay line
zoulou : 23.02 UTC — Ein heißer Tag vor 12 Jahren. Tatsächlich Sommer. Vater, der im Rollstuhl im Garten sitzt, bittet mich, ein Glas Milch zu holen. Ich stehe vor dem Kühlschrank. Die Tür des Kühlschranks ist offen. — In der vergangenen Nacht im Halbschlaf immer wieder der Gedanke, dass ich vergessen hatte, Vater das Glas Milch in den Garten zu tragen. Ich suchte im Traum nach dem Kühlschrank. Ich holte ein Glas Milch und trat in den Garten. Ich dachte noch: Es ist Nacht, Vater ist längst nicht mehr unter uns. Ich stellte das Glas auf einen Tisch und legte mich wieder ins Bett zurück — Im Jahr 1978 besuchte ich Vater an seinem Arbeitsplatz im Kernforschungszentrum CERN. In der Box der Wissenschaftler war es heiß und schwül. Ventilatoren rauschten. Vater war jung gewesen. Der Pullover, noch bekannt im Sommer vor 12 Jahren, vermutlich auch die Hose, die er auf einer Fotografie festgehalten war, welche ich gestern entdeckte. Vater und sein Team verlegten Leitungen, Kilometer um Kilometer über Spulen, um Signale in der Zeit zu verzögern. Elektrische Signale sind lautlose Wesen. — Sommer. Die Nächte warm. — stop
CERN
im Sommer einer
Nachtschicht
polarnacht
romeo : 2.15 UTC — In der Nacht seltsam dunkel. Er steht auf, öffnet die Tür zur Diele. Kein Licht in der Küche. Auch nicht von der Straße her. Kühlschrank dunkel. Himmel dunkel. Fenster der Wohnungen des Hauses im vierten Stock gegenüber ohne Licht. Im Treppenhaus dort irren Taschenlampenlichter oder Mobiltelefone. Hier, sagt er laut, ist der Tisch, und hier ist der Herd und hier sind Klinke und Tür zu Bad. Er bemerkt in diesen Minuten einer Nacht ohne Elektrizität, dass er das Licht seiner Vorstellungskraft zu erhellen vermag, in dem er von den Gegenständen spricht, an die er sich erinnern will. Tür zum Arbeitszimmer. Schreibtisch gleich links. Vorsicht Lampenschirm. Ein Buch. Schreibmaschine. Kaffeetasse. Zwei Stifte, tatsächlich. — stop
lockerbie
echo : 22.57 UTC — Eine Frau erzählte auf dem Bildschirm meines Fernsehgerätes, ihr Mann sei über Schottland in großer Höhe von einer Bombe getötet worden. Sie habe den Koffer ihres Mannes erhalten, in dem sich seine saubere Kleidung befand. Er sei nie mit sauberer Kleidung von einer Geschäftsreise zurückgekehrt. Seine Kleidung, erfuhr sie, wurde von Frauen der kleinen Städtchen nahe Lockerbie gewaschen und gefaltet und gebügelt. Eine dieser faltenden Frauen erzählte wiederum, ihre Arbeit sei bisweilen merkwürdig gewesen. Sie seien 20 bis 30 Leute gewesen. Das rührte ans Herz. Viele in die Tiefe gestürzte Teddybären. Da war das rote Kleid eines 2‑dreijährigen Kindes. Manchmal sei sie nach Hause gekommen und habe geweint. — stop
von papieren
marimba : 22.12 UTC — Immer wieder und immer noch die Frage, ob es vielleicht möglich ist, Papiere zu erfinden, die essbar sind, nahrhaft und gut verdaulich? Man könnte sich in einen Park setzen, beispielsweise und etwas Chatwin beobachten oder Lowry oder Calvino, Bücher, die Seite für Seite nach belgischen Waffeln schmeckten, nach Birnen, Gin, Petroleum oder sehr feinen Hölzern. Einen speziellen Duft schon in der Nase, wird die erste Seite eines Buches gelesen, und dann blättert man die Seite um und liest weiter bis zur letzten Zeile, und dann isst man die Seite auf, ohne zu zögern. Oder man könnte zunächst das erste Kapitel eines Buches durchkreuzen, und während man kurz noch die Geschichte dieser Abteilung rekapituliert, würde man Stürme, Personen, Orte und alle Anzeichen eines Verbrechens verspeisen, dann bereits das nächste Kapitel eröffnen, während man noch auf dem Ersten kaut. Man könnte also, eine Bibliothek auf dem Rücken, für ein paar Wochen eisige Wüsten durchstreifen oder ein paar sehr hohe Berge besteigen und abends unter dem Gaslicht in den Zelten liegen und lesen und kauen und würde von Nacht zu Nacht leichter und leichter werden. — stop
mariupol / 6.
victory : 22.01 UTC — In einem Zimmer eines Hauses in Mariupol im sechsten Stock lag eine Fotografie auf dem Boden. Kinder sitzen dort im Bild auf Stühlen. Ihr erster Schultag. Die Fotografie war verstaubt und außerdem verletzt von einem Granatsplitter, der das Bild durchschlagen hatte. Der Kopf eines Mädchens war in dieser Weise verschwunden. Das Mädchen hatte einen himmelblauen Rock getragen, eine korallenfarbene Bluse mit weißen Blüten einer Rose, schwarze glänzende Schuhe mit goldenen Spangen und eine Kette bunter Steine um den Hals. Über das Gesicht des Mädchens kann ich natürlich nichts erzählen. Auch nicht über ihr Haar. Ich müsste, um über das Gesicht des Mädchens erzählen zu können, die Kinder des Bildes finden und befragen. Vielleicht haben sie alle überlebt, das ist vielleicht möglich. Oder eines oder zwei der Kinder. — stop
Lokomotive
des Jahres 1968
auf meinem
Küchentisch
im Winter um
kurz nach
Mitternacht
on the road
himalaya : 7.12 UTC —Vor wenigen Jahren entdeckte ich Jack Kerouacs Roman On the Road in der ungekürzten Fassung als E‑Book. Ich beobachtete, dass eine Rechenmaschine irgendwo, vermutlich von Nordamerika aus, verzeichnete, welche Zeilen dieses Romans von Lesern oder Leserinnen während ihrer Lektüre markiert worden waren. Eine ausgedehnte, präzise Leserbeobachtung scheint kaum merklich Stunde um Stunde vollzogen zu werden. Ich stellte mir vor, Lichtmaschinen, die von Menschen in der Hand gehalten werden, dokumentieren, wie lange Zeit sich lesende Menschen mit einem bestimmten Text beschäftigen, wie sie den Text studieren, ob sie die Lektüre der ein oder anderen Seite wiederholen, an welchen Textorten ihre Augen innehalten oder ihre Hände über den Bildschirm streichend vorwärts blättern, wie viele Leser sich zunächst mit dem Ende einer Geschichte beschäftigen, ehe sie die erste Seite des Textes öffnen, um nun tatsächlich mit der Lektüre zu beginnen, so wie sich der Autor oder Autorin die Lektüre ihres Textes einmal vorgestellt haben könnten. Dass funkende Bücher Körpertemperaturen messen, Feuchtigkeit, Salze der Hände, welche sie berühren, ist nicht unwahrscheinlich. Man will wissen, weil man es wissen kann, an welcher Stelle des Textes Leser verloren gehen oder von welcher Stelle des Textes an Leser restlos eingefangen sind, ja, das ist denkbar. Guten Morgen. Es ist März, leichter Regen. — Die Welt der Wörter scheint sich der Lage unserer Welt anzugleichen: Vor einigen Tagen bemerkte ich das Wort Aerosolbombe. Sollte ich tatsächlich der Registratur meines Wörterspeichers gestatten, Wörter des Krieges zu erlernen, sodass meine Schreibmaschine in der Zukunft des Notierens weder Warn- noch Fehlerhinweise an mich senden würde. — stop
Iannis Xenakis
Die Schönheit
sichtbarer
Musik
stimmen
india : 20.12 UTC — Gestern hatte ich mich plötzlich an Vaters Stimme erinnert. Die Stimme sagte: Aber das ist doch Kokolores. Dann lachte die Stimme. Und ich dachte noch daran, wie ich vor Jahren einmal bemerkte, dass ich mich für einen Moment nicht mehr an die Stimme meines Vaters erinnern konnte. Wie ich auch suchte, ich fand sie nicht. Ich war natürlich sehr erschrocken gewesen. Anstatt der Stimme meines Vaters, hörte ich die Stimme des großen Erzählers Isaak B. Singer, eine helle und zugleich raue Stimme, die der Stimme meines Vaters sicher ähnelte. Ich hatte vor ein oder zwei Jahren Singers Stimme in einem Filminterview gehört. Fotografien zeigen den alten Mann spazierend am Atlantik. Auch mein Vater war mehrfach in Brighton Beach gewesen, wenn ich nicht irre. Plötzlich kehrte die Erinnerung an die Stimme meines Vaters zurück. Isaac B. Singers Geschichte im Übrigen geht so: Kurz nach meiner Ankunft (in Amerika) betrat ich zum ersten Mal eine Cafeteria, ohne zu wissen, was das ist. Ich hielt es für ein Restaurant. Ich sah lauter Leute mit Tabletts und fragte mich, warum man in so einem kleinen Restaurant so viele Kellner brauchte. Ich gab jedem, der mit einem Tablett vorbeikam, ein Zeichen. Ich hielt sie alle für Kellner und wollte etwas bestellen. Aber sie ignorierten mich, manche lächelten auch. Und ich dachte, was für ein unwirklicher Ort! Es war wie in einem Traum. Ein kleines Café mit so vielen Kellnern, und niemand beachtet mich! Irgendwann begriff ich dann, was eine Cafeteria ist. Sie wurde mein zweites Zuhause. Die Cafeterien wurden eine Art Zuhause für Flüchtlinge aus Polen, Russland und anderen Ländern. Viele meiner Geschichten spielen in Cafeterien, wo all diese Menschen aufeinandertrafen: die Normalen, die weniger Normalen und die Verrückten. Das ist also der Hintergrund meiner Geschichten, die in Cafeterien spielen. – stop
Spuren einer Zeit
da mein Vater
das Wort
Kokolores
sagte
von vögeln
sierra : 22.08 UTC — Kleine oder handliche fliegende Fotoapparate sind zunächst zu kleinen fliegenden Filmkameras geworden. Man kann sie mithilfe eines Mobiltelefons und zweier Daumen steuern. Diese fliegenden, filmenden, aufmerksamen Augen scheinen Objekte der Vogelwelt geworden zu sein. Man könnte nun weiteren durchbluteten Vögeln in der Luft begegnen. Man könnte ihnen folgen. Man könnte gleichwohl Menschen besuchen, die in höheren Etagen städtischer Wohnhäuser leben. Man könnte Menschen betrachten aus dem Dunkel heraus, ohne vielleicht selbst gesehen zur werden. Man kann, das ist beobachtet, nun seit bald zwei Jahren Sprengstoffe laden und aus größerer Höhe zur Erde hin stürzen. Beobachtende Vögel sind zu Raubvögeln geworden, sie rauben Bilder und töten. Die Vorstellung heute, spazierend im Palmengarten, die Vorstellung zierlicher Drohnen, die herumfliegen, um da und dort in den Städten und in den Wäldern, Proben zu nehmen von Kot, aus Abfallstoffen der Müllhalden, Gewässern, auch unmittelbar aus den Blutkreisläufen lebender Organismen, von Kühen und von Menschen, denkbare Welten. — stop